Text
[5] Nr. 2
Aufzeichnung des Ministerialdirektors Simons über die Kabinettssitzung vom 16. Februar 1919. 26. Februar 1919
PA, Nachlaß Brockdorff-Rantzau, Az. 16
Am Sonntag, dem 16. Februar 1919, kurz nach 11 Uhr fand im Schloß zu Weimar eine Kabinettssitzung1 statt, in der der Reichsminister des Auswärtigen die Gründe auseinandersetzte, aus denen die Waffenstillstandsbedingungen der Entente2 nach seiner Ansicht abzulehnen seien3. Nach längerer Erörterung schlossen sich die anwesenden Reichsminister der Auffassung des Grafen Brockdorff-Rantzau an. Der Ministerpräsident formulierte den Beschluß etwa dahin, daß Deutschland sich nicht darauf einlassen könne, auf jede Aktion gegen die Polen in Preußen zu verzichten, so lange die Entente keine Gewähr für die Waffenruhe bei den Polen übernehme, und daß die Deutsche Regierung die Auslegung der bisher angeblich nicht erfüllten Waffenstillstandsbedingungen nicht ganz in die Hand der französischen Obersten Heeresleitung geben könne.
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Hinweise auf diese Sitzung sind in den Akten der Rkei nicht zu ermitteln.
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In einer Note über die Erneuerung des Waffenstillstandsabkommens, die der dt. Delegation während der ersten Sitzung der Waffenstillstandskommission am 14.2.1919 in Trier übergeben worden war, waren die neuen Waffenstillstandsbedingungen der Alliierten enthalten, die folgende Punkte umfaßten:
„1. Die Deutschen müssen unverzüglich alle Offensivbewegungen gegen die Polen in dem Gebiet von Posen oder in jedem anderen Gebiet aufgeben [es folgt die Angabe einer Demarkationslinie, die von dt. Truppen nicht überschritten werden darf].
2. Der durch die Abkommen vom 13.12.1918 und vom 16.1.1919 bis zum 17.2.1919 verlängerte Waffenstillstand vom 11.11.1918 wird von neuem für eine kurze unbefristete Zeitdauer verlängert, wobei die alliierten und assoziierten Mächte sich das Recht vorbehalten, mit einer Frist von drei Tagen zu kündigen.
3. Die Ausführung der Bestimmungen des Abkommens vom 11.11.1918 und der Zusatzabkommen vom 13.12.1918 und vom 16.1.1919, soweit dieselben derzeit noch unvollständig verwirklicht sind, wird fortgesetzt und in der Zeit der Verlängerung des Waffenstillstandes zu den von der Permanenten Waffenstillstandskommission nach den Weisungen des Oberkommandos der Alliierten festgesetzten Einzelbestimmungen zum Abschluß geführt werden.“ (Waffenstillstand, I, S. 204 ff. ).
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Die Ausführungen Brockdorff-Rantzaus waren von ihm schriftlich niedergelegt worden. Sie lauteten: „Nach dem Telegramm Erzbergers [Text des Telegramms in: PA, Nachl. Brockdorff-Rantzau, Az 16], das 2 Uhr 30 Min. nachts entziffert war, lehnt Foch Verlängerung der Frist ab. Exzellenz Erzberger hat dem Dolmetscheroffizier Laperche erklärt, die glatte Annahme der Bedingungen sei unmöglich. Über die Antwort Laperche’s teilt Exzellenz Erzberger nichts Näheres mit. Jedenfalls ist aber anzunehmen, daß Laperche den Standpunkt Erzbergers an Foch gemeldet hat.
Über die Auffassung der Reichsregierung kann bei den Alliierten also seit gestern Abend ein Zweifel nicht bestehen. Ich habe Herrn Erzberger gegen 3 Uhr Nachmittags gestern die Auffassung der Reichsregierung telephonisch dahin präzisiert, daß wir eine Demarkationslinie im preußischen Polen an sich nicht annehmen könnten, weil ein derartiges Zugeständnis den Verzicht auf unsere Souveränität bedeuten würde. Wir wären trotzdem bereit, um Blutvergießen zu vermeiden, entsprechend den Wünschen der Alliierten ein offensives Vorgehen gegen die Polen einzustellen und die gegenwärtige militärische Lage in Polen als Basis anzuerkennen, wenn die Polen von der Entente veranlaßt würden, weder neue Angriffe zu machen, noch vorzubereiten. Wir könnten aber nicht zulassen, daß durch die Festlegung der Demarkationslinie deutsches Gebiet (die Städte Bentschen und Birnbaum) den Polen ausgeliefert würde. Diese Städte seien in deutscher Hand und nicht nur ganz überwiegend deutsch, sondern für uns unentbehrlich für den geregelten Verkehr mit dem Osten.
