2.121.1 (mu21p): [Koalitionsbildung.]

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Kabinett Müller II. Band 1 Hermann Müller Bild 102-11412„Blutmai“ 1929 Bild 102-07709Montage  von Gegnern des Young-Planes Bild 102-07184Zweite Reparationskonferenz in Den Haag Bild 102-08968

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RTF

[Koalitionsbildung.]

Einleitend berichtet der Herr Reichskanzler über den bisherigen Gang der Verhandlungen1. Die Verhandlungen auf dem Wege über die Fraktionsführer[409] hätten bisher zu keinem Ergebnis geführt, und er sähe auf diesem Wege auch keine Möglichkeiten mehr. Er bedauere diese Entwicklung außerordentlich, da es aus inner- und außenpolitischen Gründen dringend geboten sei, alsbald zu einer stabilen Regierung zu kommen. Er habe auch mit dem Herrn Reichspräsidenten vor wenigen Tagen bereits die Lage durchgesprochen2. Was nach einer Zurückziehung des Herrn Ministers von Guérard aus dem Kabinett eintreten solle, sei noch absolut unklar: entweder Weiterregieren bis zu einem etwaigen Sturz durch den Reichstag oder Demission. Ob die Sozialdemokratie zu einer Minderheitsregierung bereit sei, sei im übrigen noch nicht sicher, wenngleich er persönlich es hoffe. Auf jeden Fall habe ihm die gegenwärtige Aussprache zweckmäßig erschienen, da auf dem Wege über die Minister zugleich in ihrer Eigenschaft als erste Repräsentanten ihrer Parteien noch am ehesten eine Lösung möglich scheine. Sachlich könne er nur einen bereits bisher von ihm gemachten Vorschlag wiederholen, daß das Zentrum von den ihm zuzubilligenden drei Ministersitzen zunächst nur einen weiteren erhalten solle und den dritten erst, wenn die Koalitionsverhandlungen in Preußen zu einem guten Ergebnis geführt hätten. Solange könne dann noch die Einsetzung des Interfraktionellen Ausschusses unterbleiben, zumal er angesichts der bevorstehenden Reichstagspause von acht Tagen und der noch nicht möglichen Beratung des Etats und der Steuern durch den Reichstag einstweilen noch nicht allzu viel praktische Arbeit haben werde.

1

Der RK hatte am Vortage einen wohl von Pünder vorbereiteten Vorschlag besprochen, die bisherige Koalition in Preußen innerhalb von drei Wochen in eine Große Koalition umzuändern und in die RReg. sofort einen zweiten Minister des Zentrums zu berufen. Bei DVP und Zentrum fand diese Absicht keine Zustimmung (Vorschlag mit handschriftl. Notiz Pünders; BA: Nachlaß Pünder  36). Stattdessen hatte das Zentrum einen Lösungsversuch vorgebracht, dem der RK zugeneigt haben soll: „1. Die Zentrumsfraktion erhält sofort die ihr zustehende Vertretung im Kabinett durch insgesamt drei Minister. 2. Die Fraktion der Deutschen Volkspartei erachtet sich in dem erweiterten Reichskabinett erst koalitionsmäßig dann gebunden, wenn die Große Koalition in Preußen vollzogen ist. 3. Bis zur Erledigung der Koalitionsfrage in Preußen wird im Reiche die Bildung des interfraktionellen Ausschusses ausgesetzt. 4. Herr Dr. Kaas wird als Vorsitzender der Deutschen Zentrumspartei die Erklärung abgeben, daß er mit allen Kräften sich um eine beschleunigte Erledigung der Koalitionsfrage in Preußen bemühen wird.“ In einer anschließenden Fraktionssitzung war von der DVP diese Lösung abgelehnt worden. Daraufhin hatte v. Guérard den RK aufgesucht, um ihm seinen Rücktritt anzukündigen. Vom RK war ihm erwidert worden, daß am 6. 2. ein letzter Versuch zur Beseitigung der Schwierigkeiten unternommen werden solle (Germania, 6.2.29; vgl. Schultheß 1929, S. 28).

