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[439] Nr. 106
Aufzeichnung des Preußischen Kriegsministers über die Verhandlungen mit den Ländervertretern. 10. Juni 19191
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Die Aufzeichnung enthält die „Weimarer Vereinbarung“ zwischen dem PrKriegsM und Ländervertretern, die das Endergebnis von Verhandlungen darstellt, die vom Februar bis zum Mai 1919 in Weimar geführt worden waren. Gegenstand der Verhandlungen war die Ablösung der bis dahin bestehenden militärischen Reservatrechte der Länder durch ein einheitliches Reichswehrgesetz. Die weiterhin in die Aufzeichnung aufgenommenen Stellungnahmen der einzelnen Länder gehören der Vereinbarung nicht an und sind in späteren Umdrucken der Vereinbarung, die als Anlagen zu den Wehrgesetzentwürfen vorliegen (R 43 I/609), nicht enthalten. Die Aufzeichnung wurde von Reinhardt während der Kabinettssitzung am 16.6.1919 (Dok. Nr. 112, P. 10) vorgetragen und liegt dem Protokoll als Anlage bei.
R 43 I/1349, S. 591-595 Umdruck2
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Die in 22 Exemplaren umgedruckte Aufzeichnung wurde am 10.6.1919 an die Rkei übersandt und trägt den Vermerk Reinhardts: „Die Angelegenheit bitte ich baldigst auf die Tagesordnung für eine Reichskabinettssitzung zu setzen.“
Die zwischen Vertretern von Preußen, Bayern, Sachsen, Württemberg und Baden geführten Verhandlungen haben zu folgendem Ergebnis geführt:
„Preußen, Bayern, Sachsen, Württemberg und Baden sind dahin übereingekommen, daß unter Aufhebung aller unter ihnen und mit dem Reich bestehenden Verträge, Abmachungen und Reservatrechte auf dem Gebiete des Heerwesens das künftige Reichswehrgesetz die vollkommene Einheitlichkeit des Deutschen Heerwesens gewährleisten muß.
Bayern, Sachsen, Württemberg und Baden halten es jedoch für erforderlich, daß die Interessen ihrer Länder durch Aufnahme der nachfolgenden Grundsätze in das Wehrgesetz zu wahren sind.
1. Die aus den genannten Staaten ergänzten Truppenteile bilden je einen in sich geschlossenen Verband, an dessen Spitze auf Verlangen des betreffenden Staates ein Landeskommandant zu stellen ist, dem die Wahrung der Landesinteressen obliegt.
2. In diesen Verbänden sollen die unteren Führer- und die Beamtenstellen in der Regel, die höheren Führerstellen nach Möglichkeit mit Landeskindern besetzt werden.
Vor der Ernennung, Beförderung und Versetzung der Offiziere und Beamten sind die Landeskommandanten gutachtlich zu hören.
Die Ernennung der Landeskommandanten und des ihm beigegebenen Heeresverwaltungsbeamten erfolgt auf Vorschlag der betreffenden Landesregierung.
3. Die Verbände sind grundsätzlich im eigenen Lande unterzubringen, der Reichspräsident hat jedoch das Recht, in besonderen Fällen Truppenteile außerhalb ihres Landes oder landfremde Truppen in einem anderen Lande vorübergehend zu verwenden. Handelt es sich um eine dauernde Unterbringung, so ist die Zustimmung der betreffenden Landesregierung einzuholen.
4. Bei Neuanlage, wesentlicher Veränderung oder Auflassung von ständigen Befestigungen oder von Truppenübungsplätzen sind die wirtschaftlichen Interessen[440] der Länder zu wahren und dementsprechend die Landesregierungen rechtzeitig zu hören.
5. Das Recht der Landesregierungen, Truppen zu polizeilichen Zwecken in Anspruch zu nehmen, ist zu wahren.
6. In der Bezeichnung der Truppenteile und Behörden ist die landsmannschaftliche Zugehörigkeit zum Ausdruck zu bringen.
7. Die Landeskommandanten und die obersten Heeresverwaltungsbeamten sind verpflichtet, die landsmannschaftliche Eigenart und die wirtschaftlichen Bedürfnisse des Landes zu berücksichtigen. Sie haben die Landesregierung auf Wunsch fortlaufend über alle wesentlichen Vorgänge ihres Geschäftsbereiches zu unterrichten, namentlich auch hinsichtlich der in Ziff. 2 Abs. 2 bezeichneten Angelegenheiten. Zur dauernden gegenseitigen Verbindung kann die Landesregierung dem Landeskommandanten aus Landesmitteln besoldete Vertreter beiordnen, der zur Beurteilung aller Fragen hinzuzuziehen ist, die die landsmannschaftliche Eigenart und die wirtschaftlichen Interessen des Landes berühren.
