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[379] Nr. 87
Generalmajor v. Seeckt an den Reichsminister des Auswärtigen. Versailles, 26. Mai 1919
R 43 I/3, Bl. 139 f. Abschrift1
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Original in: PA, Dt. Friedensdelegation Versailles, Pol 1 a. Der Abschrift an den RMinPräs. fügte der RAM ein Schreiben vom 27.5.1919 bei, in dem er erklärte, „daß die dt. Friedensdelegation ein weiteres ersprießliches Zusammenarbeiten mit Herrn Gen. v. Seeckt im Hinblick auf den Inhalt seines Schreibens für ausgeschlossen hält und seine sofortige Ablösung als erforderlich erachtet.“ (R 43 I/3, Bl. 256).
[Betrifft: Nichtbeteiligung militärischer Stellen bei der Formulierung der deutschen militärischen Gegenvorschläge]
Euer Exzellenz!
Wie mir am 25.5.19 abends durch den Herrn Ministerialdirektor Simons mitgeteilt worden ist, hat die Friedensdelegation auf die Weisungen des Kabinetts für die Beantwortung der militärischen Friedensbedingungen der Entente hin Gegenvorschläge gemacht, welche ein weiteres Entgegenkommen den feindlichen Forderungen gegenüber enthielten und in dieser Form die Zustimmung des Kabinetts gefunden haben2.
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Siehe Dok. Nr. 80, P. 8; bereits in dem Sitzungsprotokoll der Friedensdelegation vom 11.5.1919 heißt es: „Auf Anregung des RM Landsberg wird erörtert, ob es sich empfiehlt, die auf die Abrüstung bezüglichen Friedensbedingungen aus taktischen Gründen zu akzeptieren. Schließlich wird beschlossen, der RReg. etwa folgende Fassung vorzuschlagen: Wir verzichten auf die allgemeine Wehrpflicht und nehmen die Beschränkung des Effektivbestandes [nach Art. 160 Abs. 2 der all. Friedensbedingungen 100 000 Mann] an; sind darüber hinaus sogar bereit, die uns angebotene Flotte noch stärker zu reduzieren, unter der Voraussetzung, daß die im Friedensvertrag festzusetzenden dt. Grenzen vom Völkerbund geschützt werden.“ (PA, Dt. Friedensdelegation Versailles, Pol 2a).
Ich habe die Ehre, hiermit ausdrücklich festzustellen, daß ich in meiner Eigenschaft als Vertreter der militärischen Instanzen bei der Friedensdelegation keine Gelegenheit gehabt habe, zu diesen Gegenvorschlägen der Delegation Stellung zu nehmen, und daß Euer Exzellenz es nicht für erforderlich gehalten haben, in irgendeiner Form oder auf irgendeinem Wege meinen Rat einzuholen und den anderen Herren Delegierten zur Kenntnis zu bringen. Ich bin somit in der Lage, aber auch verpflichtet, jede Verantwortung für die Stellungnahme der Delegation zu den militärischen Friedensbedingungen abzulehnen. Ich halte mich aber gleichfalls für verpflichtet, Euer Exzellenz und den andern Mitgliedern der Delegation auf diesem Wege meine abweichende Stellungnahme nachträglich zur Kenntnis zu bringen, um nicht mir selbst den Vorwurf zu machen, nicht alles versucht zu haben, um einen unheilvollen Entschluß zu bekämpfen3. Aus der Tatsache, daß Euer Exzellenz den Rat des[380] militärischen Sachverständigen in dieser militärischen Angelegenheit einzuholen nicht für notwendig erachtet haben, muß ich den Schluß ziehen, daß rein politische Erwägungen die Stellungnahme der Delegation bestimmt haben. Ich glaube nicht fehlzugehen, daß auch für den Beschluß des Kabinetts solche maßgebend gewesen sind. Militärische Fragen sind aber weder jetzt noch jemals von den Fragen der inneren und äußeren Politik zu trennen. Ich stelle ausdrücklich hiermit fest, daß nach meiner Überzeugung, die von allen urteilsfähigen deutschen Soldaten geteilt wird, eine Armee von 100 000 Mann mit ihrem beschränkten Offizierkorps nicht genügt, um die Deutschland auch in der Voraussetzung des Völkerbundes noch verbleibenden äußeren Aufgaben zu erfüllen, noch seiner inneren Politik den nötigen Rückhalt zu geben. In Verbindung mit der Aufgabe der allgemeinen Dienstpflicht macht sich Deutschland durch seine Zustimmung zu der geforderten Mindeststärke nach innen und außen wehrlos. Ich halte mich für verpflichtet und berechtigt, auszusprechen, daß Deutschland durch diese aus politischen Überlegungen des Tages entsprungene freiwillig übernommene Wehrlosmachung das letzte und höchste Gut, seine nationale Ehre opfert. Ein solcher Schritt muß und wird für die innere und äußere Zukunft unseres Vaterlandes die unheilvollsten Folgen haben. Die Hoffnung und die Berufung auf den Schutz des Völkerbundes kann hieran nichts ändern. Ebenso geringen Schutz bietet der Vorschlag, die die zur Aufrechterhaltung der inneren Ordnung z. Zt. notwendige Heeresstärke der Mitbestimmung unserer Feinde oder dem von diesen in der Mehrzahl gebildeten Völkerbund zu unterwerfen. Nicht wir selbst sollen danach bemessen, was wir zur Aufrechterhaltung der inneren Ordnung, zum Schutz der Regierung und zur Durchführung des Friedensschlusses an Truppen notwendig haben, sondern unsere Feinde. Sie werden nicht zögern, uns die Stärken vorzuschreiben, welche ihren Zwecken, nicht unserer Sicherheit entsprechen. So ist uns auch durch diese Abänderung der Delegation die Möglichkeit der Selbstbestimmung und Selbstverteidigung genommen.
