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Marfa und Luba in Kleidern ihrer illegalen Gasteltern, Berlin-Neukölln, 25.3.1944
Quelle: Berliner Zeitung am Abend, 12.2.1969
"[...] Von unserer Gruppe aus hatten wir auch Verbindungen zu sowjetischen Bürgern, die als von den Nazis Zwangsverschleppte hier z.B. bei Auer in Oranienburg unter den unmenschlichsten Verhältnissen arbeiten und leben mussten. (Auer soll Pferdegasmasken u.a. hergestellt haben. [...]) Viele dieser Unglücklichen - meist junge Menschen, von denen einige Mitglieder des Komsomol waren, wie z.B. unsere Natascha aus Leningrad - kamen an den Sonnabenden und Sonntagen oder Feiertagen (sofern sie überhaupt Ausgang hatten) zu den Freunden und Genossen unserer Gruppe zu Besuch. Sie hatten die Möglichkeit, sich zu säubern und bekamen Verpflegung, konnten sich ruhen und wir diskutierten auch mit ihnen. Das ging gut, da doch ein ganz[er] Teil von ihnen gut Deutsch verstand. Oftmals gaben wir ihnen auch unsere Kleidung, damit sie zum Spaziergang nicht mit dem abscheulichen Abzeichen ("der Ostarbeiter") herumlaufen mussten. Sie freuten sich stets, in uns Gesinnungsgenossen gefunden zu haben. Unsere gemeinsamen Gespräche flössten ihnen stets neuen Mut ein. Aber im Juni 1944 ungefähr war es, als unsere Natascha uns erzählte, dass sie einen Freund habe. Als wir sie fragten, wer und was er sei, sagte sie, dass er ebenso wie andere aus dem Lager zu den Wlassow-Leuten gehöre. Da wir über den Verräter Wlassow schon einiges erfahren hatten, waren wir entsetzt und diskutierten dann mit Natascha, dass sie als Komsomolzin doch nicht diesen Weg gehen könne. Wir merkten, sie schwankte zwischen Liebe und Pflicht. Und von nun an kam sie nicht mehr zu uns; wir wurden allerdings auch nicht verraten. Von mir wollte sie immer gern ein Bild als Andenken haben; sie verstand es aber, dass ich ihr keins geben konnte. Und nun war das vielleicht besonders gut. [...]"
Als Verschleppte aus dem Land der großen kommunistischen Oktoberrevolution erfuhren Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter aus der Sowjetunion bei den kommunistischen deutschen Unter- grundgruppen besondere Beachtung. In ihnen fanden die deutschen antifaschistischen Aktivisten Verbündete, auf die sie sich verlassen konnten, wenn es darum ging, die Kriegsproduktion der Industrie zu sabotieren. Zugleich bemühte man sich in den kleinen existierenden Widerstandszellen um das Wohl der einzelnen Verschleppten und zeigte ihnen, dass das deutsche Volk nicht nur aus Legionen glühender Nationalsozialisten bestand. Viele "Antifaschisten" boten sowjetischen Zwangsarbeitern daher gerne eine Anlaufstelle, wo sie sich während ihres Ausgangs aufhalten, sich reinigen und etwas erholen konnten. Sie machten es ihnen möglich, die sowjetischen Sender abzuhören, und unternahmen mit ihnen Spaziergänge oder kleine Ausflüge.
