1.225.3 (mu22p): 3. Plan einer Reichs- und Staatshilfe für die bedrängten Ostgebiete.

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3. Plan einer Reichs- und Staatshilfe für die bedrängten Ostgebiete.

Der Reichsminister des Innern trug den Inhalt der Vorlage vor5.

5

Der Plan einer Reichs- und Staatshilfe für die wirtschaftlich und kulturell bedrängten Ostgebiete war auf 10 Jahre berechnet und sollte die allgemeinen Linien zukünftiger Unterstützung darlegen. Nach den Angaben dieser Denkschrift waren zu betreuen: ganz Ostpreußen, die Kreise Lauenburg, Bütow, Stolp und Rummelsburg im Regierungsbezirk Köslin, die Kreise Züllichau, Schwiebus, Friedeberg, Landsberg und Arnswalde in der Provinz Brandenburg, die gesamte Provinz Grenzmark Posen-Westpreußen, die Kreise Guhrau, Militsch, Namslau, Gr. Wartenberg, Glogau, Freystadt, Grünberg in der Provinz Niederschlesien und die ganze Provinz Oberschlesien, im Norden die Landkreise Südtondern, Flensburg und der Stadtkreis Flensburg (14. 3.; R 43 I /1801 , Bl. 2-19, hier: Bl. 2-19).

Der Reichskanzler führte aus, daß grundsätzlich die Hilfsmaßnahmen auf die Ostgrenzen beschränkt bleiben müßten. Würde nach dem Vorschlage des Reichsministers des Innern auch die Nordmark mit einbezogen, so sei mit einem verstärkten Druck auch von Sachsen und Bayern auf Berücksichtigung zu rechnen. Das ganze Programm könnte dadurch in Frage gestellt werden.

[1585] In ähnlichem Sinne sprach sich der Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft aus.

Der Reichsminister des Innern erklärte sich damit einverstanden, daß die Unterstützung Schleswigs aus dem Programm herausgelassen wird, nachdem auch der Reichsverkehrsminister sich dafür ausgesprochen hatte, das Programm soviel wie möglich örtlich und finanziell einzuschränken.

Der Reichsarbeitsminister vermißte in dem Programm eine ausreichende Hilfe für die östliche Industrie und Arbeiterschaft. Auch sei nicht genügend zwischen landwirtschaftlichen Großbetrieben und bäuerlichen Betrieben unterschieden. Letztere müßten stärker unterstützt werden, als es bei Zugrundelegung der Fläche geschehen würde. Das Genossenschaftswesen, insbesondere die Absatzgenossenschaften und ihre Einrichtungen müßten stärker unterstützt werden. Bei der Umschuldung seien die Erfahrungen zunutze zu machen, die in Ostpreußen gesammelt worden seien6. Der Zustand der Häuser und Gehöfte sei in Ostpreußen außerordentlich schlecht. Da müßten erheblichere Mittel eingesetzt werden als in Aussicht genommen7. Förderung des Landarbeiterwohnungsbaus aus Mitteln der Erwerbslosenfürsorge sei nur zu einem geringen Teil möglich. In diesen Richtungen müsse das Programm erweitert werden.

6

Der RIM bemerkte in seiner Denkschrift, in allen Ostprovinzen herrsche Überschuldung und Unrentabilität der Landwirtschaft. Dem müsse mit einer Umschuldungsaktion begegnet werden. Für die Gebiete der inneren Korridorlinie seien ebensoviel Mittel notwendig wie für Ostpreußen, da bei geringerem Areal der Grundbesitz aber höherwertig sei (R 43 I /1801 , Bl. 2-19, hier: Bl. 2-19).

7

Für das Rechnungsjahr 1930 waren 12 Mio RM angesetzt worden (Denkschrift des RIM, 14. 3.; R 43 I /1801 , Bl. 2-19, hier: Bl. 2-19).

Der Reichsverkehrsminister wünschte, daß die Vorlage, die dem Reichstag zugehen werde, das Bahnbauprogramm erwähnen möge8. Es müsse von 1931 an einsetzen. Im Kabinett werde es alsbald vorgelegt werden.

8

Tatsächlich hatte der RIM in seiner Vorlage die Gewährung eines Kredits für die RB-Gesellschaft vorgeschlagen, damit in Ostpreußen neun Bahnlinien gebaut werden könnten, wie der RT am 17.3.28 gefordert habe (R 43 I /1801 , Bl. 2-19, hier: Bl. 2-19).

