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[272] Nr. 63 a
Denkschrift des Reichswirtschaftsministeriums zur wirtschaftspolitischen Lage. 7. Mai 19191
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Die Wirtschaftsdenkschrift, deren geistiger Urheber und vermutlich auch weitgehend Verfasser der UStS im RWiMin. Wichard v. Moellendorff war (abgedruckt in: Moellendorff, Wichard v.: Konservativer Sozialismus, hrsg. u. eingeleitet von Hermann Curth, Hamburg 1932, S. 233 ff. ), war bereits im Laufe des April 1919 ausgearbeitet und den sozialdemokratischen Mitgliedern des RKab. zugeleitet worden (s. Dok. Nr. 62); ein maschinenschriftl. Exemplar im Nachl. Moellendorff trägt das Datum vom 24.4.1919 (Nachl. Moellendorff, Nr. 82). Offiziell wurde sie zusammen mit dem Wirtschaftsprogramm des RWiMin. der Rkei am 13.5.1919 übersandt; das Begleitschreiben lautet: „Anbei überreiche ich die seit einiger Zeit angekündigte und in vorläufigen Exemplaren bereits mitgeteilte Denkschrift mit dem Wirtschaftsprogramm des Reichswirtschaftsministeriums in je 20 Abdrucken, und zwar in derjenigen Fassung, in der sie auch den nicht der Sozialdemokratischen Partei angehörenden Reichsministern vorgelegt werden könnte.
Die Vorschläge, welche in der Denkschrift sowie dem Wirtschaftsprogramm enthalten sind, sollen, wie ich nochmals bemerken möchte, ein geschlossenes Ganzes darstellen, für dessen Ausführung ich zwar Änderungsvorschläge von Anderen erwarte, und mir selbst vorbehalte, dessen Grundtendenz doch gewahrt bleiben muß.
Wenn heute, nach Bekanntgabe der Friedensbedingungen, ein Programm dieser Art vorgelegt wird, so wird man einwenden können, daß nunmehr neue Umstände andere und wichtigere Aufgaben in den Vordergrund geschoben hätten und daß man, ehe man ein solches Programm aufstellt, die schließliche Gestaltung des Friedens abwarten sollte. Das ist irrig. Gerade in der jetzigen, ganz unter dem vernichtenden Eindruck des Friedensangebots stehenden Stimmung muß mit besonderem Nachdruck die Annahme eines festen gemeinwirtschaftlichen Programms gefordert werden.
Es wäre eine trostlose Aussicht, wenn die nächsten Wochen, welche die Entscheidung über den Frieden bringen müssen, nicht auch auf innerpolitischem Gebiete mit entschlossenen Taten ausgefüllt werden sollten. Deutschland kann sein künftiges Schicksal in nichts anderem als in ernster Arbeit an sich selbst suchen. Das Volk muß geleitet werden, daß es die schier verzweifelte Lage gründlich erfaßt und mit dem letzten Rest seiner Kräfte aufwärts zu wenden versucht.
Die Friedensbedingungen sind furchtbar hart, und man sieht nicht ab, wie sich unter einem solchen Frieden überhaupt ein menschenwürdiges Leben für das deutsche Volk wieder entwickeln könnte. Aber es hilft nichts, wenn sich Deutschland auf den Entrüstungssturm eines vergewaltigten Volkes beschränkt. Wir müssen zugleich mit Ernst die Frage erwägen, wie Deutschland das Unerträgliche tragen soll, wenn es ihm vom Schicksal zu tragen auferlegt wird. Die äußere Macht Deutschlands ist restlos zusammengebrochen. Soll nicht die deutsche Wirtschaft, die durch diese harte Schale geschützt lebte und gedieh, völlig schutzlos sein, so muß sie ihre innere Organisation soviel wie möglich erhöhen. Die Not des Landes treibt mit zwingender Gewalt zur Gemeinwirtschaft. Die Aufgabe, die das Schicksal dem deutschen Volk gestellt hat, läßt sich nur lösen in dem Geiste der Unterordnung des Einzelnen unter das Ganze. Mit dieser Idee müssen wir zu wirken suchen. Dringt sie durch, so kann schließlich auch nicht ausbleiben, daß Deutschland über kurz oder lang seine volle Freiheit und Gleichberechtigung, vielleicht sogar seine geistige Führerschaft wiedergewinnt.
Nicht eindringlich genug kann ich die Bitte aussprechen, sich sobald und entschieden wie möglich auf den Boden eines klaren gemeinwirtschaftlichen Programms zu stellen, wie es in den Anlagen entwickelt ist.
Ich würde dankbar sein, wenn tunlichst bald eine Beschlußfassung des Kabinetts über das Wirtschaftsprogramm und die ihm beigefügten Richtlinien zu Gesetzentwürfen herbeigeführt würde. Vielleicht würde es sich empfehlen, bevor das Gesamtkabinett mit der Angelegenheit befaßt wird, eine Vorerörterung innerhalb der sozialdemokratischen Kabinettsmitglieder stattfinden zu lassen, damit von diesen Mitgliedern im Gesamtkabinett möglichst einheitlich zu den in Betracht kommenden Fragen Stellung genommen wird.
Im Falle der Zustimmung des Kabinetts würde es m. E. zweckmäßig sein, eine besondere interministerielle Kommission damit zu beauftragen, die erforderlichen Gesetzesvorlagen sofort auszuarbeiten, was nach der gründlichen Vorbereitung, welche im Reichswirtschaftsministerium und teilweise auch im Reichsarbeitsministerium bereits vorliegt, nicht sehr lange Zeit in Anspruch nehmen dürfte. Vorschläge wegen der Zusammensetzung einer solchen Kommission darf ich mir vorbehalten.
Abschrift dieses Schreibens nebst Anlagen habe ich dem Herrn Reichspräsidenten mitgeteilt. Wissell“ (R 43 I/1146, Bl. 50-52, 54-79).
