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[Anlage]

Aufzeichnung des Ministerialrats Beisiegel vom 1. September 1931 über Vorschlage des SPD-Reichstagsabgeordneten Aufhäuser zur Reform der Arbeitslosenversicherung.

R 43 I /2373 , S. 723–731 Durchschrift

Zu den Vorschlägen Aufhäusers.

I. Durch die Notverordnung vom 5.6.1931 sollte das Defizit der Arbeitslosenversicherung im Reste des Haushaltsjahres 1931 gedeckt werden, das auf[1649] 404 Mill. geschätzt wurde. Die Durchführung der Vorschläge Aufhäusers würde bedeuten, daß von diesen 404 Mill. rund 350 wieder beseitigt würden.

Es sollen nämlich folgende Einsparungen rückgängig gemacht werden:

1.

Bedürftigkeitsprüfung für Jugendliche

48 Mill. RM

2.

Verkürzung der Unterstützungsdauer für Saisonarbeitslose

88 Mill. RM

3.

Verkürzung der Berechnungsdauer in Alu und Bemessung der Unterstützung bei vorausgegangener Kurzarbeit nach dem Arbeitsentgelt für höchstens 40 Stunden

25 Mill. RM

4.

Kürzung der Hauptunterstützung um 5% des Einheitslohns

112 Mill. RM

5.

Herabstufung der Saisonarbeitslosen auf Kru während der Saison

26 Mill. RM

6.

Verlängerung der Wartezeit

49 Mill. RM

7.

Verlängerung der Übergangszeit für die Neuregelung der Versicherung von Heimarbeitern

5 Mill. RM.

zus.:

353 Mill. RM.

Von den Sparmaßnahmen würden demnach nur bestehen

bleiben:

1.

Herabstufung der Saisonarbeitslosen auf Kru innerhalb der toten Jahreszeit

13 Mill. RM

2.

Bedürftigkeitsprüfung für verheiratete Frauen

4 Mill. RM

3.

Verschärfte Rentenanrechnung

25 Mill. RM

4.

Einsparungen bei der Krankenversicherung

9 Mill. RM

zus.:

51 Mill. RM.

Summe:

404 Mill. RM

Zu einer Zeit, wo bereits angenommen werden muß, daß das bei Erlaß der Notverordnung geschätzte Defizit von 404 Mill. RM erheblich überschritten wird und lediglich noch Zweifel darüber bestehen können, wie hoch die Überschreitung sein wird, erscheint es unmöglich, die Ersparnisse, die von der Notverordnung erwartet werden, wieder rückgängig zu machen.

II. Nach den Vorschlägen Aufhäusers sollen weiterhin einige Vorschriften wieder beseitigt werden, von deren Durchführung greifbare Ersparnisse nicht erwartet wurden, deren Wirkung vielmehr hauptsächlich auf arbeitsmoralischem Gebiet liegen. Es sind dies die Vorschläge:

1.

Die Bestimmung, daß Sperrfristen auch bei nachgewiesener Arbeitsscheu verhängt werden sollen, wieder zu streichen,

2.

die Vorschrift, daß die Krisenunterstützung unter gewissen Voraussetzungen wieder zurückerstattet werden soll,

3.

die Vorschrift, daß ein Teil der Unterstützung unmittelbar an den Hauswirt des Arbeitslosen zur Abdeckung der Miete gezahlt werden soll22.

22

S. oben Anm. 9, 13 und 12.

Hierzu ist zu bemerken:

[1650] Zu 1. Es gibt in der Praxis zweifellos zahlreiche Fälle, wo das Arbeitsamt von der Arbeitsscheu eines Arbeitslosen vollständig überzeugt ist. Nach den bisherigen Vorschriften konnte aber nur die Unterstützung versagt werden, wenn die Arbeitsscheu dadurch nachgewiesen wurde, daß der Arbeitslose Arbeitsgelegenheiten ablehnte. Die Möglichkeit Arbeit anzubieten, ist aber heute sehr gering. Das Arbeitsamt muß daher in die Lage gesetzt sein, auch aus sonstigen Tatsachen den Schluß zu ziehen, daß Arbeitsunwilligkeit vorliegt. Diese Bestimmung entspricht einem ausdrücklichen Vorschlag der Sachverständigenkommission23.

23

S. das Gutachten zur Arbeitslosenfrage, 3. Teil II B 1 c. Arbeitswilligkeit (R 43 I /2040 , Bl. 337 f.).

Zu 2. Die Regierung ist sich darüber klar, daß die Fälle tatsächlicher Rückerstattung und die zurückerstatteten Beträge sich in bescheidenen Grenzen halten werden. Den Vorteil der Bestimmung sieht sie in der abschreckenden Wirkung auf einen Arbeitslosen, der noch ohne öffentliche Hilfe auskommen kann. Es kann nicht verschwiegen werden, daß in der heutigen Notzeit diese Fälle äußerst selten sein werden. Es könnte nach Ansicht der Abteilung daher notfalls auf diese Bestimmung verzichtet werden. Dasselbe gilt

zu 3. Die Wohnungsabteilung legt zwar auf die Beibehaltung der Möglichkeit, daß das Arbeitsamt unmittelbar einen Teil der Miete zahlen soll, Wert. Der Vorteil erscheint aber nicht so groß, als daß bei einer Gesamtregelung nicht darauf verzichtet werden könnte.

