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[417] Nr. 99
Kabinettssitzung vom 3. Juni 19191
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Über das Zustandekommen dieser Kabinettssitzung und der Sitzung vom 4.6.1919 (s. Dok. Nr. 100) schrieb Scheidemann: „Am 1. Juni nun, nach einer Kabinettssitzung, kam Erzberger in mein Zimmer im Reichskanzlerhaus, um mich zu bitten, eine besondere Sitzung abzuhalten, in der lediglich die Folgen der Annahme oder der Ablehnung des Friedensvertrages erörtert werden sollten. Ich war zunächst dagegen, weil wir doch abwarten sollten, wie die Schlinge, mit der das deutsche Volk – und zwar mit unserer Zustimmung! – erdrosselt werden sollte, endgültig aussehen werde. Erzberger aber bestand auf der Sitzung, so daß ich schließlich zusagte unter der von mir wohl überlegten Bedingung, Erzberger müsse ‚als Grundlage der Aussprache‘ ein Exposé vorlegen, in dem er die seines Erachtens eintretenden Folgen bei Annahme oder Ablehnung des Vertrages skizziere. Ich wollte es schwarz auf weiß von ihm selbst haben, wie er die Folgen einschätzte. Er ging auf meinen Vorschlag ein.“ (Scheidemann, Philipp: Der Zusammenbruch, Berlin 1921, S. 244).
Nachlaß Erzberger, Nr. 142
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Das Protokoll von der Hand Erzbergers enthält weder die Uhrzeit des Sitzungsbeginns noch eine Anwesenheitsliste.
Exz. Erzberger trägt die Hauptsätze der anliegenden Denkschrift3, die von ihm verfaßt wurde, vor und betont, daß die Erhaltung des Reiches der maßgebende Leitsatz der Politik des Kabinetts sein müsse; diesem ersten Erfordernis habe sich alles unterzuordnen, auch die Frage der Unterzeichnung unter Protest, der Gewalt weichend4.
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Die im Nachl. Erzberger, Nr. 14 vorhandene und in Anm. 1 von Scheidemann erwähnte Denkschrift Erzbergers, die Alternativprognosen für den Fall der Unterzeichnung wie für den Fall der Nichtunterzeichnung des Friedensvertrags enthält, ist aufzufinden in: Erzberger, Matthias: Erlebnisse im Weltkrieg, Stuttgart/Berlin 1920, S. 371 ff. ; Scheidemann, Philipp: Der Zusammenbruch, Berlin 1921, S. 244 ff. ; Ursachen und Folgen, Bd. III, Dok. Nr. 719, S. 360 ff.
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Seine Ausführungen vor dem RKab. gab Erzberger in seinen Erinnerungen u. a. folgendermaßen wieder: „Ich erklärte, daß ich nicht daran dächte, den Friedensvertrag, auch wenn er noch eine Reihe von Abänderungen nicht unwesentlicher Art enthalte, aus freien Stücken zu unterzeichnen; die Unterzeichnung könne nur immer unter dem Gesichtspunkt beurteilt werden, daß man der Gewalt weiche. An die Spitze der Erwägungen müsse man den Satz stellen, daß der Erhaltung der Einheit des Reichs sich alles andere unterzuordnen habe; wenn die jetzige Regierung nicht unterschreibe, so müsse man damit rechnen, daß sie schnellstens von einer Regierung abgelöst werde, die alles unterschreiben werde und müsse. […] Wenn man durch Gewalt zur Unterzeichnung gezwungen werde, so begehe man keine Unwahrhaftigkeit; wenn jemand von mir bei gefesselten Armen und unter Vorhalten des Revolvers auf die Brust die Unterzeichnung eines Stückes Papier fordere, wonach ich mich verpflichten müsse, in 48 Stunden auf den Mond zu klettern, so würde jeder denkende Mensch – um sein Leben zu retten – dies unterzeichnen, aber offen sagen, daß er diese Forderung nicht erfüllen könne; so sei es auch mit dem Friedensvertrag. […]“ (Erzberger, Matthias: Erlebnisse im Weltkrieg, Stuttgart/Berlin 1920, S. 374).
Exz. Noske schließt sich Erzberger im wesentlichen an, zumal die Haltung der Truppen immer unsicherer würde; die Agitation der Unabhängigen zeige bereits Erfolge.
Exz. Gothein befürchtet bei der Unterzeichnung den Bürgerkrieg im Osten und erklärt den Austritt der Demokraten aus dem Kabinett. Die friedlichen Strömungen in anderen Ländern helfen Deutschland.
Exz. Heine: Wir müssen unterzeichnen, da jede Kraft des Widerstandes[418] fehlt. Man kann auch leben mit einem Bein. Die Demokratie muß bei der Sache des deutschen Volkes bleiben.
Exz. Ministerpräsident Scheidemann: Ohne wesentliche Änderungen werde er persönlich nicht unterzeichnen. Auch ein zerrissenes Deutschland wird sich wieder zusammenfinden5.