Gegen die Frachtenerstattung an Hinterpommern habe er Bedenken wegen der Erfahrungen, die in dieser Hinsicht in Ostpreußen gemacht worden seien9. Auch bestehe die Gefahr weitgehender Berufungen, beispielsweise aus dem Aachener Bezirk, wo wegen der Einstellung der Vorarbeiten für einen Kanal große Unruhe entstanden sei.

9

Der RIM hatte den pr. Vorschlag befürwortet, den vier Hinterpommerschen Kreisen auf drei Jahre ebenso wie Ostpreußen eine Frachterstattung zu gewähren (R 43 I /1801 , Bl. 2-19, hier: Bl. 2-19).

Das Programm reiche nicht aus, um den Osten tatsächlich zu halten. Nötig sei eine Siedlungspolitik großen Stiles und ein Gewerbeförderungsprogramm, damit der Landwirtschaft weitere Absatzgebiete geschaffen würden. Im Grunde leide sie an der weiten Entfernung der Konsumzentren. Ein solches Programm[1586] könne aber nicht aus laufenden Mitteln, sondern nur durch Anleihen und Zinsgarantien verwirklicht werden10.

10

Für die Gewerbeförderung hatte der RIM eine auf zehn Jahre zu verteilende Summe von 2,7 Mio RM vorgeschlagen (R 43 I /1801 , Bl. 2-19, hier: Bl. 2-19).

Statt der Frachtenerstattung sei es besser, daß der Reichsminister der Finanzen die Gebiete, die berücksichtigt werden sollten, zu Notstandsgebieten erkläre, dadurch würden sie einfacher und wirksamer unterstützt werden. Auch die Reichsbahn werde sich weiteren Frachtenermäßigungen entschieden widersetzen.

Staatssekretär Dr. Trendelenburg behielt sich die Stellungnahme zu den Vorschlägen wegen der Elektrizitätsversorgung vor11. Es sei zweckmäßig, die Hilfsmaßnahmen auf die Landwirtschaft und das Verkehrswesen zu konzentrieren. Wenn auch industrielle Betriebe subventioniert würden, wäre das Ergebnis der gesamten Aktion in Frage gestellt. Auch wäre dies ein bedenklicher Eingriff in die Konkurrenzverhältnisse der Industrie.

11

Da in dünnbesiedelten Gebieten die Arbeit an Überland- und Obernetzen zum Erliegen gekommen sei, die Elektrifizierung aber zu einer Lastensenkung in den Gemeinden führe, hatte der RIM hierfür eine Gesamtsumme von 25,8 Mio RM vorgeschlagen, von denen noch 7,2 Mio RM in den Haushalt 1930 eingestellt werden sollten (R 43 I /1801 , Bl. 2-19, hier: Bl. 2-19).

Maßnahmen für das mittelständische Gewerbe seien zweckmäßig. Es müsse insbesondere soweit gefördert werden, daß es den maschinellen und übrigen Betriebsapparat der Landwirtschaft in Ordnung halten könne.

Konzentration der Mittel auf wenige Zwecke und Gebiete sei erforderlich. Die Nordmark werde nötigenfalls bei anderer Gelegenheit unterstützt werden können.

Der Reichsminister des Innern erklärte, es sei notwendig, zwischen dem vorliegenden Plan und einem großen Gewerbeförderungsplan für die Ostgebiete zu unterscheiden. Der vorliegende Plan müsse Rücksicht nehmen auf die Stimmung des Parlaments und der Öffentlichkeit, die durch das Vorgehen rühriger Parlamentarier im Interesse der Grenzlande geschaffen worden sei. Würde dieser Stimmung nicht Rechnung getragen, so wäre eine außerordentlich starke Beunruhigung gerade auch in den gefährdeten Gebieten zu befürchten, der entgegengewirkt werden müsse.

Grundsätzlich hätte er es für besser gehalten, zunächst Mittel anzusammeln und dann später mit umfassenderen und wirksameren Maßnahmen systematisch einzugreifen.