Durch ihre 15jährige Cousine Luba, die von Deutschen auf illegale Weise unterstützt wurde, kam im Jahr 1943 die fünf Jahre ältere Ukrainerin Marfa ebenfalls in Kontakt mit Berliner Kommunisten, einem Ehepaar aus Neukölln. Bald wurden sie von den beiden Mädchen "Vater" und "Mutter" genannt. Marfa war Lernschwester in einem Krankenhaus in Charkow (Ukraine) gewesen, bevor sie von den Deutschen ins Reich gebracht worden war. Ihre Ausbildung hatte sie nicht beenden können. Nun versuchte sie, so viele Wochenenden als nur möglich bei ihren Gasteltern zu verbringen, wo man ihr menschliche Wärme entgegenbrachte und sie einen scheinbaren Hauch von Normalität inmitten ihrer grausamen Situation als Industrie-Zwangsarbeiterin empfinden durfte. Zur Arbeit war sie im Askania-Werk in Friedenau eingesetzt, untergebracht mit weiteren ca. 1000 "Ostarbeitern" im firmeneigenen Lager in der Sundgauer Straße in Zehlendorf. Marfa bemühte sich, ihren Beitrag zum Widerstand gegen das nationalsozialistische Regime zu leisten. Stolz berichtete sie eines Tages, dass es ihr gelungen sei, nicht mehr an der Maschine arbeiten, sondern nur noch Putzarbeiten in der Fabrik verrichten zu müssen. Sie hatte gemeint, sich als Arbeiterin in der Produktion schuldig zu machen, indem sie dadurch dazu beitrüge, den Krieg gegen ihr Volk zu verlängern. Als die Belagerung Berlins bevorstand, gelang Marfa die Flucht. Sie kam bei einem Bauer in Mahlow unter. Unmittelbar vor dem Einrücken der Roten Armee schlug sie sich nach Berlin zu ihren Gasteltern durch. Mit ihnen wollte sie das Kriegsende erleben. Freudig und dankbar erzählte sie einem sowjetischen Major von ihren Erlebnissen mit deutschen Kommunisten. Wie alle sowjetischen Zwangsarbeiter musste sie schon bald in ihre Heimat zurückkehren. Dort erfuhr sie vom Tod ihrer Eltern. Nun stand sie als Waise alleine vor einer ungewissen Zukunft, den Anforderungen eines neuen Lebens. In ihrem Dorf berichtete Marfa als überzeugte Kommunistin viel davon, wie sie von deutschen Freunden in ihrer Leidenszeit unterstützt wurde. Dadurch entstand ein reger brieflicher Austausch zwischen Marfas ehemaligen Berliner Gasteltern und mehreren Dorfbewohnern, die jene für sie eigenartigen Deutschen gerne einmal als ihre Gäste in der Ukraine beherbergen wollten.
Das Schicksal von Marfa hatte ein "Happy End". Sie durfte in ihr Dorf zurückkehren und hatte offenbar keine Probleme, sich rasch ein tragfähiges soziales Netz zu knüpfen. Das war keineswegs selbstverständlich. In Deutschland gewesen zu sein, bedeutete - oft entgegen besserem Wissen - für viele Verachtung und Verdächtigung, zu eigenem Nutzen und zur Kollaboration mit den Nazis nach Deutschland gegangen zu sein.
Das Schicksal von Natascha aus Leningrad, die sich als Komsomolzin in Deutschland in einen Angehörigen der russischen Freiwilligenverbände verliebte und sich vom Kommunismus abwandte, ist nicht überliefert. Wen der sowjetische Geheimdienst allerdings als vermeintlichen Kollaborateur der Nazis entlarvt zu haben meinte, dem konnte ein Urteil von bis zu 25 Jahren Zwangsarbeit in einem sibirischen Lager gefällt werden. Die harten und oft an der Wirklichkeit vorbeigehenden Maßstäbe des NKWD ließen Hunderttausende zu seinen Opfern werden. Dafür, dass sie schuldlos grausames Unrecht in Deutschland erlitten und in vielen Fällen mit knapper Not das "Dritte Reich" überlebt hatten, wurden sie nun bestraft. Für viele kam das einem Todesurteil gleich.
[Quellen: BArch, NY 4232/4; Neues Deutschland v. 28.9.1962; Berliner Zeitung am Abend v. 12.2.1969]
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Die Geschichte von Marfa und ihrer Freundin Luba wurde 1969 in der DDR veröffentlicht.