2

Der RK hatte den RPräs. in dieser Angelegenheit am 31. 1. aufgesucht (Schultheß 1929, S. 15).

Reichsminister Dr. Stresemann berichtet, daß die gestrigen Vorschläge des Zentrums der Volkspartei nicht als ein praktischer Lösungsvorschlag erschienen seien. Nach Ansicht der Volkspartei bestehe im preußischen Landtag der größte Widerstand gegen die Schaffung der Großen Koalition gerade bei der Landtagsfraktion des Zentrums. Deshalb könne man es der Volkspartei nicht verübeln, wenn sie sich mit einfachen Zusicherungen nicht zufrieden geben könne. Auch die Hinausziehung der Einsetzung des Interfraktionellen Ausschusses bedeute für die Volkspartei nichts, da die Volkspartei nicht zuletzt durch die Mitarbeit ihrer Minister moralisch ja doch gebunden sei. Bei der Volkspartei im preußischen Landtag habe es auch große Mißstimmung ausgelöst, daß der Ministerpräsident Braun der Volkspartei nur einen Ministersitz zuweisen wolle. Das sei angesichts ihrer Stärke und dem Maß der Verantwortungsübernahme ein zu geringer Einfluß.

Reichsminister von Guérard führt aus, daß bereits im Juni vorigen Jahres die Berufung weiterer Zentrumsminister neben ihm endgültig vorgesehen gewesen sei. Die Erledigung sei dann immer wieder vertagt worden, und jetzt sei eben der letzte Augenblick. Eine gewisse Verbindung dieser Fragen mit der Frage der preußischen Großen Koalition sei vielleicht zuzugeben. Dem werde aber durch den gestrigen Vorschlag des Zentrums und die Erklärung des Parteichefs Kaas vollkommen Rechnung getragen. Er erinnert an einen ähnlichen Fall im Jahre 1922, wo auch die Deutschnationalen ähnliche Forderungen hinsichtlich der Preußenkoalition geäußert hätten, die dann aber (erfreulicherweise)[410] nicht in Erfüllung gegangen seien. Das Mißtrauen der Deutschen Volkspartei im Landtag gegen das Zentrum sei ganz unbegründet. Das Zentrum habe nichts gegen eine angemessene Beteiligung der Volkspartei am Preußenkabinett.

Reichsminister Koch-Weser: Die Demokraten erhöben sowohl im Reich wie in Preußen keinen anderen Anspruch als auf je einen Ministersitz. Infolgedessen seien die Demokraten wohl am ehesten berufen, die Angelegenheit ruhig und objektiv zu beurteilen. Er müsse daher sagen, daß er kein Verständnis dafür habe, daß über diese Frage keine Einigung möglich sein sollte. Der Anspruch der Volkspartei auf zwei Ministersitze in Preußen erscheine ihm durchaus angemessen. Er rege eine gemeinsame Besprechung mit dem Herrn Reichskanzler, dem Herrn Ministerpräsidenten und den Fraktionsführern der beiden Parlamente an.

Der Reichskanzler hält eine solche Besprechung für praktisch nicht möglich, da die Preußen dauernd jedes Junctim mit dem Reich ablehnten. Im übrigen wiederholte der Reichskanzler nochmals seinen Vorschlag, die beiden Zentrumsminister in den beiden erwähnten Abständen zu ernennen, den Interfraktionellen Ausschuß auch noch nicht einzusetzen, im übrigen Sicherung der volksparteilichen Wünsche durch offizielle Erklärung namentlich des Zentrums, und zwar möglichst auch dahin, daß der Volkspartei zwei Ministerien zugewiesen werden sollen.

Reichsminister von Guérard betonte nochmals, daß es ihm nicht möglich erscheine, zunächst nur einen Zentrumsminister zu ernennen, vielmehr möchte er annehmen, daß seine Fraktion mit Recht auf der sofortigen Ernennung der beiden Minister bestehen werde.