8. Die Landeskommandanten üben folgende besondere Befugnisse mit Zustimmung der Landesregierung, unbeschadet der Aufsicht des Reiches aus:
a) die Standorte der ihnen unterstellten Truppenteile innerhalb ihres Gebietes zu bestimmen,
b) den Ersatz aus dem Lande nach Maßgabe der allgemeinen Ersatzverteilung des Reiches zu regeln, daß die landsmannschaftliche Zusammengehörigkeit in der Truppe zur Geltung kommt,
c) die landsmannschaftlichen Abzeichen im Rahmen der vom Reiche bestimmten Grundformen und Grenzen zu regeln.
9. Das Beschaffungswesen soll so geregelt werden, daß die Grundsätze für die Beschaffung und die Verteilung auf die einzelnen Länder durch eine Ausgleichsstelle festgesetzt werden, in der die genannten Staaten vertreten sind. Soweit die Beschaffung selbst durch Verwaltungsorgane der Wehrgebiete erfolgt, können ihnen fachmännische Beiräte von den Landesregierungen bestellt werden.
10. Die Anstalten und Betriebe des Reichsheeres sind soweit als möglich auf die Einzelstaaten zu verteilen.
11. Den genannten Staaten sollen auf Anfordern zu ihrer Vertretung im Reichsrat Offiziere nach ihrer Wahl zur Verfügung gestellt werden.
12. Ins Reichswehrministerium werden, wie zu allen oberen Reichswehrbehörden Offiziere usw. aus allen Teilen des Reiches herangezogen.
Die Landeskommandanten in den genannten Staaten sollen bei der Vorbereitung wichtiger Gesetzesvorlagen und Vorschriften gehört werden.
13. Eine den landsmannschaftlichen Bedürfnissen Rechnung tragende Ausübung des Begnadigungsrechtes wird gewährleistet.“3
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Wie der Anlage 1 zum Reichswehrgesetzentw. vom 14.1.1921 zu entnehmen ist, waren die Vertreter der Länder am 29.7.1919 übereingekommen, dem Schluß der Vereinbarung folgenden einschränkenden Zusatz für die kleineren Staaten anzufügen: „Unter den an der Vereinbarung beteiligten Ländern besteht Einverständnis darüber, daß sich die ursprünglich ins Auge gefaßte Bildung von landsmannschaftlichen Truppenverbänden infolge der inzwischen in Kraft getretenen Bestimmungen des Friedensvertrags in Sachsen, Württemberg und Baden nicht mehr durchführen läßt. In diesen Ländern werden daher an Stelle der geschlossenen Verbände landsmannschaftlich geschlossene Truppen einheiten gebildet werden. Der dienstälteste Befehlshaber dieser Truppeneinheiten des betreffenden Landes wird als Landeskommandant die in vorstehender Vereinbarung genannten Befugnisse sinngemäß ausüben, soweit die Verhältnisse es gestatten.“ Das Reichswehrgesetz wurde am 2.11.1920 unter TOP 6 vom RKab. beraten (s.: Das Kabinett Fehrenbach) und trat am 23.3.1921 in Kraft (RGBl. 1921, S. 329); die Weimarer Vereinbarung wurde ohne substantielle Änderungen in den die §§ 12–17 umfassenden Teil II „Landsmannschaften“ des Gesetzes übernommen.
[441] Die Regierungen der genannten Länder haben hierzu folgende Stellung genommen:
Die Preußische Regierung ist der Ansicht, daß die Aufnahme dieser Grundsätze in das Reichswehrgesetz mit der von allen Vertragsschließenden erstrebten Reichseinheitlichkeit nicht unvereinbar ist. Abgesehen von Ziffer 2 Abs. 2 letzter Satz, der zu streichen ist, da die Durchführung dieser Bestimmungen praktisch zu unhaltbaren Folgerungen führen müßte, kann dem auch nach Auffassung des Reichswehrministers zugestimmt werden.
Auch die übrigen Regierungen haben dem Entwurf in allen wesentlichen Punkten zugestimmt, jedoch im einzelnen noch folgende Vorbehalte gemacht:
Bayern zu Ziff. 1)
Der Landeskommandant in Bayern ist oberster militärischer Befehlshaber, dem die Führer der Wehrbezirke unterstehen.
Zu Ziff. 2)
Falls in der Reichsverfassung weitergehende Bestimmungen über die Verwendung von Landeskindern in Reichsbeamtenstellen getroffen werden, sollen diese Bestimmungen sinngemäß auf militärische Führer Anwendung finden.
Als untere Führerstellen gelten die Stellen bis zum Bataillons-Führer einschließlich.
Bayern geht davon aus, daß im allgemeinen im Reichsheer soviel Offizier- und Beamtenstellen mit Bayern besetzt werden, als solche Stellen im bayerischen Kontingent des Reichsheeres der Zahl nach vorhanden sind.
Zu Ziff. 2) Abs. 3
Unter Versetzung ist die Versetzung nicht nur in eine andere Stelle, sondern auch die in den Ruhestand gemeint.
Zu Ziff. 3)
Dauernde Unterbringung ist dann gegeben, wenn die Unterbringung länger als ein halbes Jahr dauert. Die Verwendung einer Truppe außerhalb ihres Landes bleibt auf außergewöhnliche Anlässe beschränkt.