Mit den verhältnismäßig geringen Mitteln, die im vorgelegten Programm vorgesehen seien, könnten alle Wünsche der Grenzbevölkerung nicht annähernd befriedigt werden12. Insbesondere sei es nicht möglich, den Anregungen des Reichsarbeitsministers wegen Unterstützung von Industrie und Handwerk in gewünschtem Maße zu entsprechen. Im übrigen sei die Lage so schwierig, daß die Mittel, die für die Kommnick A.-G. bereits vorgesehen seien, im letzten Moment hätten zurückgestellt werden müssen, weil erkennbar wurde, daß sie nutzlos verwandt worden wären. Ob die Union-Gießerei auf die Dauer rentabel[1587] arbeiten würde, sei fraglich13. In einem größeren Programm müßte das Genossenschaftswesen unterstützt werden. Es müsse auch geprüft werden, ob die Anpflanzung von Edelgemüse in Gewächshäusern im Osten durchgeführt werden könnte. Sie sei im Westen mit gutem Erfolge gefördert worden.

12

Die Gesamtkosten des Programms sollten sich in zehn Jahren auf 350 Mio RM belaufen (R 43 I /1801 , Bl. 2-19, hier: Bl. 2-19).

13

Die Union-Gießerei Königsberg und die Elbinger Kommnick-A.G. hatten schon längere Zeit wirtschaftliche Schwierigkeiten gehabt. Von der Union-Gießerei sollte die Schichau-Werft nur Reparatur- und Werftwerkstätten übernehmen, war in einer Chefbesprechung beschlossen worden (Vermerk Feßlers v. 23.12.29; R 43 I /1801 , gefunden in R 43 I /1800 , Bl. 142, hier: Bl. 142). Der „Montagmorgen“ meldete am 24. 2. den Konkurs der Gießerei. Zur Stützung der Kommnick-A.G. hatte das RKab. im Umlaufverfahren auf Antrag des RIM vom 8.1.30 einen Überbrückungskredit von 1 Mio RM gewährt (R 43 I /1801 , gefunden in R 43 I /1800 , Bl. 227, 145-147, hier: Bl. 227, 145-147). Die Einstellung der Arbeiten und die Entlassung der Arbeiter wurde von der Stadt Elbing dem RPräs. am 4.4.30 mitgeteilt (R 43 I /1801 , Bl. 83-87, hier: Bl. 83-87).

Auf der Frachtenerstattung müsse er bestehen. Die geographische Grenze sei dadurch gefährdet, daß sich die polnische Wirtschaftsgrenze mehr nach dem Westen verschiebe. Die 4 Grenzkreise seien in schlimmerer Lage als selbst manche Kreise Ostpreußens.

Der Reichspostminister trat für die Vorlage ein. Sie würde im Osten eine gewisse Beruhigung schaffen, es bestehe aber die Gefahr, daß die anderen Grenzgebiete verstimmt würden. In Bayern dringe das Tschechentum vor. Die Grenzstriche seien vom Wirtschaftsverkehr nach Böhmen abgeschnitten. Es müsse ihnen die Hoffnung gelassen werden, daß sie später berücksichtigt würden, damit der Gedanke ungleichmäßiger Behandlung nicht aufkommen könne.

Der Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft sprach sich gegen die Hereinnahme anderer Grenzgebiete in das Programm aus. Auch Baden würde sonst Ansprüche stellen. In Ostpreußen habe die Lastensenkung durch Wegfall der Rentenbankgrundschuldzinsen und Bereitstellung des gleichen Betrages für andere öffentliche Lasten günstig gewirkt. Auch die Frachtensenkung habe sich als nützlich erwiesen. Sie werden den 4 gefährdeten Grenzkreisen ebenfalls zugute kommen müssen. Die geplanten Verbesserungen der Verkehrsverhältnisse würden Arbeit und Anregung bringen. Bei dem Plan für die Elektrifizierung sei zu berücksichtigen, daß der Strom nicht zu teuer werde, weil industrielle und gewerbliche Abnehmer kaum in Frage kämen. Eine Senkung der Zinssätze würde sich gerade im Osten günstig auswirken. Das dortige Kreditgenossenschaftswesen sei in sehr schwieriger Lage und halte deswegen den Zinsfuß hoch. Dem Genossenschaftswesen allgemein fehle es an tüchtigen und selbstlosen Mitarbeitern. Deswegen habe er Bedenken gegen seine Unterstützung.