R 43 I/1146, Bl. 54-63 Umdruck
Es mehren sich die Anzeichen dafür, daß das Kabinett von Tag zu Tag Teile seines Vertrauens in der Bevölkerung einbüßt. Darüber darf die Tatsache nicht hinwegtäuschen, daß die Stellung des Kabinetts, rein politisch betrachtet, durch das Vertrauen einer parlamentarischen Mehrheit bis auf weiteres gesichert erscheint.
[273] Wenn schon keineswegs bestritten werden soll, daß eine Reihe von unabänderlichen und unverschuldeten Umständen diese Umstimmung des Volkes bewirkt hat, so läßt sich dennoch nicht leugnen, daß für gewisse Schwierigkeiten die Regierung und die ihr zu Grunde liegende Parteikoalition mitverantwortlich sind. Sicherlich wird beispielsweise durch die Erbschaft eines verlorenen Krieges und durch den Zwang monatelangen Wartens auf einen schlechten Frieden das Regierungsgeschäft unerträglich erschwert; aber ebenso gewiß läßt sich auch sagen, daß das Volk zu der Klage berechtigt ist, von der Regierung sei nicht jede Gelegenheit ausgenutzt worden, um das jeweils erreichbare Beste durchzusetzen.
Um nach Möglichkeit in letzter Stunde die Weiterentwicklung zur Katastrophe aufzuhalten, fühlt sich das Reichswirtschaftsministerium verpflichtet, in aller Offenheit seine Kritik darzulegen und Abhilfemaßregeln vorzuschlagen.
Das Reichswirtschaftsministerium hat sich schon mehrmals erlaubt, auf Konstruktionsfehler der Behördenorganisation hinzuweisen, doch zeigten die maßgebenden Stellen der Reichsregierung wenig Neigung, Einheitlichkeit in die wirtschaftspolitische Betätigung des Reichs zu bringen. Es gelang dem Reichswirtschaftsministerium, ungeachtet stets erneuter Vorstellungen und energischer Wahrung seiner Stellung, nicht, die wirtschaftspolitischen Kompetenzen der verschiedenen obersten Reichsbehörden ganz zu klären. Waren auch die verschiedenen militärischen Stellen, die während des Krieges sich wirtschaftspolitisch betätigt hatten, in dem Demobilmachungsamt vereinigt, so blieb die Wirtschaftspolitik im übrigen systemlos auf Reichswirtschaftsministerium, Ministerium des Auswärtigen, Schatzministerium, Arbeitsministerium, Reichsernährungsministerium geteilt. Hinzu trat als ein neuer wirtschaftspolitischer Faktor die Waffenstillstands-Kommission. Und bei der Kabinettsbildung wurde das Schatzamt in Finanzministerium und Schatzministerium geteilt. Wer bei dieser verworrenen Geschäftsverteilung die Verantwortlichkeit für das Gesamtgebiet der Wirtschaftspolitik eigentlich trägt, ist völlig unklar. Eine einheitliche Wirtschaftspolitik ist bei dieser Sachlage ganz unmöglich. Und dabei handelt es sich nicht um reine Kompetenzfragen. Hinter den Kompetenzen stehen vielmehr[274] grundsätzliche Divergenzen in der wirtschaftspolitischen Auffassung der einzelnen Ressorts und ihrer Leiter.
Der im Volke allgemein fühlbare Eindruck organisatorischer Unklarheit wirkt äußerst unheilvoll und erweckt geradezu den Anschein, als werde das Regieren mehr denn je als Selbstzweck statt als Mittel zum Zweck betrieben. Sachliche Gesichtspunkte würden es absolut geboten erscheinen lassen, die Zahl der Reichsministerien zu vermindern und ihr gegenseitiges Verhältnis scharf abzugrenzen. Die sofortige Zusammenlegung mittlerer und unterer Reichsämter, Kriegsgesellschaften usw. und schließlich die unvermeidliche Verbesserung des Beamtengesetzes mit dem Ziel einer möglichst weitgehenden Entbürokratisierung der Regierungsmaschine wird durch die Verhältnisse dringend gefordert.
Die Lösung dieser Aufgaben hängt nicht von der Überwindung äußerer Hindernisse ab, sondern bedarf lediglich des Entschlusses, innere Widerstände im Schoße der gesetzgebenden Körperschaften zu bekämpfen. Daß solche Widerstände durch das parlamentarische System nicht geschwächt, sondern bestärkt werden, verkennt das Reichswirtschaftsministerium durchaus nicht. Aber gerade in dieser Tatsache erblickt es eine entscheidende Gefahr: in einer Zeit wie der jetzigen kann der Sinn des demokratischen Prinzips dadurch in sein Gegenteil verkehrt werden, daß man auf grundsätzliche Auseinandersetzungen verzichtet, nur um den Zusammenhalt der Mehrheit nicht zu gefährden.
Das liegt in den Schwierigkeiten, die einem Koalitionskabinett erwachsen, die darin begründet sind, daß man von solchen grundsätzlichen Auseinandersetzungen absieht, nur um den Zusammenhalt der Koalition nicht zu gefährden.
Eine derartig zusammengehaltene Koalition muß jedoch über kurz oder lang versagen, indem sie sich als programm- und ideenlos erweist und dann plötzlich dem Ansturm irgendwelcher Minderheit unterliegt.
Was bisher im Rahmen der programmlos vollzogenen Koalition an wirtschaftlichen und sozialen Proklamationen erfolgt ist, trägt den Stempel des Notkompromisses an sich und begegnet im Lande Zweifeln an der Echtheit der Gesinnung.