Zu Ziff. 5)
Auch zu Hilfeleistungen bei öffentlichen Notständen können die Landesregierungen Truppen in Anspruch nehmen.
Zu Ziff. 8a)
Die Aufgabe eines bestehenden Standortes bedarf ebenso der Zustimmung der Landesregierung wie die Wahl eines neuen Standortes.
Zu Ziff. 12)
[442] Bei der Besetzung der Stellen ist als allgemeiner Anhalt die Bevölkerungszahl des Landes maßgebend.
Die Mitwirkung der Landesregierung an der Bearbeitung wichtiger Gesetzesvorlagen wird durch ihre rechtzeitige Benachrichtigung durch den Landeskommandanten sichergestellt.
Bayern behält sich vor, in Berücksichtigung landsmannschaftlicher Gesichtspunkte das Militär-Versorgungswesen, die Verwaltung der Militärwohltätigkeitsfonds und Stiftungen, ferner den Übergang des Bayern gehörenden militärischen Gutes an das Reich und die Überleitung des bayerischen Kontingents in das Reichsheer durch besondere Vereinbarungen mit dem Reiche zu regeln.
Sachsen erklärt sich mit dem Entwurf einverstanden und beantragt auch seinerseits einen Landeskommandanten.
Zu Ziffer 12)
Die Mitwirkung der Landesregierung an der Bearbeitung wichtiger Gesetzesfragen wird durch ihre rechtzeitige Benachrichtigung durch den Landeskommandanten sichergestellt.
Zu Ziffer 13)
2. Zeile wird beantragt: „durch die Landesregierung oder Organe der Wehrgebiete“.
Stellungnahme zu bayerischem Vorschlag.
Zu Ziffer 1)
Der Ausdehnung der Befugnisse des Landeskommandanten auf die Stellung eines obersten militärischen Befehlshabers wird nicht zugestimmt.
Zu Ziffer 2) Abs. 2
Generalstabsoffiziere werden von der Bestimmung nicht berührt.
Württemberg.
Nach mündlichem Vortrag beim Württ. Kriegsminister in Stuttgart bin ich ermächtigt, zu erklären, daß Württemberg den am 7. d. M. getroffenen Abmachungen über das künftige Reichswehrgesetz beitritt unter folgenden Voraussetzungen:
1) Die Kommandanten aller Wehrbezirke müssen unbeschadet des Bestehens besonderer Landeskommandanten Befehle und Weisungen unmittelbar vom Reichswehrminister erhalten.
Umfaßt ein Wehrbezirk mehrere Länder, so sind deren Interessen von den Kommandanten der Wehrbezirke sinngemäß nach der Abmachung zu vertreten.
2) Werden in der Reichsverfassung allgemeine Bestimmungen über die Verwendung von Landeskindern im Reichsbeamtendienst gegeben, so sind sie sinngemäß auf die Heeresangehörigen anzuwenden.
3) Bei den für die Vergebung von Lieferungen aufzustellenden Grundsätzen muß die Leistungsfähigkeit der Länder berücksichtigt werden.
4) Die Beteiligung der Länder an den Reichswehrbehörden ist so zu regeln, daß die Gesamtheit der mit Landeskindern der verschiedenen Länder besetzten Stellen der Größe des betr. Landes entspricht und daß alle Länder unbeschadet[443] der Auswahl besonders geeigneter Persönlichkeiten gerecht herangezogen werden.
Falls das Reichsmilitärgericht bestehen bleibt, ist für Württ[emberg] eine Stelle vorzusehen und für deren Besetzung ein Vorschlag der Landesregierung einzufordern.
5) Rechtsfähige Stiftungen werden auch künftig nach ihren genehmigten Satzungen verwaltet.
Alle anderen Zuwendungen landsmannschaftlichen Charakters werden auch in Zukunft so verwaltet, daß sie unter Berücksichtigung der neuen Verhältnisse sinngemäß den Verbänden und Zwecken zugute kommen, für die sie bisher bestimmt waren.
Dementsprechend verbleiben die bisher von württ[embergischen] Dienststellen verwalteten hierunter fallenden Fonds und Zuwendungen dem Wehrbezirk Württemberg.
6) Grundsätzlich müssen die Landesregierungen und Landeskommandanten in allen Fällen, in denen sie gehört werden sollen oder sich zu äußern haben, so rechtzeitig benachrichtigt werden, daß sie in der Lage sind, gründlich zu arbeiten.
7) Wenn eines der in der Abmachung genannten Länder Rechte und Befugnisse erhalten sollte, die weiter gehen, als in der Abmachung vorgesehen, so müssen diese auch den anderen Ländern zuteil werden.
Baden hat vorläufig mündlich seine Zustimmung erklärt.
Über diese Vorbehalte würde nach der Entscheidung der Reichsregierung ein Schluß-Protokoll von den Vertretern der Regierungen vereinbart werden.
gez. Reinhardt