Ich halte die Forderungen der Entente in ihrer jetzigen Form für unannehmbar. Sie bedeuten nicht nur einen Eingriff in unsere inneren Verhältnisse, sondern auch eine Provokation und die offenbare Absicht, uns zu demütigen.
Den Polen wird, wenn wir auf die Forderungen eingehen, durch den Machtspruch der Entente deutsches Gebiet ausgeliefert und damit für die Friedensverhandlungen ein Präjudiz geschaffen. Das Vorgehen der Entente in der polnischen Frage läßt meines Erachtens keinen Zweifel darüber, daß die Alliierten und, wie es scheint, neuerdings auch Amerika die polnische Frage nicht mehr im Sinne des Wilsonschen Programmes lösen, sondern uns vergewaltigen wollen.
Auch die Annahme des Artikels 3 bedeutet eine Zumutung, der wir uns unter keinen Umständen fügen können; sie würde die Auslegung unserer Waffenstillstandspflichten ganz in die Willkür des französischen Oberkommandos stellen und dadurch unseren Feinden die Handhabe bieten, uns jederzeit mit dem Hinweis auf unsere Verfehlungen zu vergewaltigen. Exzellenz Erzberger hat dem Dolmetscheroffizier Laperche gegenüber geäußert, daß der Artikel 3 „Deutschland direkt zum Sklaven der Entente machen würde.“
Vom Standpunkt der auswärtigen Politik kann ich dieses Vorgehen nicht zulassen und schlage die Ablehnung der Bedingungen vor. Über die Folgen dieser Ablehnung bin ich mir vollkommen klar. Das Vorgehen der Alliierten, dem der Präsident Wilson sich leider in der jüngsten Phase der Verhandlungen offenbar angeschlossen hat, läßt uns nur die Aussicht, die letzten Konsequenzen auf uns zu nehmen (das heißt den Einmarsch) und uns bei dem nächsten Anlaß weiteren demütigenden Bedingungen zu unterwerfen. Wenn uns zugemutet wird, uns morden zu lassen oder Selbstmord zu begehen, kann die Wahl nicht zweifelhaft sein. Auf die Form eines amerikanischen Duells dürfen wir uns nicht einlassen.
Die Ablehnung der Forderungen unsererseits wird die Entente in eine schwierige Lage bringen. Unsere Nachgiebigkeit gegenüber ihren Zumutungen ist notorisch weit über das Erwarten unserer Gegner hinausgegangen. Wenn wir jetzt ihre Forderung ablehnen, werden die Differenzen, die zwischen unseren Feinden bestehen, intensiver in Erscheinung treten und voraussichtlich dazu führen, ein einheitliches Vorgehen gegen uns unmöglich zu machen. Abgesehen davon, daß wir uns im Interesse des letzten Restes unserer Würde auf die uns zugemutete Bedingung nicht einlassen dürfen, kann unsere Ablehnung daher dazu führen, den feindlichen Block zu sprengen.“ (PA, Nachl. Brockdorff-Rantzau, Az. 16).
[6] Das Auswärtige Amt erhielt darauf von dem Kabinett den Auftrag, eine entsprechende Note der Waffenstillstandskommission an Marschall Foch zu entwerfen. Während ich mit der Ausführung dieses Auftrags beschäftigt war, wurden die Führer der Parteien der Nationalversammlung in’s Schloß geladen, um sich über die Angelegenheit zu äußern. Die Verhandlung mit den Parteiführern begann vor Fertigstellung der Note.
Als der Reichsminister des Auswärtigen und ich den Sitzungsraum betraten, teilte der Ministerpräsident zu unserer Information mit, daß sich unter den Parteiführern die schwersten Bedenken gegen die Ablehnung der Waffenstillstandsbedingungen erhoben hätten. Ohne bestimmt für den Beschluß des Kabinetts Stellung zu nehmen, forderte Herr Scheidemann den Grafen Brockdorff-Rantzau auf, seine Vorschläge zu machen. Der Graf trug darauf den Wortlaut[7] der Note vor, der mit der Ablehnung schließt und dies zu jedem Punkt der neuen Waffenstillstandsbedingungen ausführlich begründet4.