Nichts kennzeichnet das Bedenkliche der heutigen Kabinettspolitik so gut wie die Tatsache, daß das Kabinett in seinem Beschluß über die „Verankerung des Rätesystems“ den durch das Sozialisierungsgesetz festgelegten Ausdruck „Gemeinwirtschaft“ beseitigt und durch den farblosen Ausdruck „Gesamtwirtschaft“ ersetzt hat2. Auf dem Rätekongreß wäre die Erörterung einfacher zu lenken und der gute Wille der Reichsregierung leichter zu beweisen gewesen, wenn nicht gewisse elementare Fehler der Regierungsvorlage den Anlaß zu Gegenvorschlägen und Verdächtigungen gebildet hätten.
Man muß es rückhaltlos aussprechen, daß ein Kabinett, das sich Anfang März durch Erlaß des Sozialisierungsgesetzes3 zur Gemeinwirtschaft bekennt und Anfang April die Beteiligung der Räte an der „gesamtwirtschaftlichen“[275] (statt gemeinwirtschaftlichen) Entwicklung der Produktion ankündigt4, sich über den Vorwurf unechter Gesinnung eigentlich nicht wundern darf.
Es will dem Reichswirtschaftsministerium scheinen, daß die in den Fragen der Sozialisierung, des Rätesystems usw. immerwährend fortschreitende Radikalisierung der öffentlichen Meinung zwar gelegentlich von persönlichen Hetzern ausgelöst, aber letztens durch den Opportunismus der Regierung mitverursacht wird.
Bei dem Fehlen eines klaren unzweideutigen Programms des Kabinetts gerade auf innerpolitischem und wirtschaftlichem Gebiete ist jede Art von Fachpolitik und im Sinne des Reichswirtschaftsministeriums besonders die Sozial-, Finanz- und Wirtschaftspolitik zu kurz gekommen, oder mit anderen Worten: dem demokratischen Prinzip zuliebe hat der Sozialismus schwer gelitten. Es ist allerhöchste Zeit, diesen Fehler wieder gutzumachen, wenn anders man den Sozialismus nicht wilden anarchistischen Experimenten überliefern und obendrein die Demokratie einbüßen will.
Man kann nicht einwenden, es dürfe an der scheinbaren Einheit des Kabinetts nicht vor dem Friedensschluß gerüttelt werden, denn gerade die Friedensverhandlungen selbst und die daran hängenden Entschließungen für oder wider die Annahme des gegnerischen Angebots erfordern sofortige prinzipielle und programmatische Haltung des Kabinetts. Vor der Weltgeschichte würde keine Ausflucht standhalten, die etwa versuchte, die eigene Schwäche auf die feindliche Überlegenheit abzuwälzen. Deutschland kann gerade auf wirtschafts-, finanz- und sozialpolitischem Gebiet starke Trümpfe ausspielen, sofern es nach einem einheitlichen Plan verfährt. Aber durch ein Gemisch von Meinungen, wie es alltäglich in den Erörterungen zwischen Waffenstillstandskommission, Reichsfinanzministerium, Reichsschatzministerium, Reichsernährungsministerium, Auswärtigem Amt und Reichswirtschaftsministerium zutage tritt, ohne jemals ganz geläutert zu werden, wird sich Deutschland auf Jahrzehnte hinaus schwer schädigen. Hier helfen keine Instruktionen über Einzelheiten. Hier hilft ausschließlich ein prinzipielles Programm. Und hier, wo Deutschland als Schuldner, als Käufer und als sozialistischer Bahnbrecher über ansehnliche Kräfte verfügt, hieße Verzicht auf ein Programm schuldhafte Versündigung an sich selbst.
Wie stellt sich die wirtschaftliche Lage Deutschlands dar?
Die Lebensmöglichkeit des deutschen Volkes ist durch die Arbeitsmöglichkeit bedingt, und die Arbeitsmöglichkeit hängt für einen verhältnismäßig großen Teil der Industrie von der Möglichkeit ab, ausländische Rohstoffe einzuführen und Fertigerzeugnisse auszuführen. Die Aussichten für eine ausreichende Beschäftigung der deutschen Bevölkerung werden um so günstiger sein, wenn bei der Einfuhr im allgemeinen die Rohstoffe überwiegen und die Fertigerzeugnisse zurücktreten, bei der Ausfuhr aber die Fertigerzeugnisse überwiegen und die Rohstoffe zurücktreten.
Die innere Struktur der deutschen Wirtschaft war vor dem Kriege, von den wichtigsten Verkehrsunternehmungen (Eisenbahnen, Post) abgesehen, im wesentlichen rein privatwirtschaftlich. Doch konnte schon vor 1914 auf vielen[276] Gebieten, und zwar gerade auf den für die Gesamtwirtschaft wichtigsten, von einem freien Spiel der Kräfte in Wahrheit nicht mehr die Rede sein. Eine starke Konzentration, sowohl in den Formen des kapitalistischen Großbetriebes, der kapitalistischen Vertrustung oder Versippung einerseits, als in den Formen der genossenschaftlichen Verbindung (Syndizierung, Kartellierung) anderseits, beschränkte den freien Wettbewerb in wachsendem Maße. Dabei war das Ziel dieser Konzentration immer rein privatwirtschaftlich. Noch sträubte sich der Staat gegen die vielfach aufgetretenen Versuche, diese privaten Wirtschaftskonzerne gemeinwirtschaftlicher Aufsicht zu unterstellen, wobei man von der Auffassung ausging, daß Wirtschaften Sache des Einzelnen und nicht Sache der Gemeinschaft sei.
Der Krieg hat das Bild der deutschen Wirtschaft von Grund auf verändert. Das braucht nicht näher ausgeführt zu werden, das ist bekannt.
Der Verlust des Krieges und die politische Umwälzung hat zum wirtschaftlichen Zusammenbruch geführt. Die ganze Schwere in allen ihren vernichtenden Folgen wird allerdings erst in einiger Zeit für die Bevölkerung allgemein erkennbar und fühlbar sein.
