2.99 (sch1p): Nr. 93 Der Erste Generalquartiermeister an die Reichsregierung. Kolberg, 30. Mai 1919

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[400] Nr. 93
Der Erste Generalquartiermeister an die Reichsregierung. Kolberg, 30. Mai 1919

R 43 I /702 , Bl. 24

[Betrifft: Umfrage der Obersten Heeresleitung über die Bereitschaft zur Wiederaufnahme des Krieges]

Gemäß telegrafischer Anordnung der Reichsregierung ist die Rundfrage vom 21. Mai – II Nr. 13158 geh. op. eingestellt worden1.

1

Siehe Dok. Nr. 88, P. 2. Das Rundschreiben Groeners an die Verbindungsoffiziere vom 21.5.1919 hatte folgenden Wortlaut: „Der OHL liegt daran, ein klares Bild darüber zu bekommen, wie die Bevölkerung zu einer etwaigen Wiederaufnahme des Krieges steht. Ich bitte daher beiliegenden Fragebogen von namhaften und führenden Persönlichkeiten aller Bevölkerungskreise aus allen Teilen des Generalkommando-Bezirks beantworten zu lassen, und die Antwort baldmöglichst hierher vorzulegen. […] Fragebogen: 1. Ist die Bevölkerung in überwiegender Zahl für die Wiederaufnahme des Krieges oder nicht? 2. Wenn die Frage zu 1. bejaht wird, ist die Bevölkerung dann nur zur Verteidigung bzw. Wiedernahme ihrer engeren Heimat oder auch zu weitergehenden Kämpfen bereit, selbst wenn sie außerhalb Deutschlands, z. B. in Polen oder Rußland, geführt werden müßten? 3. Hat Einberufung zu den Fahnen Aussicht auf Erfolg? 4. Kann mit einem großen Zustrom von Freiwilligen gerechnet werden? 5. Ist die Bevölkerung bereit und entschlossen, gegenüber persönlichem, wirtschaftlichem und politischem Druck, den eine feindliche Besetzung des Landes mit sich bringt, standhaft zu bleiben? 6. Sind bei Wiederaufnahme des Kampfes innere Unruhen zu befürchten und in welchem Umfange?“ (R 43 I /702 , Bl. 15).

Ich hätte es dankbar begrüßt, wenn mir vor dieser Weisung Gelegenheit gegeben wäre, dem Kabinett meine Gründe für die Umfrage darzulegen. Ich glaube, daß die Reichsregierung dann vielleicht zu der Überzeugung gekommen wäre, daß meine Umfrage zweckmäßig war und nicht über den Rahmen der Tätigkeit der Obersten Heeresleitung hinausging. Der Gang der Friedensverhandlungen kann die Reichsregierung jeden Tag vor die Frage stellen, ob, in welchem Umfange und in welcher Weise der Kampf wieder aufgenommen werden soll. Es war meine Absicht, der Reichsregierung in nächster Zeit entsprechende Vorschläge zu unterbreiten, die zu dieser Frage Stellung nehmen. Um diese Vorschläge aber auf richtiger Grundlage aufzubauen, hielt ich es für unbedingt notwendig, mir über die Stimmung im Lande volle Klarheit zu verschaffen, denn im jetzigen Augenblick ist der Geist der Bevölkerung, auch für den Aufbau rein militärischer Entschlüsse, von ausschlaggebender Bedeutung. Wie verhängnisvoll das Nichterkennen bzw. Verkennen der Volksstimmung durch die OHL für den Ausgang des Krieges gewesen ist, wird gerade der jetzigen Regierung sehr wohl bekannt sein. Für alle Fälle Klarheit und sichere Unterlagen für Entschlüsse zu schaffen, vor die die OHL von der Reichsregierung gestellt werden kann, war demnach der Hauptgrund der Umfrage. Daneben hat aber noch ein anderer Grund mitgesprochen. Nach Bekanntwerden der Friedensbedingungen ist der Herr Generalfeldmarschall mit telegrafischen, schriftlichen und mündlichen Ratschlägen, Protesten und Kundgebungen jeder Art[401] überschüttet worden, aus denen ein oberflächlicher Beobachter leicht den Eindruck gewinnen konnte, als ob Volk und Heer zum Kampf fest entschlossen wären und diesen Kampf auch gegen den Willen der Reichsregierung aufnehmen würden. Ja, es geht soweit, daß der OHL aus manchen Kreisen Mangel an Entschlossenheit und nationale Lauheit vorgeworfen wurde. Unter diesen Umständen mußte ihr besonders daran liegen, ein ungefärbtes Bild über die Lage zu gewinnen, um einerseits auf die Hitzköpfe beruhigend einwirken zu können und andererseits einwandfreie Unterlagen zu erhalten, um die in absehbarer Zeit mit Sicherheit zu erwartenden Angriffe der Presse und öffentlichen Meinung mit schlagendem Beweismaterial abwehren zu können. Man kann es dem Herrn Generalfeldmarschall nicht verdenken, wenn er sich nicht noch einmal den Vorwurf der Schwäche wie nach dem 9. November machen lassen will.

Ich habe mir selbstverständlich auch die Frage vorgelegt, ob diese Umfrage, die von mir übrigens absichtlich nicht geheim behandelt ist, irgendwelche nachteiligen Folgen in inner- oder außenpolitischer Beziehung haben könnte. Nach reiflicher Prüfung habe ich diese Frage verneint und sogar die Ansicht gewonnen, daß ein Bekanntwerden der Umfrage nur günstig auf den Gang der Friedensverhandlung einwirken könnte, da sie bei der Entente den Eindruck hervorrufen muß, daß das „Unannehmbar“ von Volk und Regierung durchaus ernst gemeint und nicht, wie von der Entente-Presse immer betont wird, nur Bluff ist2.

2

Das Ergebnis der Umfrage gab Groener während einer Besprechung mit den Verbindungsoffizieren der OHL bei den Generalkommandos am 12.7.1919 bekannt. Mit den Worten Groeners hatte die Beantwortung „im Durchschnitt ein recht trauriges Ergebnis“. Die Antwort auf die 1. Frage lautete „mit verschwindenden Ausnahmen“ nein. Was die 2. Frage betraf, so „ergibt sich das überraschende Bild, daß Frage 1 hauptsächlich mit ‚nein‘ beantwortet wurde, Frage 2 mit ‚ja‘ beantwortet wird, sobald es sich um die engere Heimat handelt.“ Die Frage 4 wurde überwiegend mit ‚nein‘ beantwortet, die Antworten auf Frage 5 „klingen wenig hoffnungsvoll“. Auf Frage 6 wurde geantwortet, „daß in großen Städten und Industriebezirken mit Sicherheit schwere Unruhen ausbrechen würden.“ (BA-MA, N 42/12).

Ich darf mir vorbehalten, der Reichsregierung über die ganze Angelegenheit noch mündlich Aufklärung zu geben3.

3

Siehe Dok. Nr. 97, P. 4.

Groener

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