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Darin wurde v. Seeckt von Groener unterstützt; in einem Fernschreiben vom 27.5.1919 an den RMinPräs. stellte sich Groener hinter das Vorgehen v. Seeckts und erklärte, die Durchführung des Beschlusses der Delegation und des RKab. werde zur Folge haben, „1. daß Dtl. nach außen vollkommen ohnmächtig, selbst den Übergriffen seiner kleinsten Nachbarn wäre; 2. daß eine Regierungsgewalt im Innern nicht mehr aufrechterhalten werden könnte.“ Selbst in Zeiten der Ruhe reiche ein 100 000-Mann-Heer nicht aus, um den Schutz nach innen und außen gleichzeitig zu übernehmen; im übrigen werde das Bekanntwerden des Regierungsbeschlusses „einen denkbar ungünstigen Eindruck auf die Freiwilligenverbände“ machen. Er vermute auch, daß gerade in der Frage der militärischen Stärke die Entente am ehesten zu Zugeständnissen bereit sei, eher noch als in territorialen Fragen, denen die militärischen untergeordnet würden. „Nebenbei möchte ich erwähnen, daß es für die militärischen Sachverständigen der Friedensdelegation, von sachlichen Gründen ganz abgesehen, im höchsten Maße verletzend wirken muß, wenn sie bei Behandlung wichtiger militärischer Fragen überhaupt nicht zu Rate gezogen werden.“ (BA-MA, Nachl. Groener, N 46/130). Am gleichen Tag telegrafierte Groener an den RMinPräs., er möge Gen. v. Seeckt anweisen, „auch den Grafen Rantzau über meine Auffassungen nicht im unklaren zu lassen. Dem Grafen Rantzau bitte ich noch von Gen. v. Seeckt sagen zu lassen, daß ich für die Entwicklung unserer inneren Lage die schwersten Sorgen habe und deshalb derartige Experimente nur als Verblendung und Wahnsinn betrachten könnte. Es käme dem vollkommenen Selbstmord des dt. Volkes gleich. Gen. v. Seeckt möchte in diesem Sinne auch auf die anderen Mitglieder der Delegation einwirken.“ (ebd.)
[381] Euer Exzellenz beehre ich mich davon in Kenntnis zu setzen, daß ich gleichzeitig Abschrift meines Schreibens an die übrigen Mitglieder der Friedensdelegation Versailles und den Herrn Ministerpräsidenten gelangen lasse.
gez. von Seeckt, Generalmajor4
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Auf das Schreiben des RAM vom 27.5.1919, in dem die Abberufung v. Seeckts gefordert wurde (s. Anm. 1), erwiderte der RMinPräs. in einem Telegramm an den RAM vom 4.6.1919: „[…] Das Kabinett hat volles Verständnis für die Gründe des Schreibens und erkennt an, daß der Wunsch der Friedensdelegation, falls es dabei sein Bewenden behält, zur Abberufung v. Seeckts führen muß. Andererseits würde das Kabinett es begrüßen, wenn eine Form gefunden werden könnte, weitere Zusammenarbeit zu ermöglichen und mindestens die Abberufung zu vermeiden. […] Obwohl das Kabinett seinen Beschluß nach wie vor für richtig hält, ist erregte Stellungnahme verdienter militärischer Sachverständiger wegen Nichtbefragung immerhin zu verstehen. […] Abberufung könnte innerpolitisch unerwünschte Folgeerscheinungen haben.“ (R 43 I/3, Bl. 258). Unter dem gleichen Datum sandte der RWeM ein Telegramm an v. Seeckt, in dem er ihn darum bat, seinerseits „eine Beilegung der Differenz anzustreben. Zur Sache bemerke ich, daß das Kabinett seine Stellungnahme nach wie vor aus politischen Gründen für die richtige und der Ehre des Volkes in der Gesamtheit der Gegenvorschläge am meisten gerecht werdende hält.“ (ebd.) GenMaj v. Seeckt blieb bei der Friedensdelegation; MinDir. Simons bemerkt in seinen „Aufzeichnungen zu den Friedensverhandlungen von Versailles im Jahre 1919“, S. 33: „Die Schwierigkeit eines Zusammenarbeitens wurde später dadurch vermieden, daß der General bei den überstürzten Verhandlungen in Weimar gar nicht herangezogen wurde.“ (PA, Nachl. Brockdorff-Rantzau, Az. 20).