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Scheidemann zitierte in seinen Erinnerungen aus seinen verlorengegangenen Tagebüchern einige Sätze seiner Ausführungen vor dem RKab., die seinen Angaben zufolge noch während der Kabinettssitzung niedergeschrieben wurden: „Ich will unserer Aussprache einen gewissen Wert nicht absprechen. Aber darüber wollen wir uns klar sein, Beschlüsse können wir erst fassen, wenn das Ultimatum vor uns liegt. Wir wollen uns sachlich entscheiden. Jeder nach bestem Gewissen im Interesse des Landes, jede persönliche Rücksicht muß selbstverständlich ausscheiden. Ich habe öffentlich erklärt, und andere von Ihnen auch, daß wir diesen Vertrag nicht unterzeichnen können. Ich habe in der Nationalversammlung am 12. Mai d. J. gesagt: ‚Wer kann als ehrlicher Mann, ich will gar nicht sagen als Deutscher, nur als ehrlicher vertragstreuer Mann, solche Bedingungen eingehen? Welche Hand müßte nicht verdorren, die sich und uns in diese Fesseln legt?‘ Meine feste Überzeugung ist die, daß die politische Zukunft nur denen gehören kann, die diesen Forderungen gegenüber ein klares Nein aussprechen. Ich kann mir denken, daß das Reich der Gewalt weichen und schließlich ja sagen muß. Aber das will ich bestimmt versichern: Ich werde es nicht sein, der es tut. Ich nehme den Standpunkt ein, daß wir der Entente ganz offen und ehrlich sagen: was ihr von uns verlangt, kann von uns nicht erfüllt werden. Wollt ihr das nicht einsehen, dann kommt und versucht es selbst in Berlin. Mutet uns nicht zu, euer Gerichtsvollzieher und Henkersknecht am eigenen Volke zu sein. Der Vertrag ist – selbst wenn größere Konzessionen gemacht werden – unerfüllbar. Deshalb bedeutet er für mich einen Fetzen Papier, auf den ich meinen Namen nicht schreibe. Was Erzberger über den Zerfall des Reiches gesagt hat, wenn wir den Vertrag nicht unterzeichnen, kann man mit derselben Berechtigung anführen für den Fall, daß wir unterzeichnen. Ich bitte dringend, keinerlei persönliche Rücksicht zu nehmen auf mich, weil ich in Ihrem Auftrage bestimmte Erklärungen abgegeben habe. Das Kabinett ist, soweit ich persönlich in Betracht komme, in seinen Entschließungen selbstverständlich vollkommen frei.“ (Scheidemann, Philipp: Der Zusammenbruch, Berlin 1921, S. 249 f.; vgl. Scheidemann, Philipp: Memoiren eines Sozialdemokraten, Bd. II, Dresden 1928, S. 371 f.).
Exz. Preuß: Das Unannehmbar hat den Weg vorgezeichnet; wir begehen sonst Selbstmord aus Todesfurcht.
Unterstaatssekretär von Langwerth: Wir können den Vertrag nicht erfüllen; dann kommt das Chaos sicher, aus dem nur sittliche und religiöse Kräfte herausführen, wenn wir uns selbst treu bleiben.
Exz. Bauer bleibt bei der Ablehnung. Katastrophe kommt auch bei der Unterzeichnung. Deutschland muß der Entente die Regierung über Deutschland anbieten; dann kommt unser Volk rasch wieder frei von dem Schanddokument6.
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Dazu Scheidemann in seiner Tagebucheintragung: „Sehr energische Töne gegen den Vertrag schlug Bauer an. An der Heftigkeit der Töne will ich mich nicht stoßen, die Hauptsache ist mir, daß er nicht für die Unterschrift stimmt.“ (Scheidemann, Philipp: Der Zusammenbruch, Berlin 1921, S. 250).
Exz. Giesberts: Regierung darf nicht Sklavenvogt des eigenen Volkes werden; sonst verliert unser Volk jede Hoffnung. Anerkennung der Schuld (Art. 231) und Auslieferung des Kaisers (Art. 228Gf) kann Deutschland nie unterzeichnen.
Exz. Ebert: Das Unannehmbar ist maßgebend; aber Einigkeit des Kabinetts unentbehrlich. Gewisse Vorbereitungen für den Fall des Einmarsches muß man[419] treffen. Von Amerika erwarte er keine Hilfe. Die Entente möge die Liquidation übernehmen7.
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Dazu Scheidemann: „Nach Giesberts […] sprach Ebert. Er ist sich treu geblieben. Er erklärt die Annahme für unmöglich. Als gründlicher Mann geht er auf einzelne besonders schmachvolle Bedingungen und solche, die platterdings unerfüllbar sind, näher ein. Er stehe zu dem, was er bereits mehrfach, auch schon öffentlich, gesagt habe. Bravo, Fritz! Du bleibst fest.“ Scheidemann, Philipp: Der Zusammenbruch, Berlin 1921, S. 250).
David: Das Unannehmbar war nur ein taktischer Beschluß, um viel zu erreichen. Nichtunterzeichnung ist keine Abwendung des Übels, sondern bringt das Chaos sicher. Die Entente übernimmt die Zwangsverwaltung Deutschlands nicht.
Gesandter Nadolny: Die Zulassung der Abstimmung ist keine wesentliche Änderung.
Landsberg: Das Unannehmbar bindet; ein neuer Beschluß auf unannehmbar ist geboten. Die Unterzeichnung bringt auch das Chaos.