Text
[122] Nr. 30
Besprechung der Eisenbahnfrage, 1. April 1919, 12 Uhr beim Ministerpräsidenten1
- 1
Bereits am 10.3.1919 hatte im pr. Min. der öffentlichen Arbeiten eine Besprechung zwischen der pr. Staatseisenbahnverwaltung und Bevollmächtigten der RReg. stattgefunden, auf der die während der Sitzung am 1.4.1919 vorgebrachten Argumente vorweggenommen worden waren. Einer Aktenabschrift des späteren StS im RVMin. Stieler zufolge waren an der Besprechung am 10. 3. beteiligt: Die RM Erzberger, Landsberg und Preuß sowie weitere Vertreter des RIMin. und des Reichseisenbahnamts, dessen Leiter Staatsminister a. D. Hoff sowie UStS Franke: […]„Minister Erzberger führte aus, daß beabsichtigt gewesen sei, die Modalitäten der Abtretung der Staatsbahnen, insbesondere die Bemessung des Kaufpreises zu erörtern. Da die Besprechung jedoch eine[n] informatorischen Charakter trage, müsse davon Abstand genommen werden. Das Reich stelle jedoch durch die 3 besonders bevollmächtigten Reichsminister den Antrag auf Abtretung der pr. Staatsbahnen und bitte um baldige Mitteilung der Bedingungen, insbesondere des Kaufpreises. Grundsätzlich werde der Übertragung der pr. Staatseisenbahnen auf das Reich zugestimmt, die Durchführung selbst müsse aber besonderer Prüfung und Beratung vorbehalten bleiben. Minister Hoff hält den gegenwärtigen Zeitpunkt zur Durchführung der Maßnahme weder für geeignet, noch glaube er, daß eine Überstürzung der Durchführung im Interesse des Reichs und der Eisenbahnen liege. Min. Erzberger betont, daß die Verreichlichung aller dt. Eisenbahnen für das Reich eine conditio sine qua non sei. Minister Hoff bestätigt diese Auffassung und bemerkt, daß man hofft, wenn Preußen vorangehe, auch mit Sachsen einig zu werden. Die Zustimmung Württembergs und Badens sei sicher zu erwarten. Wenn sich Bayern noch weiter ablehnend verhalte, müsse gegebenenfalls auf den Beitritt Bayerns verzichtet werden.“ (Kl. Erw. Nr. 409). Die Sitzung wurde am 15. und 20.3.1919 fortgesetzt; auf der Sitzung am 20. 3. „ist nochmals darauf hingewiesen worden, daß der Reichseisenbahngedanke auch dann durchgeführt werde, wenn es nicht gelinge, die bayer. Bahnen für die Reichseisenbahnen einzubeziehen. Die pr. Regierung stehe aber auf dem Standpunkt, daß die Übertragung der pr. Eisenbahnen auf das Reich von der Durchführung der Verreichlichung aller deutschen Bahnen abhängig zu machen sei. Württemberg und Baden machten die Abtretung ihrer Bahnen nicht von dem Eintritt Bayerns in die Reichseisenbahnverwaltung abhängig.“ (ebd.).
Anwesend: Scheidemann, Landsberg, Noske, Erzberger; Staatsminister a. D. Hoff; UStS Lewald; Protokoll: RegR Brecht.
Minister Hoff wandte sich in längeren Ausführungen gegen die Forderung des Reichsministeriums, daß die Überführung der Eisenbahnen auf das Reich im Wege der freiwilligen Vereinbarung bis zum 1. April 1921 durchgeführt werden müsse2. Zur Zeit sei nach Ansicht Preußens die Überführung nicht möglich, weil namentlich der damit verbundene Wechsel in den Anstellungsverhältnissen zu Unruhen der schon sehr unzuverlässig gewordenen Beamtenschaft führen könne. Auch sei Preußen zur Zeit nicht in der Lage, einen Preis zu bestimmen. Preußen sei grundsätzlich mit der Fristbestimmung einverstanden, wünsche aber eine Verlängerung der Frist. Bayern sei überhaupt gegen jede Fristbestimmung3. Sein Widerstand sei wegen der verkehrspolitisch großen Bedeutung Bayerns sehr ernst zu nehmen. Baden und Württemberg seien auch mit einer kürzeren Frist einverstanden. Oldenburg und Mecklenburg schlössen[123] sich Preußen an. Er empfehle, in der Verfassung die Reichsaufsicht zu verstärken. Ferner möge man die Beratungen in dem Einigungsausschuß4 nicht den Gliedstaaten überlassen, sondern durch das Reichsministerium selbst führen. Man könne vielleicht auch Vertreter der Mehrheitsparteien und Nationalökonomen in den Ausschuß aufnehmen. – Das Volk verspreche sich goldene Berge von der Überführung auf das Reich. Das sei ein schwerer Irrtum, dem man entgegentreten müsse.
