1.34 (str2p): Nr. 148 Fritz Thyssen an General Degoutte. Mülheim-Ruhr, 18. Oktober 1923

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Nr. 148
Fritz Thyssen an General Degoutte. Mülheim-Ruhr, 18. Oktober 1923

R 43 I /453 , Bl. 91–92 Abschrift1

[Betrifft: Verweigerung von Verhandlungen mit der Micum.]

Herr General!

Nachdem ein Beauftragter der französischen Ingenieurkommission an die Direktion der Aktiengesellschaft für Hüttenbetrieb mit der Anregung herangetreten ist, Verhandlungen mit der französischen Behörde, ähnlich wie dies andere Industrielle getan haben, über die Wiederaufnahme des Betriebes zu führen, beehre ich mich, Ihnen anstelle meines Vaters, der mir infolge seines hohen Alters die volle Vertretungsbefugnis und die volle Verantwortung übertragen hat2, folgendes mitzuteilen:

Ich bin als Privatmann nicht berechtigt, mit dem Vertreter einer fremden Macht über eines der wichtigsten Rechte eines souveränen Staates, nämlich über das Recht der Besteuerung zu verhandeln und sogar den Betrag der Steuer an einen fremden Staat abzuführen3. Selbst wenn ich zugebe, daß von der[628] augenblicklichen deutschen Regierung zu der Frage der Rechtsmäßigkeit der Ruhrbesetzung, die sogar von alliierter Seite bestritten wird, aus mir unbekannten Gründen nicht mit der nötigen Klarheit Stellung genommen wird, so würde ich meine Pflichten als deutscher Staatsbürger aufs Gröblichste verletzen, wenn ich den klaren Pflichten einer deutschen Regierung aus anderen als nationalen Gründen die geringste Schwierigkeit bereiten wollte.

Wenn ich ferner unterstelle, daß es eine deutsche Regierung gäbe, die inoffizielle Verhandlungen ihrer Untertanen über Hoheitsrechte des Staates billigen würde, so müßte ich mein Pflichtgefühl als Deutscher vor das Pflichtgefühl meiner Regierung stellen und jede Verantwortung für solche Verhandlungen mit einer fremden Macht ablehnen, für die nur die deutsche Regierung selbst verantwortlich sein kann und wofür sie der Nation Rechenschaft zu geben schuldig ist.

Nachdem ich Ihnen, Herr General, meine Stellungnahme als deutscher Staatsbürger zu der Anregung der französischen Ingenieurkommission bekanntgegeben habe, möchte ich Ihnen meine Auffassung als verantwortlicher Leiter der im besetzten Gebiet gelegenen Thyssenschen Werke zu den Bedingungen der französischen Behörde für die Wiederaufnahme des Betriebes nicht vorenthalten:

Diese Bedingungen lauten4:

1.

Zahlung der Kohlensteuer seit Beginn der Besetzung des Ruhrgebietes nach den Feststellungen der französischen Behörde

2.

Verpflichtung, für die Folge 40% des Wertes der geförderten Kohle als Steuer zu entrichten

3.

Kostenlose Lieferung von 17% der Förderung zu Reparationszwecken,

4.

Beschränkung der Ausfuhrmöglichkeit für metallurgische Produkte, falls die französische Mission auf Grund der allgemeinen Lage dies für erforderlich hält.

ad 1) Ganz abgesehen davon, daß die Kohlensteuer seit dem Beginn der Besetzung bis heute von der französischen Behörde ganz willkürlich festgesetzt wurde, ist es klar, daß es unmöglich ist, eine Steuer für ein Produkt zu entrichten, das zum großen Teil weggenommen wurde und soweit es zur Herstellung von metallurgischen Produkten verwandt wurde, nicht in Geld umgesetzt werden kann, weil die daraus hergestellten Produkte zum großen Teil beschlagnahmt und zum Teil abtransportiert sind. Die Entrichtung einer Kohlensteuer für die Vergangenheit würde wirtschaftlich gedacht nur möglich sein, für die Kohle, die als Substanz noch vorhanden ist oder zur Herstellung von noch vorhandenen metallurgischen Erzeugnissen gedient hat, nachdem diese Produkte verkauft und der Geldwert eingegangen ist.

ad 2) Eine Zahlung von 40% Kohlensteuer für die Zukunft kann nicht in Frage kommen, nachdem man im deutschen Wirtschaftsleben in Folge der Markentwertung zur Goldpreisberechnung übergegangen ist.

Die Zahlung der Kohlensteuer in der genannten Höhe war nur solange[629] möglich, als die Kaufkraft der Papiermark im Inlande 40% über der Goldparität lag. Dieser Zustand ist aber, wie jeder sich bei seinen privaten Einkäufen überzeugen kann, längst überholt. Dazu kommt, daß die durchschnittliche Leistung eines Bergarbeiters in Deutschland in Folge der nach der Revolution eingeführten Gesetze höchstens 60% der Leistung eines englischen Bergarbeiters beträgt, während die Leistung vor der Einführung dieser Gesetze sich ungefähr wie 9 : 10 verhielt. Es ist daher nicht einzusehen, wie die deutsche Kohle, die in ihren Produktionskosten teuerer ist wie die englische, eine Steuer abwerfen kann, es sei denn, daß man die Absatzmöglichkeit der deutschen Kohle und der daraus hergestellten Produkte vollends unterbinden will.

ad 3) Die kostenlose Lieferung von 17% der Förderung ist erst recht unmöglich. Zusammen mit der geforderten Kohlensteuer von 40% der restlichen 83% der Förderung würde dies die kostenlose Abtretung von rund 50% der Förderung bedeuten, falls man versuchen wollte, die deutsche Kohle zu Weltmarktpreisen zu verkaufen.

ad 4) Es ist unmöglich, die wirtschaftliche Verantwortung für die Leitung eines Eisenwerkes zu übernehmen, wenn man über die Erzeugnisse nicht frei disponieren kann. Das gilt besonders für den Export eines deutschen Werkes, der mindestens so groß sein muß, um alle Verpflichtungen des Werkes in ausländischer Valuta für Einkauf von Rohstoffen wie Eisenerze etc. zu decken.