Die unbedingt notwendige Umstellung auf die Friedensproduktion, von deren schnellem Erfolg das Schicksal der deutschen Wirtschaft abhing, wurde erschwert durch den Mangel an Rohstoffen, durch die Abschnürung der Wirtschaftsgebiete links des Rheins, durch die Verschärfung der Blockade, durch die Lahmlegung unseres Verkehrswesens, die Risikofurcht der Unternehmer und vor allem durch die allgemeine Arbeitsunlust, welche fast eine natürliche Folge vierjähriger Überspannung der Kräfte, mehrjähriger Unterernährung und politischer Erregung war. So stehen wir vor der Tatsache, daß unsere ganze Wirtschaft zusammengebrochen ist. Jede Aussicht fehlt, zu den Zuständen der Zeit vor 1914 zurückzukehren. Es handelt sich nicht nur um eine Wiederbelebung, sondern um einen völligen Wiederaufbau unserer Wirtschaft. Dabei muß oberstes Ziel sein, einem möglichst großen Teil der deutschen Bevölkerung wieder die Möglichkeit zu bieten, in Deutschland durch Arbeit seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Gegenüber diesem Ziel müssen alle sonstigen Rücksichten fernbleiben, vor allem die Rücksichten auf die jetzige oder frühere soziale und wirtschaftliche Stellung, überhaupt auf die Interessen einzelner Personen, mögen sie Unternehmer oder Arbeiter sein.
Deutschland ist durch den Krieg arm und arbeitslos geworden.
Alle Vorräte sind erschöpft. Die Viehbestände sind auf ein bedenkliches Maß herabgesunken. Das Verkehrswesen befindet sich in einem Zustand chronischer Erschöpfung. Rund zwei Millionen der arbeitskräftigsten Menschen hat uns die Kriegsführung draußen gekostet. Erschreckend groß sind die Verluste an Menschenleben und Arbeitskraft, welche in der Heimat durch Überanstrengung und Unterernährung verursacht worden sind. Die gesundheitlichen Verhältnisse haben sich wesentlich verschlechtert. Es muß mit dem dauernden Verlust wichtiger Teile des deutschen Wirtschaftsgebietes gerechnet werden. Der drohende Verlust der Ostmark und der Nordmark verringert die Lebensmittelbasis der städtischen Bevölkerung Deutschlands empfindlich. Der Verlust Elsaß-Lothringens und des Luxemburgischen Wirtschaftsgebietes schwächt die Stellung[277] Deutschlands auf dem Gebiete der Eisen- und Stahlindustrie, der Textilindustrie und namentlich der Kaliindustrie. Auf diesem verkleinerten und verarmten Deutschland lastet das ganze Schwergewicht der Kriegsbeschädigten- und Hinterbliebenenfürsorge, der sonstigen inneren Kriegsschuld und der Auslandsverschuldung. Dem Ausland schulden wir bereits über 15 Milliarden Mark, ungerechnet die Entschädigungen, die uns im Frieden auferlegt werden sollen und ungerechnet die Schulden, die wir neu aufnehmen müsen, um die notwendigsten Lebensmittel und Rohstoffe einführen zu können. Der Wert der Mengen, die in den ersten zwei Jahren nach dem Friedensschluß unbedingt eingeführt werden müssen, wenn anders sich in Deutschland überhaupt wieder eine lebensfähige Wirtschaft entwickeln soll, wird vom Reichswirtschaftsministerium nach sehr eingehenden Erhebungen auf 40–50 Milliarden Mark berechnet.
Es wird äußerster Zusammenfassung aller Kräfte, unbedingter Sparsamkeit im Verbrauch und größtmöglicher Hebung der Produktivität bedürfen, um dieses verarmte Land wieder hochzubringen. Die Schwierigkeiten sind um so größer, als noch völlig ungewiß ist, ob sich für die deutsche Produktionsfähigkeit, so vermindert sie auch aus dem Kriege hervorgegangen ist, genügende Arbeitsmöglichkeiten bieten werden. Unserer Industrie werden die ausländischen Rohstoffe nur dann mit Sicherheit in ausreichenden Mengen und zu erträglichen Bedingungen zur Verfügung stehen, wenn nach der Versorgung der ausländischen Verarbeiter noch ein für Deutschland verfügbarer Rest von Rohstoffen übrig bleibt. Auch sonst hat die deutsche Industrie mit einer außerordentlich vermehrten Konkurrenz der Auslandsindustrie zu rechnen. Auf Gebieten, in denen Deutschland vor dem Kriege besonders stark war, hat das Ausland die Zeit des Ausbleibens der deutschen Erzeugnisse benutzt, eigene Industrieen ins Leben zu rufen oder vorhandene zu verstärken. Die Liquidation überseeischer Handelshäuser, das System der schwarzen Listen und die Knebelung der deutschen Reederei haben die Stellung der deutschen Industrie auf den Auslandsmärkten außerordentlich erschwert. In welchem Maße es der deutschen Wirtschaft möglich sein wird, sich der Konkurrenz der ausländischen Fertigerzeugnisse wenigstens auf dem Inlandsmarkt zu erwehren, steht noch dahin. Die äußere Macht Deutschlands, unter deren Schutz die deutsche Wirtschaft vor dem Kriege gedieh, ist zusammengebrochen. Die bis dahin als Gesamtheit nur im politischen Staat vereinigte, gewissermaßen äußerlich zusammengehaltene Wirtschaft muß jetzt, nachdem die äußere Macht des Reichs empfindlich geschwächt ist, durch möglichste Erhöhung ihrer inneren Konsistenz das zu ersetzen versuchen, was sie an äußeren Schutzmitteln einbüßte.
