Text
[421] Nr. 101
Der Preußische Ministerpräsident an den Reichsministerpräsidenten. 4. Juni 1919
[Betrifft: Preußischer Einspruch gegen den Verfassungsentwurf]
Der Entwurf der Reichsverfassung nach den Beschlüssen des 8. Ausschusses enthält in Art. 15 und 21 Bestimmungen, die für Preußen unannehmbar sind.
Was zunächst den Art. 15 anlangt, so ist darin vorgesehen, daß die Neubildung von Ländern oder die Änderung ihres Gebiets durch Vereinigung oder Abtrennung von Gebieten durch Reichsgesetz erfolgen kann, wenn sie durch den Willen der Bevölkerung gefordert wird oder ein überwiegendes Allgemeininteresse sie erheischt1. Es soll mithin künftig unter diesen Voraussetzungen ein einfaches Reichsgesetz genügen, um Territorialveränderungen gleichviel von welcher Bedeutung zu sanktionieren. Eine derartige Vorschrift würde unseres Dafürhaltens nicht mit den rechtlichen Bürgschaften umgeben sein, die wir vom Standpunkte unserer Verpflichtung, für die Wahrung des preußischen Territorialbestandes Sorge zu tragen, glauben fordern zu müssen. Es erscheint uns vielmehr unerläßlich, derartige in das ganze Wesen des Staates eingreifende, unter Umständen die Grundbedingungen seiner Existenz berührende Änderungen nur in den erschwerten Formen der Gesetzgebung zuzulassen, die für Verfassungsänderungen vorgeschrieben sind2.
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Nach dem nach 1. Lesung im Verfassungsausschuß ausgearbeiteten Verfassungsentw., der am 24.5.1919 fertiggestellt war, lautete Art. 15 Abs. 2: „Die Neubildung von Ländern oder die Änderung ihres Gebiets durch Vereinigung oder Abtrennung von Gebieten kann durch Reichsgesetz erfolgen, wenn sie durch den Willen der Bevölkerung gefordert wird oder ein überwiegendes Allgemeininteresse sie erheischt.“ (R 43 I/1863, S. 433-457, hier: S. 437).
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Im endgültigen Verfassungsentw. des Verfassungsausschusses hieß es entsprechend dem pr. Einspruch in Art. 18 Abs. 2: „Die Neubildung von Ländern oder die Änderung ihres Gebiets durch Vereinigung oder Abtrennung von Gebieten setzt die Zustimmung der daran unmittelbar beteiligten Länder voraus und bedarf der Bestätigung durch Reichsgesetz. Stimmen die beteiligten Länder nicht zu, so kann eine solche Neubildung oder Gebietsänderung nur durch ein verfassungsänderndes Reichsgesetz erfolgen, wenn sie durch den Willen der Bevölkerung gefordert wird oder ein überwiegendes Allgemeininteresse sie erheischt.“ (NatVers-Drucks. Bd. 336, Nr. 391, S. 3). Diese Bestimmungen wurden umformuliert, aber sinngemäß unverändert in Art. 18 Abs. 1 und 2 WRV aufgenommen.
Die Bestimmung in Art. 21, wonach die Hälfte der preußischen Stimmen im Reichsrat nach Maßgabe eines Landesgesetzes von den preußischen Provinzialverwaltungen bestellt werden soll3, bedeutet schon an sich ein Aus-[422] nahmegesetz gegen Preußen. Sie würde aber allenfalls erträglich sein, wenn vermieden werden könnte, daß durch die grundsätzliche Ungebundenheit der Stimmabgabe im Endergebnis ein Zerfall der preußischen Stimmen, ein „Totstimmen“ Preußens einträte. Das ist aber nur dann möglich, wenn vorgesehen würde, daß die Stimmen jedes Landes, also auch Preußens – hier trotz der Beteiligung der Provinzialvertreter – nur einheitlich abgegeben werden dürfen. Andernfalls könnte auch von einer Verantwortlichkeit der Regierung für das Ergebnis der Abstimmung gegenüber der Landesvertretung keine Rede sein4.
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Art. 21 des Verfassungsentw. des Verfassungsausschusses nach der 1. Lesung lautete: „Die Länder werden im Reichsrat durch Mitglieder ihrer Regierungen vertreten. Jedoch wird die Hälfte der preußischen Stimmen nach Maßgabe eines Landesgesetzes von den preußischen Provinzialverwaltungen bestellt. Die Länder sind berechtigt, so viele Vertreter in den Reichsrat zu entsenden, wie sie Stimmen führen. Die Mitglieder des Reichsrats sind an Weisungen nicht gebunden.“ (R 43 I/1863, S. 433-457, hier: S. 439).
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Die pr. Forderung, nach der die Stimmen eines Gliedstaates nur einheitlich abgegeben werden durften, entstammte Art. 6 Abs. 2 der alten RV; der Verfassungsausschuß nahm diese Bestimmung in seinen endgültigen Verfassungsentw. nicht auf; Art. 64 des endgültigen Verfassungsentw. des Ausschusses lautete wie Art. 21 des ersten Entwurfs (s. Anm. 3); lediglich der letzte Satz war gestrichen (NatVers-Drucks. Bd. 336, Nr. 391, S. 6). Die Bestimmungen gingen unverändert in Art. 63 WRV ein.
Sollte den vorgetragenen Bedenken nicht durch entsprechende Abänderung der Vorlage Rechnung getragen werden, so würden wir angesichts der unter Umständen für die ganze staatliche Entwicklung Preußens ausschlaggebenden Bedeutung der Angelegenheit zu unserem Bedauern genötigt sein, sowohl in der zweiten Lesung des Verfassungsausschusses wie im Plenum gegen den Entwurf Stellung zu nehmen.
Abschrift dieses Schreibens haben wir dem Herrn Reichsminister des Innern übersandt5.
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Ein Antwortschreiben ist in den Akten der Rkei nicht zu ermitteln. Zur Frage der Einhelligkeit der Stimmangabe der Ländervertreter im RR intervenierte der UStS im PrIMin. Freund während der 38. Sitzung des Verfassungsausschusses am 5.6.1919, wurde aber überstimmt (NatVers-Drucks. Bd. 336, Nr. 391, S. 445); in der NatVers nahmen pr. Vertreter zu dieser Frage nicht mehr Stellung.
Hirsch