1.85.4 (mu22p): [Anlage 3:]

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Text

RTF

[Anlage 3:]7

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Dem RIM vom RJM am 24. 10. zugesandt.

Gelegentlich der Ministerbesprechung im Reichsministerium des Innern am 14. Oktober haben Sie, Herr Reichsminister, mich gebeten, Ihnen meine Auffassung über folgende das Volksbegehren betreffenden Fragen mitzuteilen:

I.

Ist der Entwurf eines Gesetzes gegen die Versklavung des deutschen Volkes verfassungswidrig?

[1114] II.

Welche Beteiligung und welche Mehrheit würden im Falle eines Volksentscheids zur Annahme des Gesetzes erforderlich sein?

I.

Die Frage, ob der erwähnte Gesetzentwurf verfassungswidrig ist, beurteile ich für die einzelnen Bestimmungen des Entwurfs wie folgt:

§ 1

a) Die Bestimmung steht im Widerspruch mit Artikel 45 der Reichsverfassung. Nach Artikel 45 vertritt der Reichspräsident das Reich völkerrechtlich. Wenn im § 1 die Reichsregierung verpflichtet wird, den auswärtigen Mächten in feierlicher Form Kenntnis davon zu geben, daß das erzwungene Kriegsschuldanerkenntnis des Versailler Vertrags der geschichtlichen Wahrheit widerspricht, auf falschen Voraussetzungen beruht und völkerrechtlich unverbindlich ist, so wird sie damit beauftragt, eine völkerrechtliche Erklärung für das Reich abzugeben, die nach Artikel 45 ausschließlich der Reichspräsident abgeben kann.

b) Die Bestimmung des § 1 enthält einen Eingriff der Gesetzgebung in die auswärtige Politik: Die Gesetzgebung ergreift die Initiative für eine den auswärtigen Mächten gegenüber namens des Reichs abzugebende völkerrechtliche Erklärung. Geht man davon aus, daß die Reichsverfassung sich auf dem Grundsatz von der Trennung der Gewalten aufbaut, so stehen einer derartigen Initiative der Gesetzgebung verfassungsrechtliche Bedenken entgegen: es ist nach der Verfassung Sache des Reichskanzlers, die Richtlinien der Politik zu bestimmen (Artikel 56 der Reichsverfassung) und Sache des Reichspräsidenten, völkerrechtliche Erklärungen abzugeben (Artikel 45 der Reichsverfassung). Für die Zulässigkeit einer solchen Initiative der Gesetzgebung hat der Reichsausschuß für das Volksbegehren sich auf § 3 a des Gesetzes über die Londoner Konferenz vom 30. August 1924 (Reichsgesetzbl. II S. 289) berufen. Dem kann man entgegenhalten, daß der § 3 a des Gesetzes über die Londoner Konferenz, wie sich aus seiner Entstehungsgeschichte unzweideutig ergibt, keinen Gesetzesbefehl enthalten, vielmehr nur der Tatsache feierlichen Ausdruck geben sollte, daß nach übereinstimmendem Willen von Reichstag und Reichsregierung eine Reihe selbstverständlicher außenpolitischer Wünsche der Erfüllung entgegengebracht werden möchte. In diesem Sinne hat damals im Reichstag auch der Abgeordnete Koch-Weser sich geäußert und dabei gewisse staatsrechtliche Bedenken gegen die Einfügung des § 3 a in das Gesetz geltend gemacht (vgl. Stenografischer Bericht über die 25. Sitzung vom 27. August 1924 Bd. 881 S. 985 der Verhandlungen des Reichstags).

§ 2

Es gilt das zu § 1 unter b) Gesagte.

§ 3

Durch die Bestimmung des § 3 wird dem Leiter der auswärtigen Politik eine bestimmte Politik und dem zum Abschluß von Verträgen mit auswärtigen[1115] Mächten berufenen Organ der Abschluß bestimmter Verträge verboten. Die Entscheidung darüber, ob die Bestimmung mit der Reichsverfassung vereinbar ist, hängt ebenso wie bei § 1 (unter b) und 2 davon ab, ob die Gesetzgebung befugt ist, Vorschriften für die Führung der auswärtigen Politik zu geben. Der Unterschied zu §§ 1 und 2 liegt darin, daß dort die Gesetzgebung die Initiative ergreift, während hier die Initiative der verfassungsmäßig berufenen Organe, des Reichskanzlers und des Reichspräsidenten ausgeschlossen wird.

§ 4

Die Strafandrohung des § 4 hat keine selbständige Bedeutung; sie verstärkt nur das in § 3 ausgesprochene Verbot. Wenn hier neben dem Reichskanzler und den Reichsministern „deren Bevollmächtigte, die … Verträge mit auswärtigen Mächten zeichnen“ mit Strafe bedroht werden, so ist die Vorschrift, wenn man nicht annehmen will, daß sie sich auf Bevollmächtigte des Reichspräsidenten beziehen soll, insoweit gegenstandslos; der Reichskanzler und die Reichsminister können niemand dazu bevollmächtigen, Verträge mit auswärtigen Mächten zu zeichnen. Man wird die Bestimmung aber nicht deswegen als „verfassungswidrig“ bezeichnen können, weil an einen nach der Verfassung nicht möglichen Tatbestand eine Straffolge geknüpft wird.

II.

Für die Entscheidung der Frage, welche Beteiligung und welche Mehrheit im Falle eines Volksentscheids über den Gesetzentwurf zur Annahme des Gesetzes erforderlich wären, sind die Bestimmungen der Artikel 75 und 76 der Reichsverfassung maßgebend.

Ist das Gesetz verfassungswidrig, so ist nach Artikel 76 Abs. 1 die Zustimmung der Mehrheit der Stimmberechtigten erforderlich. Nach dem Gesagten ist das Gesetz verfassungswidrig.

Hält man das Gesetz nicht für verfassungswidrig, so würde zu seiner Annahme die einfache Mehrheit der Abstimmenden genügen. Es müßte sich jedoch gemäß Artikel 75 an der Abstimmung die Mehrheit der Stimmberechtigten beteiligen, da ein Beschluß des Reichstags – Ablehnung des auf Grund des Volksbegehrens vorgelegten Gesetzentwurfs – außer Kraft gesetzt werden müßte. Das auch die Ablehnung eines auf Grund eines Volksbegehrens vorgelegten Gesetzentwurfs durch den Reichstag als „Beschluß des Reichstags“ im Sinne des Artikel 75 der Reichsverfassung anzusehen ist, entspricht der herrschenden Auffassung und der Staatspraxis. Für diese Auslegung des Artikel 75 der auf Grund eines Antrags Waldstein und Genossen bei der 3. Lesung in die Fassung aufgenommen ist, spricht auch die Begründung, die der Antragsteller in der 71. Sitzung der Nationalversammlung für seinen Antrag gegeben hat (vgl. Sten. Berichte 71. Sitzung S. 2156 ff.). Für die Mitteilung Ihrer Auffassung, Herr Reichsminister, wäre ich dankbar.

gez. von Guérard

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