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Der Notenentwurf Brockdorff-Rantzaus in: PA, Nachl. Brockdorff-Rantzau, Az. 16. Zu P. 1 der all. Forderungen heißt es darin, die RReg. sei bereit, auf weitere kriegerische Handlungen gegenüber Polen zu verzichten, lehne es jedoch ab, von dt. Truppen besetztes Gebiet zu räumen. P. 2 wird zugestimmt; die Zustimmung zu P. 3 könne nur erfolgen, „wenn darin nicht Anerkenntnis sämtlicher von Marschall Foch uns vorgeworfener Verfehlungen gegen Waffenstillstandsbedingungen erblickt werden soll.“ Der Schluß des Entw. lautet: „Sollte Marschall Foch auf entsprechende Änderung Abkommens nicht eingehen, so weist RReg. dt. Delegation an, unverzüglich abzureisen.“
Gegen den Vorschlag wurde von vielen Seiten Widerspruch erhoben. Besonders lebhaft bekämpften ihn die Vertreter der Zentrumspartei. Der Ministerpräsident bemerkte, daß er sich den Schluß der Note versöhnlicher gedacht habe, nicht als Ablehnung, sondern als Aufforderung zu weiterem Verhandeln. Um dieser Auffassung Rechnung zu tragen, entwarfen der Minister Bell und ich neue Schlußsätze, die dann kombiniert und der Versammlung vorgelesen wurden5. Der Abgeordnete Gröber widersprach aber auch dieser Auffassung mit dem Bemerken: das sei ein Nein mit Vorbehalt, er wünsche aber ein Ja mit Vorbehalt. Von anderer Seite wurde der Minister des Auswärtigen gefragt, wie er sich die Folgen der Ablehnung denke. Er erwiderte, daß er mit einem Einrücken der alliierten Truppen in die neutrale Zone und darüber hinaus namentlich mit einer Besetzung von Essen und dem ganzen Ruhrrevier rechne. Von anderer Seite wurde darauf hingewiesen, daß dann wohl auch Polen und Tschechen auf Deutschland losgelassen werden würden, was Graf Brockdorff-Rantzau als möglich anerkannte. Verschiedene Redner betonten, daß wir unter diesen Umständen in vierzehn Tagen den Spartakismus in ganz Deutschland siegreich sehen würden.
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In den in Frage kommenden Aktenbeständen nicht zu ermitteln.
Alle Reichsminister mit Ausnahme von Minister Preuß schlossen sich darauf den Parteiführern an. Graf Brockdorff-Rantzau wandte sich an mich mit der halblauten Frage: „Soll ich ihnen sagen, daß ich unter diesen Umständen nicht mehr mitmache.“ Ich erwiderte ebenfalls halblaut: „Das würde ich nicht jetzt tun, sondern später.“ Mein Grund war, daß ich es nicht für zulässig hielt, eine Krisis innerhalb des Kabinetts vor den nicht zum Kabinett gehörigen Parteiführern entstehen zu lassen und den Ministerpräsidenten dadurch in eine Zwangslage zu versetzen. Die Kabinettsfrage wurde daher nicht gestellt.
Gemäß Aufforderung des Grafen setzte ich der Versammlung kurz auseinander, daß ein Ja mit Vorbehalt, wie es Herr Gröber verlange, praktisch undurchführbar sein würde. Um 6 Uhr werde den deutschen Delegierten die Urkunde mit den neuen Bedingungen vorgelegt werden, und sie hätten dann nur die Wahl, die Urkunde zu unterzeichnen oder nicht, sie könnten nicht etwa eine andere Urkunde mit den vorbehaltenen Änderungen vorlegen und unterzeichnen. Die von Herrn Gröber empfohlene Haltung liefe also doch auf eine glatte Annahme heraus. Trotzdem wurde die Annahme beschlossen und das Auswärtige Amt beauftragt, den Beschluß der Waffenstillstandskommission mitzuteilen und gleichzeitig eine Protestnote zu verfassen, die der Reichsminister Erzberger bei der Unterzeichnung übergeben solle. Die Protestnote sollte im wesentlichen[8] die Ausführungen des früheren Entwurfs enthalten, aber einen anderen Eingang und Schluß bekommen. Hierfür gab Exzellenz von Payer mündliche Weisung, die er später dem Grafen Brockdorff-Rantzau diktierte.
Auf Grund dieses Ergebnisses der Sitzung entwarf ich dann die Note6, die der Reichsminister zu dem Ministerpräsidenten und dem Reichspräsidenten mitnahm, um sie von ihnen prüfen und genehmigen zu lassen. Beim Weggehen erklärte er mir, er werde den genannten beiden Herren keinen Zweifel darüber lassen, daß er mit dem Inhalt der Note nicht einverstanden sei, weil sie im Widerspruch zu seiner Rede vom 14. Februar stehe7, und daß er unter diesen Umständen bitten müsse, anderweitig über seinen Posten zu verfügen. Zugleich gab er Weisung, die Note der Waffenstillstandskommission über Berlin mittels Fernschreibers bekannt zu geben und telephonisch der Waffenstillstandskommission mitzuteilen, daß die Bedingungen anzunehmen seien mit der Übergabe einer von Berlin aus zu erwartenden Protestnote.
