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Nr. 100
Kabinettssitzung vom 4. Juni 19191
Nachlaß Erzberger, Nr. 142
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Das Protokoll von der Hand Erzbergers enthält weder die Uhrzeit des Sitzungsbeginns noch eine Anwesenheitsliste.
Exz. Dernburg: Die Koalition soll erhalten bleiben. Eine Gefahr für dieselbe entsteht aber, wenn auf wirtschaftlichem Gebiet Experimente gemacht werden, die außerhalb des Weimarer Programms liegen, und in der Denkschrift des Reichswirtschaftsministeriums3 ihren Ausdruck finden. Der internationale Kapitalismus arbeitet gegen den deutschen Sozialismus. Süddeutschland fällt ab. Wenn infolge des Einmarsches Nord- und Süddeutschland getrennt werden, so wird das Kabinett gezwungen sein, auch kleine Änderungen bereits als wesentliche anzusehen. Auch ohne solche Änderungen kann man an die Unterzeichnung nicht denken.
Exz. Erzberger: Die bisherigen Aussprachen hätten ergeben, daß die Differenz nicht allzu groß sei. Den größten Teil des Weges könne man gemeinsam zurücklegen. Niemand bestreite die Richtigkeit der Auffassung, daß es notwendig sei, die Erhaltung der Einheit des Reiches an die Spitze zu stellen, und daß dieser Forderung sich alles unterzuordnen habe. Wenn die jetzige Regierung nicht unterschreibe, so sei sicher, daß sie von einer Regierung abgelöst werde, die unterschreiben werde. Man habe nun den Vorschlag gemacht, daß Deutschland der Entente vortragen soll, die Verwaltung von Deutschland selbst zu übernehmen. Trotz mancher Bedenken könne man dem Vorschlag zustimmen;[420] aber die Entente werde sich nicht darauf einlassen; sie werde nur wie bei einem Konkurs die guten und zuverlässigen Konten herausnehmen und den Schwamm liegen lassen, d. h. die Entente wird nicht mit Deutschland, sondern nur mit den einzelnen Staaten eine Einigung anstreben. Auf freundliche Strömungen im feindlichen Gebiet zu hoffen sei verfrüht. Diese würden erst nach Unterzeichnung des Friedens hervortreten. Wenn man durch Gewalt zur Unterzeichnung gezwungen werde, so begehe man keine Unwahrhaftigkeiten; man müsse nur offen sagen, daß man der Gewalt weiche. Auch das bisherige Unannehmbar stehe nicht hindernd im Wege; denn das Unannehmbar sei gesprochen bei Annahme der Bedingungen, sei nur taktisch ausgesprochen. Jetzt versuche man zu Änderungen zu gelangen; wenn das nicht gehe, könne man gezwungenerweise annehmen.
Exz. Heine stimmt Erzberger bei, denn der Friedensvertragsentwurf werde angenommen werden, wenn nicht von der Regierung, so von einer anderen Regierung. Eine neue würde den Vertrag dann annehmen.
Reinhardt: Der Wille zum Widerstand fehle. Menschen und Material sei genügend da. Allerdings sei ein Krieg aussichtslos. Man müsse einen Weg finden auf Nichtunterzeichnung.
Exz. Hirsch: Die Unterzeichnung wirke ebenso schlimm wie die Nichtunterzeichnung; in beiden Fällen würde das Reich auseinanderfallen. Die Nationalversammlung würde dann eine neue Regierung bilden.
Exz. David: Wer Nein sage, mache eine heroische Geste; wer Ja sage, werde mit Schmach überhäuft und als Feigling bezeichnet, aber das Ja sei heldenhafter als das Nein, und die Unannehmbarkeit wurde ausdrücklich beschlossen unter dem Vorbehalt, daß damit Entscheidung nicht getroffen werde. Bei Nichtunterzeichnung bleibe der Westen verloren, während der Osten wieder gewonnen werden könne. Wenn man glaube, daß bei der Nichtunterzeichnung der Bolschewismus komme und derselbe heilend auf die deutsche Volkskraft einwirke, so ist das ein Irrtum. Die heutige Regierung und auch die Personen müßten bleiben. Interfraktioneller Konferenz könne alles vorgelegt werden.
Exz. Wissell: Der Zusammenbruch im Innern sei sicher. Aus dem Volke müsse die Erhebung kommen. Die Mehrheit kann nicht unterzeichnen; sie muß darum zurücktreten. Eine neue Regierung müsse sich bilden, welche unterzeichne. Der Reichspräsident müsse bald Umschau nach den Persönlichkeiten halten.
Unterstaatssekretär Albert stimmt Hirsch zu.
Trotha: Durch die Unterzeichnung gewinne man keinen sicheren Boden. Der Gegner wird dann Henkersknecht.
Darauf schloß die Aussprache4.
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Den Erinnerungen Erzbergers zufolge endete die Aussprache „mit dem Resultat, daß nunmehr in den einzelnen Fraktionen der Mehrheitsparteien die Entscheidung zu treffen sei. Es hatten schon vorher und namentlich von da ab eingehende Beratungen über das Für und Wider der Unterzeichnung stattgefunden.“ Weiterhin finden sich in den Erinnerungen Erzbergers Hinweise auf die diesbezüglichen Debatten in der Zentrumsfraktion, s.: Erzberger, Matthias: Erlebnisse im Weltkrieg, Berlin/Stuttgart 1920, S. 375.