Wenn es sich darum handelt, an die Stelle wirtschaftlicher Anarchie, wie sie zur Zeit, einerlei aus welchen Ursachen, in Deutschland herrscht, wirtschaftliche Ordnung zu setzen, so muß man sorgfältig von unten her auf den vorhandenen Vereinigungstendenzen der produktiv tätigen Bevölkerung aufbauen. Diese Vereinigungstendenzen sind im dünn bevölkerten Agrarstaat mit wenig entwickeltem Verkehr und wenig zivilisierter Bevölkerung regional eingestellt. Das gesellschaftsbildende Element ist die räumliche Nachbarschaft. Der natürliche Unterbau für die wirtschaftliche und staatliche Betätigung ist in einem solchen Lande die Gemeinde.
[278] Anders im dicht bevölkerten Industrieland mit stark entwickeltem Verkehr, mit schrift- und lesegewandter Bevölkerung. Hier können die Einzelnen sich leicht über räumliche Schranken hinaus entwickeln. Bei der Gesellschaftsbildung wird die berufliche Zusammengehörigkeit stärker als die örtliche Nachbarschaft.
Die örtlichen Gemeindegrenzen verwischen sich mehr und mehr, und die personelle Gliederung nach Berufsgruppen tritt in den Vordergrund. Es ist deshalb kein Zufall, daß schon in den Jahrzehnten vor dem Kriege das Solidaritätsgefühl innerhalb der einzelnen Berufsgruppen sich als die stärkste gesellschaftsbildende Kraft erwiesen hat. Wir können dies sowohl in der Gliederung der Unternehmer zu Fachverbänden, wie auch in den gewerkschaftlichen Bestrebungen der Arbeiterschaft und ähnlich gerichteten Tendenzen der freien Berufe erkennen. Auf diesen Kräften muß man die Organisation der neuen Wirtschaft aufbauen, wenn man ein lebenskräftiges Gebilde schaffen will. Erstes Ziel muß also sein, neben den regionalen Bildungen der Gemeinden, Bezirke und Einzelstaaten, die sich auch künftig in Fragen kultureller oder politischer Natur, sowie in wirtschaftlichen Fragen von rein örtlicher Bedeutung weiter zu betätigen haben würden, fachliche Wirtschaftsgruppen, jeweils aus Unternehmern und Arbeitern, Kaufleuten und Verbrauchern zusammengesetzt, zu bilden. Die Gesamtheit dieser Wirtschaftsgruppen, die als fachliche Selbstverwaltungskörper auszubilden wären, würde neben den regional gewählten Vertretern in einem Reichswirtschaftsrat zu vereinigen sein.
Die Aufgabe dieser Wirtschaftsgruppen und dieses Wirtschaftsrats sollten zunächst rein wirtschaftliche sein: sie sollen mit wirtschaftlichen Mitteln planmäßig eine neue Wirtschaft aufbauen. Ihre politische Betätigung könnte notfalls auf die Begutachtung, Anregung und Förderung wirtschaftspolitischer Gesetze beschränkt bleiben.
Die Erkenntnis von der Notwendigkeit einer solchen Gliederung beginnt sich, angeregt durch das Verlangen der Arbeiterschaft nach Mitwirkung an der Bildung des deutschen Wirtschaftswillens in der Öffentlichkeit und im Verfassungsausschuß durchzusetzen.
Damit allein kann man sich aber unmöglich zufrieden geben. Es genügt nicht, daß man nun endlich langsam und zögernd in die richtige Bahn einzulenken beginnt. Wer sich die unendlich schwierige Lage der deutschen Wirtschaft vor Augen hält, wird es nicht verantworten können, auch nur einen Augenblick mit der Verwirklichung der Pläne zu zögern, von denen allein eine Gesundung unserer wirtschaftlichen Verhältnisse erwartet werden kann. Man kann zweifeln, ob überhaupt jetzt noch irgendeine Möglichkeit besteht, das völlige Chaos zu vermeiden. Aber es muß versucht werden. Und zwar sofort.
Das Reichswirtschaftsministerium hat sich gleich, nachdem aus Anlaß der Revolution seine Führung in neue Hände übergegangen war, auf den Boden des sich jetzt langsam durchsetzenden Wirtschaftsprogramms gestellt. Es ist leider mit seinen Vorschlägen nicht durchgedrungen.
Bereits am 28. November 1918 hatte das Reichswirtschaftsministerium einen bis ins Einzelne ausgearbeiteten Plan zur Bildung eines „Reichsfonds“ in Höhe von 5 Milliarden Mark vorgelegt, der die Aufgabe haben sollte, durch Gebrauch[279] und Verbrauch seiner Mittel während der Übergangszeit von der Kriegs- zur Friedenswirtschaft die deutsche Gütererzeugung zu fördern und dadurch die Beschäftigung der deutschen Arbeiterschaft zu gewährleisten5. Als Unterbau für die Verwaltung des Reichsfonds waren paritätisch zusammengesetzte Wirtschaftszweckverbände gedacht. Das Reich sollte, gestützt auf diesen Fonds, im größten Stil als Auftraggeber des deutschen Wirtschaftslebens auftreten, wie es ja in der letzten Zeit des Krieges fast der einzige Auftraggeber der Wirtschaft gewesen war. Die Aufträge sollten sich auch auf solche Güter erstrecken, für die das Reich als solches keinen Bedarf hat, die aber als Ausfuhrgüter und zur Deckung des Privatbedarfs von Bedeutung sind. Das Reichswirtschaftsministerium würde sich von einem solchen Vorgehen des Reichs eine relativ leichte Überbrückung des Konjunkturrisikos, eine Stabilisierung des Preisniveaus, eine gemeinwirtschaftliche Beeinflussung der Lohnsätze und auch des Unternehmergewinnes versprochen haben. Dieses Vorgehen würde zweifellos den Zusammenschluß der Industrie zu paritätisch geleiteten Fachgruppen ungemein gefördert haben. Ohne die Anregung einer wirklich großzügigen, alle Gebiete der Wirtschaft belebenden Auftragserteilung bleiben die von der Arbeitsgemeinschaft der deutschen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbände Deutschlands geplanten rein beratenden Fachgruppen im Rückstand. Leider gelang es nicht, diesen Plan schon damals zu verwirklichen. Wäre dieser Vorschlag befolgt worden, so würden wir wahrscheinlich gleich imstande gewesen sein, die notwendige Lebensmitteleinfuhr durch Ausfuhrgüter zu bezahlen. Abgesehen von der Schwierigkeit der Mittelbeschaffung, war die Erkenntnis von der Notwendigkeit für die schleunige Durchführung eines großzügigen und einheitlichen Wirtschaftsprogramms damals noch nicht vorhanden.
