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Die Kabinette Marx I und II, Band 1 Wilhelm Marx Bild 146-1973-011-02Reichskanzler Marx vor seinem Wahllokal Bild 102-00392Hochverratsprozeß gegen die Teilnehmer am PutschDawes und Young Bild 102-00258

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Die soziale Spannung zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer erfährt am Rhein und Ruhr andauernde Verschärfung. Zweifellos wird weiterhin das Jahr 1924 wie in ganz Deutschland auch besonders im Westen zu schärfstem sozialem Druck führen. Die Lasten aus den Micumverträgen machen es verständlich, daß die Unternehmer in den besetzten Gebieten versuchen, durch Druck auf den Faktor Arbeit ihre Gestehungskosten in der Produktion herabzusetzen und diese Lasten auf die Arbeitnehmerschaft durch Lohndruck und Verlängerung der Arbeitszeit abzuwälzen.

Unter diesem Gesichtspunkte ist die Unternehmertaktik verständlich. Verschärfend kommt aber hinzu, daß bekannterweise gerade die Unternehmer aus dem Westen in der Vereinigung deutscher Arbeitgeberverbände zum extremen Flügel gehören. So treten sie auch oft unter Mißbilligung ihrer eigenen Spitzenorganisationen in brutalster Weise auf. Schon im Herbst vergangenen Jahres erfolgten die bekannten ersten Vorstöße im Ruhrbergbau und in der westdeutschen Stahlverbandsgruppe2.

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Nach dem Abbruch des passiven Widerstandes hatten die Ruhrindustriellen vergeblich versucht, durch einseitige Anordnung der Betriebsleitungen die Wiedereinführung der Vorkriegsarbeitszeit durchzusetzen. Vgl. Ursachen und Folgen, Bd. V, Dok. Nr. 1081, 1089.

Die Erregung in der gesamten Arbeitnehmerschaft aller politischen und gewerkschaftlichen Richtungen ist äußerst groß! Man hat den Eindruck, daß der Umfang und die Gründlichkeit dieser Erregung an den Regierungsstellen nicht mit ihren außenpolitischen Gefahren erkannt wird. Die zahlreichen nicht an den gegenwärtig aufflackernden Streiks und Aussperrungen in der Metallindustrie beteiligten Arbeitnehmer sind nicht etwa anderer Meinung als ihre streikenden Kameraden, sondern sie sehen klugerweise ihre gegenwärtige völlige Ohnmacht und wollen nicht durch sinnlosen Widerstand sich gänzlich ruinieren. Sie verbeißen ihre Erregung und fügen sich vorläufig unter Zwang. Bei erster Möglichkeit wird diese Erregung leicht explodieren können. Die Gewerkschaften stehen auf seiten und führend bei der zweiten passiven Gruppe.

Objekt der Spannung ist weniger die Höhe des Lohnes als sozialpolitische Momente: Arbeitszeit in erster Linie, dann der Fragenkomplex der bisherigen Demobilmachungsverordnungen über Schutz der Arbeitnehmer gegen Entlassungen, Betriebseinschränkungen usw. Der Brennpunkt des Kampfes ist die Regelung der Arbeitszeit, die durch das mächtige Unternehmertum zu den schwersten Belastungen geführt hat über die Linie der neuen Arbeitszeitverordnung3 hinaus! 10- bis 11stündiger Arbeitstag ist die Norm. Die Gewerkschaften[316] sind und waren zur Regelung zwischen 9 und 10 Stunden freiwillig bereit. Verlängerte Arbeitszeit hat logischerweise zur Verschärfung der Lage auf dem Arbeitsmarkt geführt.

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Die sog. Demobilmachungsverordnungen über die Arbeitszeit aus den Jahren 1918 und 1919 waren Mitte November 1923 abgelaufen. Sie wurden durch die Arbeitszeit-VO vom 21.12.23 (RGBl. I, S. 1249 ) modifiziert, die die Einführung verlängerter Arbeitszeiten bis zu zehn Stunden am Tag zuläßt.

Die Haltung der Unternehmer scheint mir unter gröblichster Verkennung ihrer gegenwärtigen staatspolitischen Verantwortung bei aller Würdigung ihrer eigenen Notlage übertrieben extrem zu sein, gerade in der Behandlung der Arbeitszeitfrage, wo der Übergang zur längeren Arbeitszeit politisch tragbar in allmählicher Steigerung auf mehrere Monate verteilt hätte erfolgen müssen. Zudem in weniger brutaler und mehr diplomatischer Auseinandersetzung! Leider fehlen durch Zerschlagung der deutschen Verwaltung die Persönlichkeiten aus den Kreisen der höheren Beamtenschaft als Schlichter und Vermittler. Es fehlt ferner der staatliche Druck auf die führenden Unternehmer zur Erweckung ihrer gegenwärtig bitter notwendigen psychologischen Erkenntnisse für die staatspolitischen nationalen Imponderabilien.