Die Umschuldung habe sich in Ostpreußen hauptsächlich zu Gunsten der Groß-Grundbesitzer ausgewirkt. Sie werde jetzt anscheinend unter starker Förderung des Generallandschaftsdirektors von Hippel und der örtlichen Kredit-Organisationen dazu ausgenutzt, den Besitzern zu Lasten des Reiches Erleichterungen zu schaffen. Die Landschaft erkläre die ersten Hypotheken nicht für sicher. Sie führe die Zwangsversteigerung durch. Die örtlichen Kreditinstitute gäben dem Besitzer die erforderlichen Barmittel, daß er das Gut für einen nahen Verwandten erstehen könne. Die Umschuldungsmittel fielen dadurch aus. Erst der Staatskommissar habe durchgedrückt, daß die bäuerlichen Betriebe unterstützt würden. Wegen ihrer Zahl und der kleinen in Frage kommenden Summen[1588] sei das schwierig. Die noch vorhandenen Mittel reichten nicht aus, den vorliegenden starken Bedarf zu befriedigen. Es müsse mehr auf die Person des Schuldners als auf die dinglichen Sicherheiten gesehen werden. Diese Erfahrungen müßten bei den anderen Ostgebieten verwertet werden.

Im übrigen könne im Osten der Großgrundbesitz nicht rasch beseitigt werden. Erst in Jahrzehnten würde er allmählich zurückgehen. Die Lebensbedingungen der Landwirtschaft müßten im Osten so saniert werden, daß die Ansiedler bestehen könnten, die wegen ihrer knappen Mittel und der Ungunst des Klimas und des Bodens nicht in der Lage seien, sonderlich rationell zu wirtschaften. In den Siedlungsgebieten müßten Beispielswirtschaften gefördert werden, um die Bauern über die Möglichkeiten einer zweckmäßigen Umstellung ihrer Betriebe zu belehren.

Ministerialdirektor Miller erklärte für das Reichsministerium für die besetzten Gebiete, daß dieses nicht endgültige Stellung nehmen könne. Es habe abgelehnt, für den Westen langfristige Bindungen in Aussicht zu stellen und würde dadurch bei den Verhandlungen in dem zuständigen Reichstagsausschuß in Schwierigkeiten kommen, daß nun für den Osten ein Programm auf 10 Jahre vorgelegt würde.

Der Reichsminister der Finanzen sprach sich grundsätzlich für die Denkschrift aus. Die Kulturaufgaben hielt er für Sache der Länder, die durch Abstriche frei werdenden Mittel könnten andere Verwendung finden14. Vielleicht komme in Frage, die Industriebelastung, die in den Ostprovinzen gezahlt werde, für das örtliche Gewerbe und die Industrie zu verwenden.

14

Für Kulturaufgaben hatte der RIM in seiner Denkschrift Aufwendungen von 20 Mio RM in zehn Jahren vorgesehen (14. 3.; R 43 I /1801 , Bl. 2-19, hier: Bl. 2-19).

Ministerialdirektor Dammann gab eine eingehende Darstellung der Entstehungsgeschichte des Programms und erläuterte seine einzelnen Teile. Er wies auf die Gefahr hin, die sich für den Osten daraus ergebe, daß Bankinstitute sich weigerten, Geld dort anzulegen.

Der Reichskanzler stellte nach eingehender Aussprache fest, daß das Kabinett grundsätzlich mit dem vorgelegten Programm einverstanden sei. Jede Änderung müsse aber vorbehalten werden. Mit Preußen und den zuständigen Ressorts sei über die Einzelheiten zu verhandeln. Schleswig solle in diesem Programm nicht berücksichtigt werden. Die Vorlage sei deswegen vertraulich zu behandeln15.

15

In einer Ressortbesprechung am 28. 3. konnte der REM mitteilen, daß die Durchführung der Ostpreußenhilfe Fortschritte gemacht habe. Für den Umschuldungsbetrag von 50 Mio RM seien nur noch 3,8 Mio RM an Hypotheken etc. aufzubringen. Der REM wandte sich aber gegen die Aufhebung der Stelle des Staatskommissars (Vermerk Feßlers vom 29.3.30; R 43 I /1857 , Bl. 244 f., hier: Bl. 244 f.). Unter Berufung auf das neue Ostprogramm zog MinPräs. Braun seine diesbezügliche Forderung zurück (a.a.O.).

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