Falls Deutschland sich nicht zu einer klaren und völlig einheitlichen Wirtschaftspolitik entschließt, ist die Gefahr einer völligen Vernichtung oder Versklavung der deutschen Wirtschaft unabweislich. Dann würde es keinen anderen Ausweg mehr geben, als den, daß ein großer Teil der deutschen Bevölkerung auswandert oder im unausbleiblichen Kampf Aller gegen Alle zu Grunde geht. Bei der völligen Unklarheit und – wenn auch nicht gewollten – Vieldeutigkeit, welche die Summe der wirtschaftspolitisch tätigen Regierungsstellen in Fragen der Wirtschaftspolitik zur Schau trägt, bei dem Fehlen einer klaren und unzweideutigen Wirtschaftspolitik der Reichsregierung sowohl wie des Parlaments, darf man sich nicht wundern, wenn überall in Deutschland Wünsche, Forderungen, Spekulationen und Befürchtungen wild durcheinander gehen. Das vernünftigste Volk wird töricht, wenn es nicht geführt wird. Wir brauchen ein festes und klares Wirtschaftsprogramm, damit dem ungestümen Drängen eine Richtung gegeben wird, damit jeder sich auf das einrichten kann, was die nächste Zukunft bringen soll. In der Wirtschaftspolitik gibt es keinen Kompromiß. Man muß sich endlich mit beiden Füßen und fest auf den Boden der Gemeinwirtschaft stellen.
Aus dem Entschluß, taktisch so vorzugehen, wie es in dieser Denkschrift[280] vorgeschlagen wird, ergibt sich die Notwendigkeit, auch innerhalb der sozialistisch gesonnenen Kreise den Grundsätzen des modernen Sozialismus erst einmal eine neue programmatische Gestalt zu verschaffen. Ein gut Teil der heutigen Massenunruhen und der allgemeinen Zugänglichkeit für Schlagworte beruht auf der Vieldeutigkeit der Worte: „Sozialismus“, „Sozialisierung“ usw. Die Sozialisten müssen klar diejenige eindeutige Definition aussprechen, auf Grund deren sie verantwortlich handeln können.
Das Reichswirtschaftsministerium hat sich absichtlich bemüht, die von ihm verfochtene Art Sozialismus unter dem noch nicht abgegriffenen Ausdruck „Gemeinwirtschaft“ zu betreiben. Es versteht darunter die zu Gunsten der Volksgemeinschaft planmäßig betriebene und gesellschaftlich kontrollierte Volkswirtschaft. Es unterläßt dagegen mit vollem Bewußtsein eine vorherige starre Festlegung der Organisationsschemata und der Kontrollmittel, und zwar deswegen, weil schlechterdings kein Organisationsschema und keine Kontrollform allgemein brauchbar ist. Man kann zwar Zwecke, nicht aber Mittel zum Zwecke dogmatisch vereinbaren.
Schon bei den Zwecken schuldet eine sozialistische Regierung dem Volk das offene Geständnis, daß sich die materielle Lage des Deutschen bis auf weiteres durchschnittlich verschlechtern wird. Es muß klar gesagt werden, daß es nicht genügt, die ehemaligen wirtschaftlichen Machthaber anzuklagen, weil sie die Massen einstmals ausgebeutet und nun auch noch um den Genuß des Erbes betrogen hätten; es genügt auch nicht die Betonung, daß materielle Güter leider nicht erhältlich seien. Sondern es bedarf des unverblümten Bekenntnisses und Aufrufes zur sozialistischen Idee, zur ideellen Forderung einer höheren wirtschaftlichen Gerechtigkeit selbst um den Preis einer geringeren materiellen Befriedigung. Das neuerdings erschreckend profitlich gerichtete Streben der deutschen Arbeiterschaft zeigt von der einen Seite, und die Zugkraft der verworrenen auswärtigen Ideen offenbart auf der anderen Seite, daß unser Sozialismus an ideeller Armut krankt. Daran sind unsere sozialistischen Parteien mitschuldig. […]
Im Rahmen der heutigen politischen Konstellationen ist es vielmehr Sache auch einer sozialistischen deutschen Regierung, das wirtschaftliche Selbstbestimmungsrecht der Nation zu verfechten, wobei als Nation die Gesamtheit des deutschen Volkes zu gelten hat. Und sofern und solange die werktätige Bevölkerung dieser Nation sich als eine Einheit auf ihrem engen und ärmlichen Boden erhalten will, muß sie sich und muß man ihr stündlich vergegenwärtigen, daß sie mit der Anwendung der anarchistischen und individualistischen Prinzipien des Bolschewismus nicht nur angemaßte Vorrechte einer Oberschicht, sondern das Lebensrecht vieler Klassengenossen antasten, ja deren Lebensmöglichkeit aufheben würde. Unbeschadet dessen, daß der deutsche Sozialismus vom russischen Bolschewismus die Abneigung gegen den Selbstzweck gewordenen, über Gebühr betriebsamen Industrialismus kapitalistischer Observanz übernehmen mag, muß sich der deutsche Sozialismus der an sich zweifellos widernatürlichen Treibhauskultur jeder industriellen Arbeitsweise bedienen, um der Gesamtheit der Volksgenossen die Lebensmöglichkeit zu erhalten. Industrielle Arbeitsweise aber bedingt – und das unterscheidet den deutschen[281] Sozialismus vom russischen Bolschewismus – Anerkenntnis von Grundpflichten neben Grundrechten, von sozialistischer Organisation statt individualistischer Desorganisation, kurz von straffer Arbeitsordnung, die ein größtenteils aus Bauern, Handwerkern und Händlern bestehendes Volk allenfalls, niemals aber ein größtenteils industriell tätiges Volk entbehren kann.