- 2
Siehe Dok. Nr. 18, P. 5.
- 3
Siehe Dok. Nr. 17, Anm. 4.
- 4
Während einer Konferenz der Bundesregierungen mit Eisenbahnbesitz über die Verreichlichungsfrage am 18.3.1919 im pr. Min. der öffentlichen Arbeiten war der Beschluß gefaßt worden, „zur Erörterung der dem Reiche gegenüber billigerweise zu stellenden Übernahmebedingungen einen Ausschuß von Vertretern der Staatseisenbahnverwaltungen […] zu bilden.“ (Kl. Erw. 409). Der Ausschuß tagte das erstemal am 14.5.1919; neben Ländervertretern nahmen auch Vertreter des Reichseisenbahnamts und des RFMin. teil (ebd.).
Reichsminister Landsberg erwiderte, niemand wolle die Angelegenheit überhasten. Bei einer zweijährigen Frist könne aber von Überhastung keine Rede sein. Wenn Preußen wirklich ernstlich die Absicht habe, schnell abzuschließen, werde es damit in den nächsten 1½ Jahren fertig werden. Er könne den Verdacht nicht unterdrücken, daß man in Preußen nur mit den Lippen und nicht mit dem Herzen für die Überführung der Eisenbahnen auf das Reich eintrete. An goldene Berge glaube er auch nicht. Der Grund für die Überführung auf das Reich sei aber auch ein anderer: Die Eisenbahnen mit ihren 700 000 Beamten usw. stellten eine Macht dar, die von Preußen auf das Reich übergehen solle, um auch auf diese Weise die preußische Hegemonie zu beseitigen.
Reichsminister Erzberger trat Herrn Landsberg in allen Punkten bei. Das Reich brauche neue bindende Faktoren; solche seien das Militär und der Verkehr. Der Vorschlag, die Führung im Ausschuß von Reichs wegen zu nehmen, sei zu begrüßen. Dagegen halte er die Aufnahme von Abgeordneten und Nationalökonomen nicht für empfehlenswert.
Minister Hoff meinte, Unordnung sei keine Machtstärkung. Das Reich müsse übrigens mit den Eisenbahnen auch die starken Kosten für die Erneuerung übernehmen5.
- 5
Bis zum Beginn des 1. Weltkriegs stellte die pr. Staatsbahn eine der besten Überschußverwaltungen für den pr. Staat dar; zwischen 1900 und 1913 konnte die pr. Staatsbahnverwaltung an die allgemeine Staatskasse 2 547,5 Mio M abführen (Bericht der vereinigten pr. und hess. Staatseisenbahnen im Rechnungsjahr 1917, Berlin 1917, S. 12 f.). Im Laufe des Krieges trat jedoch ein überaus rascher finanzieller Absturz ein, da die pr. Tarifpolitik der Geldentwertung und dem kriegsbedingten Steigen der Ausgaben nicht folgen konnte (Quaatz, R.: Die Reichseisenbahnen, Gedanken und Vorschläge zur Finanzwirtschaft und Organisation des dt. Verkehrswesens, Berlin 1919, S. 13 ff. ). Für das Rechnungsjahr 1919 ergab sich im pr. Haushalt für die Eisenbahnverwaltung ein Fehlbetrag von 2 222 Mio M. (Staatshaushaltsplan für das Rechnungsjahr 1919, Berlin 1919, Anlage Nr. 9).
Der Ministerpräsident erklärte: Aus politischen und wirtschaftlichen Gründen sei die Übernahme auf das Reich unbedingt notwendig. Darüber bestehe Einigkeit. Streitig sei nur die Frist. – Ob die Arbeiterunruhen den Staat oder das Reich träfen und ob die Kosten vom Staat oder Reich gezahlt werden müßten, sei im Grunde gleichgültig. An eine Vermehrung der Unruhen durch die Überführung auf das Reich glaube er nicht. Nationalökonomen möge man[124] aus dem Ausschuß herauslassen; Abgeordnete hineinzunehmen, könne man erwägen. – Die anwesenden Reichsminister würden dem Kabinett berichten und Herrn Minister Hoff dann Bescheid geben.