III. Weiter wird vorgeschlagen, die Bestimmungen aufzuheben über den freiwilligen Arbeitsdienst24, die Autonomie der Reichsanstalt25 und die Ermächtigung der Reichsregierung, die Verwaltung der Reichsanstalt und die Durchführung des Gesetzes im Wege der Verordnung zu vereinfachen und zu verbilligen26. Den freiwilligen Arbeitsdienst wieder abzubauen, nachdem er kaum begonnen hat, erscheint untunlich. Es müssen erst Erfahrungen gesammelt werden. Die beiden anderen Vorschriften sind durchaus zu begrüßen. Ihre Wiederaufhebung wäre ein Rückschritt.

24

S. oben Anm. 10.

25

Vgl. NotVO vom 5.6.31, 3. Teil, Kapitel I, Artikel 2 (RGBl. 1931 I, S. 296 ).

26

S. NotVO vom 5.6.31, 3. Teil, Kapitel I, Artikel 4 (RGBl. 1931 I, S. 297 ).

IV. Aufhäuser macht sodann einige Vorschläge, die der Versicherung neue Einnahmequellen zuführen sollen.

1. Beitragsbefreiung in der Landwirtschaft.

Eine Einbeziehung der bisher von der Arbeitslosenversicherung befreiten landwirtschaftlichen Arbeitnehmer (ländliches Gesinde, Arbeitnehmer mit langfristigen Verträgen oder mit eigenem oder Pachtland, zusammen 1,6 Mill. Personen) würde zwar für das 2. Halbjahr des laufenden Rechnungsjahres eine erhebliche Ersparnis bedeuten (schätzungsweise etwa 50 bis 60 Mill. RM), da diese landwirtschaftlichen Arbeitnehmer mindestens 6 Monate Beiträge zahlen müßten, ohne die Versicherung in Anspruch nehmen zu können, also im laufenden Rechnungsjahr überhaupt keine Unterstützungsleistungen bekämen. In der Folgezeit würden allerdings die neu einbezogenen landwirtschaftlichen[1651] Arbeitnehmer vermutlich keine besseren Risiken als die übrigen Saisonarbeiter, da die langfristigen Arbeitsverhältnisse alsbald in kurzfristige umgewandelt würden. Die Zahl der Saisonarbeitsverträge würde sich erhöhen und, auf lange Sicht gesehen, würde zweifellos eine Mehrbelastung der Versicherung eintreten.

2. Heranziehung der tatsächlichen Arbeitsverdienste zur Beitragsleistung.

Diese schließt einerseits in sich, daß bei den gegen Krankheit Pflichtversicherten nicht der Grundlohn der Krankenversicherung, sondern der tatsächliche Arbeitsverdienst der Beitragsbemessung für die Arbeitslosenversicherung zugrunde gelegt wird, und daß andererseits die gegen Arbeitslosigkeit Versicherten, deren Jahresarbeitsverdienst über 3600,– bis 8400,– RM beträgt, auch mit den 3600,– RM übersteigenden Betrag zur Beitragsleistung herangezogen werden.

Die Beitragsbemessung nach dem wirklichen Arbeitsverdienst anstelle des Grundlohns dürfte in Zeiten sinkender Löhne zunächst eher eine Minderung als eine Mehrung des Beitragsaufkommens zur Folge haben. Die Berechnung der Beiträge nach dem tatsächlichen Verdienst würde auch eine vermehrte Verwaltungsarbeit mit sich bringen.

Die Heranziehung der Jahresarbeitsverdienste über 3600,– bis 8400,– RM würde in der Zeit Oktober/März schätzungsweise etwa 50 bis 60 Mill. RM einbringen. Jedoch werden diese Einkommen bereits durch die Krisensteuer belastet. Wieviel von diesen Beitragsaufkommen wieder für erhöhte Unterstützungsleistungen verausgabt werden muß, ist schwer zu schätzen. In normalen Zeiten bilden die höher bezahlten Arbeiter und Angestellten sicherlich gute Risiken. In der heutigen Krisenzeit würde jedoch jede Erweiterung der Arbeitslosenversicherung eine neue Mehrbelastung bedeuten. Es wäre wohl nicht möglich, ohne weitere Lohnklassen auszukommen. Dagegen bestehen aber Bedenken in dem Augenblick, wo ernstlich erwogen werden muß, ob nicht die bisherigen Sätze der höheren Lohnklassen fortfallen müssen.

V. Allgemein ist zu sagen, daß es sich für das Ministerium darum handelt, die Versicherung, wenn auch in eingeschränkter Form, über die Krise hinüber zu retten. Es muß daher bestrebt sein, den Gegnern jeder Versicherung, die heute zahlreich auf den Plan treten, keine neuen Angriffsmöglichkeiten zu geben. Auch unter diesem Gesichtspunkt müssen die Vorschläge Aufhäusers betrachtet werden.

B[ei]s[iegel] 1.9.

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