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6. [Eisenbahnfrage]
Reichsminister Erzberger trägt die anliegenden Entwürfe für Artikel 90 und 92 der Verfassung (Übernahme der Eisenbahnen auf das Reich) vor. Die Entwürfe werden gebilligt, vom Reichsminister der Finanzen jedoch nur mit der ausdrücklichen Erklärung, daß rein politische Gründe die Überführung der Eisenbahnen trotz der großen finanziellen Belastung des Reichs dringend erwünscht erscheinen lassen.
Dieser Auffassung stimmt das Kabinett einstimmig zu13.
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Die dem RKab. vorgelegten Entwürfe entsprachen einer Absprache mit der pr. Reg. vom 18.3.1919 (s. Dok. Nr. 18, P. 6.). Art. 90 lautete in dem Erzbergerschen Entwurf: „Aufgabe des Reiches ist es, die dem allgemeinen Verkehr dienenden Eisenbahnen in sein Eigentum und seine Verwaltung zu übernehmen. – Die Übernahme der gesamten Staatseisenbahnen hat spätestens bis zum 1. April 1921 zu erfolgen. Soweit bis zum 1. Oktober 1920 eine Verständigung nicht herbeigeführt ist, wird die Entscheidung über die Bedingung der Übernahme durch Reichsgesetz mit der Maßnahme getroffen, daß die Höhe der Entschädigung durch ein Schiedsgericht festgesetzt wird, dessen Obmann nötigenfalls der Präsident des Reichsgerichts bestimmt. – Wenn das Reich Privateisenbahnen erwerben will, so stehen ihm die Ankaufsrechte der Länder zu.“ Der Wortlaut der Erzbergerschen Kabinettsvorlage für Art. 92 war: „Die Reichseisenbahnen bilden einen gesonderten Vermögensteil des Reichs und sind – ungeachtet der Eingliederung ihres Haushalts und ihrer Rechnung in den allgemeinen Haushalt und die allgemeine Rechnung des Reichs – als ein selbständiges wirtschaftliches Unternehmen zu verwalten, das seine Ausgaben einschließlich Verzinsung und Tilgung der Eisenbahnschuld selbst zu bestreiten und eine Eisenbahnrücklage anzusammeln hat. Die Höhe der Tilgung und der Rücklage sowie die Verwendungszwecke der Rücklage sind durch besonderes Gesetz zu regeln.“ (R 43 I/1348, S. 701; die Hervorhebung steht im Original). Die die Eisenbahnen betreffenden Verfassungsartikel wurden am 29. und 30. 4. im Verfassungsausschuß beraten (NatVers-Drucks., Bd. 336, Nr. 391, S. 313 ff. , 326 ff. ). Der bayer. Gesandte v. Preger erhob Einspruch gegen die dem ersten RegEntw. gegenüber verschärft formulierte Fassung des Art. 90 (vgl. Dok. Nr. 18, Anm. 6), die über die ursprünglich vorgesehene vertragliche Regelung hinaus eine Zwangslösung vorsah, wurde jedoch überstimmt; er erreichte lediglich eine etwas mildere Formulierung, jedoch keine sachliche Änderung. Resigniert erklärte er in einem Schreiben an das bayer. StMin. d. Äußeren vom 1.5.1919: „[…] Was die Staatseisenbahnen betrifft, so bin ich schon jetzt der Anschauung, daß zwei Erwägungen dafür sprechen, der Verreichlichung nicht mehr zu widerstreben: 1. die politische Erwägung, daß der Widerstand doch vergebens wäre und daß es besser ist, freiwillig eine Position zu räumen, die man doch nicht mehr halten kann, 2. die wirtschaftliche Erwägung, daß die Eisenbahn in den nächsten Jahren und vielleicht Jahrzehnten kein werbendes, sondern ein fressendes Unternehmen sein werde. […]“ (GehStA München, MA 103 245). Unwesentlich verändert wurden die beiden Art. in den Entwurf des Verfassungsausschusses übernommen (NatVers-Drucks., Bd. 336, Nr. 391, S. 19 f.). Nach der 2. Lesung des Verfassungsentw. in der NatVers wurden die Übergangsbestimmungen aus Art. 90 herausgelöst, die ursprünglich einem Schiedsgericht zugewiesene Aufgabe dem Staatsgerichtshof übertragen und als Art. 171 in die WRV übernommen.
[249] Die Mehrheitsparteien sollen veranlaßt werden, die Entwürfe von sich aus als Abänderungsvorschläge einzubringen14.
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Der Wortlaut der Änderungsvorschläge der RReg. zu den Art. 90 und 92 wurde als Antrag Nr. 193 von dem Vorsitzenden des Verfassungsausschusses, Conrad Haußmann (DDP), in den Verfassungsausschuß eingebracht (NatVers-Drucks., Bd. 336, Nr. 391, S. 316).