Die deutschen sozialistischen Parteien verraten manchmal einen Hang ins Kleinbürgerliche und fühlen sich in dieser Hinsicht der bürgerlichen Demokratie augenscheinlich verwandt, indem sie nämlich den Freiheitsbegriff ohne zureichende Einschränkung auf das Wirtschaftsleben übertragen. Innerhalb unserer überwiegend industriellen Wirtschaft dem Individuum Ungebundenheit zuerkennen, heißt aber in die Denkweise des Manchestertums zurückverfallen. Es erklärt sich vielleicht aus der Abneigung gegen den mit Recht unbeliebten Bürokratismus und Militarismus unserer Kriegswirtschaft, daß das Geschrei nach „freiem Spiel der Kräfte“ sogar von Angehörigen der Arbeiterklasse erhoben wird, obschon die sogenannte Zwangswirtschaft letztens nur noch ihnen zuliebe betrieben wird, und obschon – vergleiche die Eierwirtschaft – schlagende Beispiele für die Leistungen des sogenannten freien Handels vorliegen. Eine sozialistische Regierung darf nicht gleichgültig zusehen, daß wegen einiger Auswüchse die öffentliche Meinung durch interessierte Vorurteile gegen eine gebundene Planwirtschaft vergiftet wird; sie mag die Planwirtschaft verbessern, sie mag den alten Bürokratismus auffrischen, sie mag in Form der Selbstverwaltung die Verantwortung dem wirtschaftenden Volk selbst übertragen, aber sie muß sich zur gebundenen Planwirtschaft, d. h. zu den höchst unpopulären Begriffen Pflicht und Zwang bekennen.
Worin eine sozialistische Regierung von ihren Vorgängerinnen abzuweichen hat, das ist gerade die organisatorische Durchdringung des Wirtschaftskörpers mit Verantwortung gegenüber einem der Volkswohlfahrt dienendem Wirtschaftsplan, und zwar bedeutet dieses Abweichen etwas Grundsätzliches, denn ein Plan mit Lücken gleicht einem Leitungsrohr mit Löchern. Das alte System ist wegen seiner Lückenhaftigkeit und Ungerechtigkeit und nicht etwa wegen systematischer Planlosigkeit zusammengebrochen. Der imperialistische Kapitalismus war wahrhaftig nicht planlos, aber er kümmerte sich um die Volkswohlfahrt nur im Sinne der Beschwichtigung und um den ökonomischen Ertrag nur im Sinne des kapitalistischen Profits. An diesen Denkfehlern wird nichts geändert, wenn man an die Stelle der Privaten den Staat als Kapitalisten setzt, im übrigen aber alles beim alten läßt. Das neue System wird selbstverständlich ebenso scheitern wie das alte System, wenn es nicht beispielsweise seine Außenhandelspolitik planmäßig davor bewahrte, wiederum zu einem Kartenhaus zu entarten, das über Nacht umgeblasen werden könnte. Die Planwirtschaft ist nicht nur ein aus fiskalischen Nöten entspringendes und zur Milderung sozialer Härten erfundenes Problem, sondern das Grundprinzip jeder sozialistischen – übrigens auch der bolschewistischen – Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik. Der Bolschewismus kann sich dort, wo er hingehört, den Luxus leisten, den Plan gleichsam nur als eine einmalige Konstruktion aufzustellen und danach sich selbst zu überlassen. Der deutsche Sozialismus bedarf wahrscheinlich einer immerwährenden Umkonstruktion seines Planes und äußert sich deswegen in[282] immerwährend fühlbaren Rücksichten des Individuums gegen die Gemeinschaft. Der deutsche Sozialismus hat sich so frühzeitig und so ehrlich wie möglich in seiner ganzen Härte zu offenbaren und vor nichts so sehr zu hüten, wie vor dem Anschein, als ob er ein weichliches Schlaraffien hervorbringen könne.
Es muß gelingen, auch die Mittel zu vereinbaren, mit denen man diesen Sozialismus durchführen will. Wie auch immer die verschiedenen in der Diskussion auftretenden Mittel heißen, allen gemeinsam ist die Absicht, die gesellschaftliche Kontrolle der Wirtschaft zu sichern. Dabei darf von vornherein klargestellt werden, daß kein Volk – außer nach völligem Abschluß von den anderen Völkern oder nach Übereinkunft mit allen Völkern, auf deren wirtschaftlichen Verkehr es angewiesen ist – den Leihzins und das Leihkapital abschaffen kann. (Selbst das Majoritätsgutachten der Sozialisierungskommission über den Kohlenbergbau verwandelt lediglich die vom privaten Unternehmen ausgegebene Aktie in eine festverzinsliche vom Staat ausgegebene Obligation, schließt also weder das private Eigentum noch die Verzinslichkeit von Leihkapital aus6.) Eine sozialistische Regierung muß alles vermeiden, was in dem Gehirn der breiten Massen falsche oder auch nur unklare Vorstellungen vom Wesen des von ihr vertretenen Sozialismus zu erwecken geeignet ist. So wie die Verhältnisse in Deutschland heute liegen, kann der Zinsgenuß kontrolliert, verkleinert, besteuert, aber nicht beseitigt werden: das dürften selbst die überzeugten Kommunisten zugestehen.