Die Franzosen und ihre separatistische Vorhut haben psychologisch richtig die deutschen Schwierigkeiten erkannt und haben ihre Taktik auf die Verletzung der deutschen verwundbaren Stellen eingerichtet. Die erregte Stimmung der Arbeitnehmerschaft und die enttäuschte Stimmung der Gewerkschaftsfunktionäre wird planmäßig seit Wochen durch französische Emissäre ausgenutzt. Die geschickten Angriffe der Franzosen, die methodisch, individuell und differenziert erfolgen, gruppieren sich in folgende Momente:

„Die Reichsregierung ist der Kommis der Bergherren an Rhein und Ruhr. Die staatliche Autorität im Westen ist zerbrochen. Von Berlin ist für die Arbeitnehmer nichts mehr zu erwarten. Die deutsche Sozialpolitik wird abgebaut. Hemmungslose Freiheit in der Sozialpolitik für Unternehmerwillkür. Siehe Aufhebung aller Demobilmachungsverordnungen und chronisch bleibende Lückenhaftigkeit des deutschen Arbeitsrechts. Für Gewerkschaften und Arbeitnehmer gibt es nur noch eine Rettung: Ihr müßt die Blicke von Berlin auf Koblenz richten, dort ist die Macht, die helfen kann. Warum geht ihr Gewerkschaften nicht zur Rheinlandkommission und bittet um die Herausgabe von neuen Demobilmachungsverordnungen anstelle der abgebauten deutschen Bestimmungen? Warum bittet Ihr die Rheinlandkommission nicht um Regelung der Arbeitszeit für die besetzten Gebiete? Die Gewerkschaften müssen den Mut haben, selbstverwaltend ihre Geschicke durch Aufnahme der Verbindung mit der Rheinlandkommission und General Degoutte selbst zu bestimmen; die Unternehmer verhandeln ja gleichfalls über ihre wirtschaftspolitischen Nöte, warum die Arbeiter nicht entsprechend über ihre sozialpolitischen Belange. Wenn die von Berlin abhängigen Gewerkschaften versagen, so bildet doch über die Köpfe Eurer Führer hinweg rheinische Gewerkschaften. Die französische Sozialpolitik, die allerdings früher hinter der deutschen zurückstand, besteht aber heute lückenlos. Fordert die Übertragung der französischen Sozialpolitik auf die rheinischen Verhältnisse, dann seid Ihr Arbeiter geschützt!

Die Art der Propaganda bewegt sich schriftlich und mündlich auf bekannten Wegen, so daß dieselbe hier nicht geschildert zu werden braucht. Meine Kenntnis der Dinge stützt sich auf die verschiedensten Berichte unserer gewerkschaftlichen Funktionäre, wie aus mündlicher Berichterstattung im besetzten[317] Gebiet persönlich. Von irgendwoher hat man neuerdings die Köpfe der Arbeiter warm gemacht mit der ausgesprochenen Möglichkeit, die Gewerkschaften sollten sich an das Internationale Arbeitsamt in Genf wenden zur Untersuchung der sozialpolitischen Zustände im Rhein- und Ruhrgebiet.

Es bedarf keiner ausdrücklichen Versicherung, um zu betonen, daß die Gewerkschaften aller Richtungen ihre unbedingte Verantwortung gegenüber dem Staat restlos kennen und anerkennen. Die Frage bleibt aber ernsthaft bestehen, ob sie auf die Dauer stark genug sein werden, ihre Mitglieder gegen die raffinierten Lockungen immun zu halten. Der Ausgang hängt von der politischen Einsicht der Unternehmer ab. Es ist ein gefährliches Spiel, ausgerechnet im national schwer bedrohten Westen sozialpolitisch den Bogen mehr zu überspannen als im unbesetzten Deutschland! Kein Zweifel: entstände im industriellen Westen eine neue Art von Separatismus in den Köpfen der breiten Volksschichten, so wäre die Gefahr gegenüber dem bisherigen separatistischen Verbrechergesindel und Banditentum äußerst ernst zu nehmen. Es bedarf der politischen Führung durch den Staat als solchen in der Sozialpolitik im besetzten Gebiet.

Nachträglich ist noch festzustellen, daß die brutale und politisch äußerst ungeschickte Art des Abbaus des Personals der Reichseisenbahn im besetzten Gebiet das Heer der Erbitterten und Empörten besonders noch vergrößert. Während des passiven Widerstandes sind die national Minderwertigen zur französischen Eisenbahnregie gegangen, nach Abbruch hat man noch eine Reihe weniger scharf hervorgetretener Eisenbahner eingestellt. Die mannhaftesten und national besten Elemente, soweit sie nicht ausgewiesen und inhaftiert waren, wurden von der Regie abgewiesen und werden nunmehr von der deutschen Eisenbahnverwaltung brotlos auf die Straße geworfen. Ja noch mehr, aus dem Direktionsbezirk Mainz und anderen wird gemeldet, daß man ausgerechnet zwei Tage vor dem Weihnachtsfest sogar in den französischen Gefängnissen sitzenden Eisenbahnern ihre deutsche Entlassung mitgeteilt hat!

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