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Nr. 96
Der Vertreter der Reichsregierung in Bamberg an die Reichskanzlei. Bamberg, 1. Juni 1919
[Betrifft: Lage Bayerns im Fall eines feindlichen Einmarschs]
Auf Anfrage vom 30. Mai1. Um im Falle einer Nichtunterzeichnung des Friedens den Süden zu Sonderfrieden zu zwingen, muß die Entente den Süden besetzen2. Nach erheblichen Schwierigkeiten und unter scharfem Zwang wird[411] dann vermutlich ein für die Zeit der Okkupation dauernder Sonderfrieden mit Hilfe des klerikalen Adels geschlossen werden können. Im Volksregime nicht. Frankreich hat außer einer vorübergehenden Erleichterung der Lebensmittellage nichts zu bieten. Es muß das Odium der schwersten Steuern und Kontributionen und der Okkupation auf sich nehmen und kann nur Haß, nicht Liebe säen und ernten. Auch im Falle eines erzwungenen Sonderfriedens würde nach meiner festen Überzeugung der Süden in dem Augenblick zum Reiche drängen, in dem die französische Besatzung das Land wieder verläßt. Auch bei einer Vereinigung Bayerns mit den schon jetzt in seine Kronländer zerfallenden Deutschen Österreichs kann Frankreich die Wiedervereinigung mit dem Norden nur durch Okkupation verhindern. Letzten Endes wird eine französische Okkupation des Südens – über freilich schwerste Jahre hinweg – mit einer Verjüngung des Reichsgedankens abschließen und ist für die deutsche Einheit kaum gefährlicher als die Unterzeichnung eines vernichtenden Friedens, bei dem die Berliner Führung das Odium der Verelendung zu tragen hätte, und Frankreich unter Ausnutzung dieser Stimmung in die Lage versetzt würde, nach einigen Jahren dem leidenden Süden die Bürde der ihm vom Norden diktierten Lasten zu erleichtern. Im Falle der Nichtunterzeichnung des Friedens und Besetzung des Südens ist wichtig, daß München vor Einmarsch der Entente nicht Spartakus überlassen und dann von der Entente befreit wird und daß der Plan gelingt, die legitime Bayerische Regierung im unbesetzten Gebiet zu erhalten3.
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Siehe Dok. Nr. 92.
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Der Stabschef des XIV. AK in Baden-Durlach, Oberstleutnant Föhrenbach, schrieb am 3.6.1919 an den PrKriegsM: „[…] Daß der Gegner eine Trennung von Nord und Süd beabsichtigt, geht, abgesehen von den Vorgängen im Rheinland und in der Pfalz, auch aus der augenblicklichen Feindgruppierung gegenüber dem Korpsbereich hervor. […] Unter diesen Umständen und mit Rücksicht auf die augenblickliche Lage und Stimmung in Baden muß damit gerechnet werden, daß ein Einrücken der Entente unter Umständen zu einem Abfall des Landes vom Reiche und zu einem Wiedererstehen eines rheinbundähnlichen Staatengebildes führen wird.“ (R 43 I/8, Bl. 86 f.).
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Aus einem Telegramm des pr. Geschäftsträgers in Darmstadt an das AA vom 5.6.1919 geht hervor, daß anläßlich einer Besprechung der süddt. Regg. in Bruchsal am 4.6.1919 nur Bayern dafür eingetreten war, im Fall eines feindlichen Einmarsches den Regierungssitz zu verlegen (R 43 I/8, Bl. 36). Der pr. Geschäftsträger in München Graf Zech telegrafierte am 2.6.1919 ergänzend an das AA: „[…] Den Ausführungen Riezlers über Gefahr Sonderfriedens im Falle Nichtunterzeichnung schließe ich mich vollinhaltlich an und halte namentlich bei Vernichtung Friedens, für den Berlin Verantwortung trägt, ständige Lockungen Entente auf die Dauer für gefährlicher als brutale Zwangsmaßregeln der Entente; diese würden Irredenta schaffen und bei dann unausbleiblichem Verfall Bayerns frühere Größe des Landes zur Zeit seiner Vereinigung mit Reich in rosigem Licht erscheinen lassen.“ (R 43 I/8, Bl. 32).
gez. Riezler