Auf Vorschlag des Unterzeichneten wurde es für gut befunden, daß der Unterzeichnete den Herrn Ministerpräsidenten Dr. Braun, der sich eben beim Herrn Reichspräsidenten befand, aufsuchen solle, um ihn möglichst zu einer Teilnahme an dieser Aussprache zu bestimmen. Es gelang dem Unterzeichneten auch, Herrn Ministerpräsidenten Braun zur Reichskanzlei zu bringen, jedoch war er nur bereit, damit eben kein Junctim der beiden Fragen im Reich und Preußen geschaffen werde, ausschließlich mit dem Herrn Reichskanzler zu sprechen.

Das Ergebnis dieser Aussprache teilte der Herr Reichskanzler sodann den anwesenden Reichsministerien mit: die Aussprache unter vier Augen hatte nichts wesentlich Neues ergeben, sondern nur erneut bestätigt, daß der Herr Ministerpräsident ebenso wie die bisherigen preußischen Koalitionsparteien zur Schaffung der Großen Koalition durchaus bereit seien, daß aber eine Gewißheit, dafür der Volkspartei zwei Sitze einzuräumen, keineswegs gegeben sei, zumal nicht zuletzt auch die Landtagsfraktion des Zentrums sich noch gestern hiergegen ausgesprochen habe.

Nach weiterer Aussprache wurden dann die anliegenden Richtsätze formuliert, von denen jeder der Herren Kabinettsmitglieder einen Abdruck erhielt, um ihn seiner Fraktion zu unterbreiten3.

3

Die Richtsätze lauteten: „In der Überzeugung, daß die Verhältnisse in Reich und Ländern eine straffe Zusammenfassung aller politischen Kräfte heute mehr denn je erforderlich machen, ist in einer Besprechung, zu der der Herr RK für heute vormittag in die Rkei eingeladen hatte und an der außer ihm die Herren RM v. Guérard, Koch-Weser, Dr. Schätzel und Dr. Stresemann teilgenommen haben, Übereinstimmung über folgendes erzielt worden: 1. Der Anspruch des Zentrums auf eine Beteiligung am Reichskabinett mit drei Reichsministern wird anerkannt. 2. In Ausführung von Ziff. 1 soll der Herr RK dem Herrn RPräs. die Ernennung eines RM der Justiz aus den Reihen des Zentrums vorschlagen. 3. Der Anspruch der Deutschen Volkspartei auf eine Beteiligung am Preußischen Kabinett durch zwei Staatsminister wird als berechtigt anerkannt. Die Anwesenden begrüßen dankbar die Bereitschaftserklärung des Herrn Abgeordneten Dr. Kaas als Vorsitzenden der Deutschen Zentrumspartei, daß er sich mit allen Kräften um eine beschleunigte Erledigung der Koalitionsfrage in Preußen bemühen wird. 4. Der Herr RK wird gebeten, die Ernennung des dritten RM aus den Reihen des Zentrums dem Herrn RPräs. vorzuschlagen, sobald die Verhandlungen in Preußen zu einem befriedigenden Ergebnis geführt haben. 5. Diese Erklärung soll den beteiligten Fraktionen vorgelegt werden“ (BA: Nachlaß Pünder  36).

[411] Während einzelne der Anwesenden, so insbesondere Herr Reichsminister Koch-Weser, sofort seine und seiner politischen Freunde Zustimmung zu dieser Formulierung erteilte, erklärte Reichsminister von Guérard, der hierbei vom Reichspostminister Dr. Schätzel unterstützt wurde, daß er die Formulierung nur ad referendum mit in die Fraktion nehmen könne. Aus seiner Beteiligung an der Formulierung könne kein Schluß auf seine etwaige Zustimmung gezogen werden. Infolgedessen widersprach er auch nachdrücklich einer vorzeitigen Veröffentlichung dieser Richtsätze durch das W.T.B.4.

4

Das Zentrum lehnte diese Richtlinien ab. Es forderte stattdessen die umgehende Bestellung von drei Zentrumsministern. Bei der Erfüllung dieser Forderung werde Kaas die Zentrumsfraktion im PrLT bitten, der DVP zwei Minister zuzugestehen. Die DVP lehnte diese Forderung ab. Daraufhin demissionierte v. Guérard (Schultheß 1929, S. 28; s. a. Germania vom 7.2.29).

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