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Der Text der Note wurde nach Wiederaufnahme der Verhandlungen in Trier am 16.2.1919 um 18 Uhr 15 von RM Erzberger verlesen. In der von Scheidemann unterzeichneten Erklärung wurde der Unterzeichnung der all. Waffenstillstandsbedingungen zugestimmt; jedoch wurde dagegen protestiert, daß den Deutschen „in Form schroffer Befehle und Verbote“ auferlegt wurde, „eine Anzahl wichtiger Plätze, darunter Birnbaum und Stadt Bentschen, ohne weiteres zu räumen.“ Die weiteren Ausführungen betrafen die dt. Bereitschaft, die Bedingungen auch der vorhergegangenen Waffenstillstandsabkommen restlos „bis zur völligen Erschöpfung seiner wirtschaftlichen Kräfte und bis zur Zerrüttung seiner Verkehrsverhältnisse“ zu erfüllen, und einen Protest gegen die kurze Befristung des neuen Waffenstillstandsabkommens (Text in: Waffenstillstand, I, S. 257 f.). Tatsächlich wurde in dem endgültigen Abkommen über die Verlängerung des Waffenstillstands vom 16.2.1919 eine Korrektur der Demarkationslinie in Posen vorgenommen, die den dt. Vorstellungen z. T. Rechnung trug (Waffenstillstand, I, S. 260 f.).
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Am 14.2.1919 hatte Brockdorff-Rantzau während der 7. Sitzung der NatVers eine Erklärung zur außenpolitischen Konzeption der RReg. abgegeben (NatVers Bd. 326, S. 66 ff. ). In einem Schreiben an den RPräs. vom 17.2.1919 erklärte er zum Zusammenhang zwischen dieser Rede und seiner Rücktrittsabsicht: „Am 12. 2. hatte ich vorgeschlagen, meine programmatischen Erklärungen zur auswärtigen Politik erst abzugeben, nachdem die Verhandlungen in Trier in ihrem Ergebnis übersehen werden könnten, d. h. am Montag, dem 17. 2. Auf ausdrücklichen Wunsch des Ministeriums mußte ich aber die Rede schon am Freitag, dem 14. 2., halten. Daraus folgte, daß sich nicht mein Programm nach unserer Haltung in Trier, sondern unsere Haltung in Trier nach unserem Programm zu richten hatte.
In meiner Rede hatte ich ausgeführt, daß wir Eingriffe in unsere Hoheitsrechte auf dem polnisch besiedelten Gebiete Preußens nicht dulden könnten, daß wir uns durch erneute Drohungen mit der Wiederaufnahme der Feindseligkeiten nicht zu immer weiteren Demütigungen treiben lassen dürften, und daß wir uns jedem Versuch, Gegenstände dieses Friedensvertrags in die Waffenstillstandsverhandlungen hineinzuziehen, widersetzen müßten. Das Abkommen zur Verlängerung des Waffenstillstands, das uns Marschall Foch vorgelegt hat, steht in seinen drei Punkten zu meinen Ausführungen im schärfsten Gegensatz […]“ (PA, Nachl. Brockdorff-Rantzau, Az. 16).
Diesen Auftrag führte ich aus.
Die Telephonverbindung mit Trier war außerordentlich schlecht, ich glaubte mit Herrn Fellinger zu sprechen. Von Trier wurde gesagt, daß Legationsrat Gaus die schwersten Bedenken gegen Annahme der Bedingungen habe, namentlich der Bedingung Nr. 3. Ich erwiderte, daß diese Bedenken von dem Minister durchaus geteilt würden und daß ich nicht glaube, Graf Brockdorff-Rantzau werde die Verantwortung für die Annahme tragen wollen8.
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In seinem in Anm. 7 zitierten Schreiben an den RPräs. vom 17.2.1919 erklärte Brockdorff-Rantzau: „[…] Die Parteiführer haben mich desavouiert, und die Reg. hat sich, mit Ausnahme des Herrn RM Preuß, schließlich von innerpolitischen Erwägungen leiten lassen, die den von mir pflichtgemäß vertretenen Interessen zuwiderlaufen. Ich bin nicht imstande, in der heutigen Sitzung [der NatVers] den Abschluß des Abkommens zu vertreten […]“ (PA, Nachl. Brockdorff-Rantzau, Az. 16). Über die weitere Behandlung des Rücktrittsgesuchs des RAM durch den RPräs. und den RMinPräs. ist in den Akten nichts zu ermitteln; in den Erinnerungen seines Pressesprechers Max Cahén heißt es dazu nur: „Jedenfalls wurde er von der Demission zurückgehalten, die die Presse bereits voreilig ankündigte. Zu seinem Bleiben habe übrigens ich selbst mein Teil beigetragen […]“ (Cahén, Fritz Max: Der Weg nach Versailles, Boppard 1963, S. 285 f.).
[9] Ich versichere pflichtgemäß, daß ich vorstehende Aufzeichnung nach bestem Wissen gemacht habe.