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In den Debatten der Sozialisierungskommission zur Frage der gesetzlichen Regelung der Brennstoffwirtschaft hatten sich zwei Parteien gebildet, die über Maß und Form der Sozialisierung der Kohlenwirtschaft kein einheitliches Votum erzielen konnten. Daher wurden ein Mehrheits- und ein Minderheitsvorschlag abgegeben; der Passus im Mehrheitsvorschlag, auf den sich der Text der Wirtschaftsdenkschrift bezieht, lautete: „Die Enteignung des staatlichen und privaten Kapitals, das in den Bergwerken und Betrieben steckt, wird vollständig durchgeführt. Als Entschädigungsgrundlage dient nur der Ertrag des Kapitals; nicht der ganze Reinertrag wird als Kapitalzins betrachtet. Auf Verkehrswert und Erwerbungskosten wird Rücksicht genommen.
Die Auszahlung der festgesetzten Entschädigungen erfolgt durch Ausgabe festverzinslicher konvertierbarer Schuldverschreibungen der D[eutschen] K[ohlen-] G[emeinschaft].“ (Beide Vorschläge als Anlage A zum mündlichen Bericht des Reichshaushaltsausschusses über den GesEntw. über die Regelung der Kohlenwirtschaft, in: NatVers-Drucks. Bd. 335, Nr. 133).
Eine sozialistische Regierung darf gegenüber den verschwommenen Begriffsunterstellungen unter Worten wie „Sozialisierung“ oder „Vollsozialisierung“ nicht länger eine unverständlich erscheinende Passivität zeigen. Wer die Debatte über diese Worte seit einigen Monaten verfolgt, gelangt zu dem Eindruck, daß sich durchaus nicht spontan, sondern ganz allmählich, und zwar in Ermangelung eines offiziellen programmatischen Leitfadens, die Gleichstellung von „Sozialisierung“ mit „Enteignung“ vollzogen hat. Daß diese Gleichstellung barer Unsinn ist, bedarf kaum eines Beweises: „Vollsozialisiert“ man beispielsweise einen einzelnen Gewerbezweig derart, daß der Fiskus – oder, wie die Syndikalisten wünschen, die Arbeiterschaft des Gewerbezweiges – in die Eigentümerrechte eintritt und danach (wie man ja, um die Wirtschaftlichkeit der neuen Betriebsform nachzuweisen, immer wieder hervorhebt) möglichst viel „herauswirtschaftet“, so geschieht nichts weiter, als daß der Fiskus bzw. die beteiligte[283] Arbeiterschaft auf Kosten der Gesamtheit denselben Profit machen, wie ehedem das beteiligte Unternehmertum. Und umgekehrt: Unterläßt man diese Art von „Vollsozialisierung“, etwa weil man um der volkswirtschaftlichen Folgen willen die Schwerfälligkeit der fiskalischen Betriebsleitung oder die Ungeübtheit der beteiligten Arbeiterschaft fürchtet, so schließt das keineswegs den Verzicht auf Unterdrückung jedes unberechtigten Profits in sich, da sich ja Einsicht und Einfluß auf die Preisbildung und Gewinnverteilung auch anders als durch Eigentumsübertragung erreichen läßt.
Zweifellos hat das nunmehr fast halbjährige Schweigen der Reichsregierung einen Zustand geschaffen, in dem es der radikalen Agitation nicht schwer fällt, erfolgreich mit Vokabeln zu kämpfen. Und es klingt verführerisch zu sagen, die Regierung solle sich deshalb jetzt selbst der Schlagworte bemächtigen, und mit ihrer Hilfe der bedrohlichen Entwicklung voraneilen, um danach gemäßigten Schrittes an der Spitze zu bleiben. Das Reichswirtschaftsministerium kann diese „rein politische“ Denkweise nicht billigen, sondern vertritt die Auffassung, daß der Sozialismus auf Jahrzehnte hinaus diskreditiert wäre, wenn er sich durch unsachliche Motive von der Bahn des sachlich Notwendigen abdrängen ließe. Sozialismus ist eine nur bedingt politische, fachliche Totalaufgabe, die man durch partielle „Vollsozialisierungen“ vielleicht nicht immer schädigt, aber meistens verdunkelt und keinesfalls löst.
Nach gründlicher Prüfung der Einzelheiten bevorzugt das Reichswirtschaftsministerium im allgemeinen das für die Kohlen- und Kaliwirtschaft bereits benutzte Mittel der gemeinwirtschaftlichen Selbstverwaltung unter Reichsaufsicht7. Gegen gewisse Reichsmonopole, zumal auf dem Gebiete des Handels, erhebt es keine Einwände; der Fiskus wird sich jedoch dann hüten müssen, daß er, wie es zumal auf einigen Gebieten der Produktion (Tabak, Zement usw.), infolge von Monopolisierung geschehen könnte, beim Eintritt in das Monopol ein allzu schlechtes Geschäft macht; er darf nicht vergessen, daß er einen zur Zeit teuren Realwert mit einem heute spottbilligen, späterhin teuer einzulösenden Nominalwert (Banknote oder Schuldschein) einkauft; die schlechte Finanzlage des Reichs im Verein mit dem schlechten Kursstand der Mark bildet ein zusätzliches Hindernis gegen „Vollsozialisierungen“. Schließlich hält es das Reichswirtschaftsministerium für durchaus denkbar und wünschenswert, das Reich mit Hilfe der Vermögensabgabe in den Besitz von Produktionsmitteln eindringen und sie gemischtwirtschaftlich betreiben zu lassen; doch hat daneben ein „Reichsfonds“ die schaffende Arbeit zu beleben. Der Fiskus muß als gemeinwirtschaftlicher Bankhalter vorerst die Produktivität fördern und darf erst später von ihr nutznießen.