Nachdem ich Ihnen, Herr General, meine rein wirtschaftlichen Bedenken zu den Bedingungen der Ingenieur-Kommission mitgeteilt habe, würde ich meine Pflicht versäumen, wenn ich Sie nicht auf den furchtbaren Ernst der augenblicklichen Situation aufmerksam machen würde. Die Industrie des Ruhrgebietes ist durch eine neunmonatliche Lahmlegung der Wirtschaft derartig erschöpft, daß, wenn nicht in kürzester Zeit sich die Möglichkeit für die Wiederaufnahme eines wirtschaftlichen Betriebes ergibt, die Schließung der Werke die unausbleibliche Folge ist.

Ich möchte Sie, Herr General, ohne auf Einzelheiten einzugehen, auf den Ernst der Situation hingewiesen haben und feststellen, daß, nachdem der passive Widerstand aufgehört hat, die Verantwortung für die voraussichtlich in kürzester Zeit eintretende Schließung der Werke und die sich hieraus ergebenden Folgen ausschließlich die französische Behörde trifft, die die Möglichkeit wirtschaftlich zu arbeiten verhindert. Kein seiner Verantwortung bewußter Werkleiter wird sich finden, der unter wirtschaftlich unmöglichen Bedingungen zu arbeiten versucht, es sei denn, daß er von Erwägungen ausgeht, die ich nicht übersehen kann, die aber jedenfalls mit einer Wirtschaft, wie ich sie als ordentlicher Kaufmann verstehe, nichts zu tun hat.

Ich habe Ihnen, Herr General, ganz offen meine Meinung gesagt und hoffe, bei Ihnen als Offizier dafür Verständnis zu finden.

In dieser Erwartung zeichne ich mit dem Ausdruck vorzüglicher Hochachtung

Fußnoten

1

Die Abschrift wurde dem RK am 19.10.23 von dem deutschnationalen MdR Reichert zugesandt (R 43 I /453 , Bl. 90).

2

Der 83jährige August Thyssen hatte in einem Schreiben an den RK vom 8.10.23 gebeten, Direktor Rabes als Vertreter der Thyssen-Werke zu den Besprechungen der Regierung mit dem Bergbau und der Eisenindustrie heranzuziehen, da seine Betriebe dem Verein Deutscher Eisen- und Stahlindustrie nicht angehörten. Am 10. 10. notierte MinR Kiep, daß sich Rabes vorgestellt habe. Kiep riet ihm, auch bei dem RMbesGeb., dem RFM, dem RWiM und dem RArbM vorzusprechen (R 43 I /453 , Bl. 35).

3

Auf Veranlassung des OB von Hamborn hatten bereits Besprechungen zwischen einem Vertreter der Thyssen-Werke und dem Vorsitzenden der frz. Ingenieurkommission Frantzen stattgefunden, in denen deutscherseits erklärt worden war, Arbeitsentlassungen und Unruhen seien nur zu vermeiden, wenn eine ungehinderte Arbeitsaufnahme mit völliger Verfügung über die Produktion zugelassen werde. Auf die Erklärung Frantzens, es sei die Kohlensteuer für Vergangenheit und Zukunft zu zahlen, erklärte der Vertreter Thyssens, dies müsse zwischen den Regierungen erledigt werden. Da vom Reich keine Entschädigungen für beschlagnahmte Rohstoffe und Produkte und auch keine Lohnsicherung mehr bezahlt würden und die Lohnsicherung eingestellt worden sei, müsse mit der Entlassung von 60 000 Arbeitern gerechnet werden, „wenn nicht eine annehmbare Vereinbarung mit den Franzosen zustande“ komme. Diesem Bericht fügte Rabes als Schlußabsatz hinzu: „Nachdem nun das Otto-Wolff-Abkommen bezüglich Phönix und Rheinstahl zustande gekommen ist und die Reichsregierung zu diesem Abkommen ihr Einverständnis erklärt hat, wollen wir die Verhandlungen mit den Franzosen fortsetzen, jedoch vorher die Reichsregierung ordnungsgemäß davon in Kenntnis setzen und um ihr Einverständnis damit bitten. Ebenso würden wir auch um Bestätigung darüber bitten, daß die Reichsregierung mit uns das gleiche Abkommen trifft, hinsichtlich der Entschädigung der an die Franzosen eventuell zu leistenden Lieferungen, wie die Reichsregierung dies mit der Gruppe Phönix-Rheinstahl getan hat.“ Darauf erwiderte MinR Kempner am 15. 10., daß keine Genehmigung des Vertrages des Phönix-Rheinstahl-Abkommens erfolgt sei; außerdem verwies er auf das Schreiben des RK an Stinnes vom 12. 10., in dem das Reich „eine Garantie für die Zahlung von Reparationskohlen oder für einen Ersatz beschlagnahmter Kohlen oder für einen Ersatz der Kohlensteuerbeträge“ ablehnte (R 43 I /453 , Bl. 38–39).

4

S. hierzu Anm. 15 zu Dok. Nr. 111 sowie Dok. Nr. 146.

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