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Nr. 54
Der Reichskanzler an den Bayerischen Gesandten. 11. September 1923
R 43 I/2218, Bl. 66–67 Entwurf1
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Dieser Entw. dürfte auch den in ihm vorgenommenen Korrekturen nach von MinR Kempner stammen. Es handelt sich bei ihm um eine redigierte Fassung eines früheren Entwurfs, der dem Büro des RPräs., dem StSRkei und dem RJM vom RIM am 1.9.23 übersandt worden war (R 43 I/2218, Bl. 56–59). Zuvor hatte am 28.8.23 unter Vorsitz Kempners in der Rkei eine Besprechung über die Behandlung der Note Bayerns stattgefunden, in der festgestellt worden war, die VO vom 10.8.23 widerspreche weder dem Protokoll vom 11.8.22 noch dem Schreiben RK Wirths vom 20.8.22. In einem Antwortschreiben solle die besondere Berücksichtigung Bayerns auf Grund der Berliner Besprechungen von 1922 hervorgehoben werden (R 43 I/2218, Bl. 48).
[Betrifft: Bayerischer Protest gegen die Verordnung vom 10. August 19232.]
Auf das gefällige Schreiben vom 28. August d. Js. beehre ich mich folgendes zu erwidern3.
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Im ersten Entw. (s. o. Anm. 1) hatte der Anfang des Schreibens gelautet: „Es gereicht mir zur aufrichtigen Freude, Ihnen auf Ihr Schreiben vom 28. August zu erwidern, daß die Reichsregierung auch unter meiner Führung die Vereinbarungen vom August 1922 freundschaftlich und vollkommen zu erfüllen trachten wird.“ Dem RJM war es zweckmäßig erschienen, diese Eingangsworte zu ändern (R 43 I/2218, Bl. 64).
Die Befürchtung, daß die Verordnung des Herrn Reichspräsidenten vom 10. August 1923 dem sogenannten Berliner Protokoll vom 11. August 1922 und den im Anschluß an dieses Protokoll gepflogenen Verhandlungen zwischen dem[249] Herrn Bayerischen Ministerpräsidenten und der Reichsregierung widerspräche, ist nach Ansicht der Reichsregierung nicht begründet. Artikel4 48 der Reichsverfassung gibt nicht der Reichsregierung, sondern dem Reichspräsidenten eine an besondere Voraussetzungen geknüpfte weitgehende Befugnis, die durch Abmachungen der Reichsregierung nicht ohne Verletzung der Reichsverfassung irgendwie geschmälert werden könnte. Die Vorschrift des Artikel 48 bezieht sich gerade auf Fälle besonderer Notlage; sie gibt dem Reichspräsidenten die Möglichkeit, bei schweren Notständen Ausnahmebestimmungen zu treffen, durch die einzelne Bestimmungen der Verfassung zeitweilig außer Kraft gesetzt werden. Eine Vorschrift, welche letzten Endes soweit geht, daß sie dem Reichspräsidenten im Notfall jede Art der Exekutive bis zum bewaffneten Einschreiten überträgt, kann schon begrifflich nicht in dieser Weise beschränkt werden5.
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Von hier ab stützt sich der Entw. unter Umstellung einiger Absätze und mit stilistischen Änderungen im wesentlichen auf den Wortlaut des RIM-Entwurfs.
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In seinen „Bemerkungen zum Schreiben der Bayerischen Gesandtschaft vom 28. August 1923“ hatte RegR von Stockhausen vorgeschlagen, in energischer Form Bayern entgegenzuhalten, „daß die Reichsregierung für die Ruhe, Sicherheit und Ordnung im Reich dann nicht mehr einstehen könne, wenn ihr die einzige Waffe, die sie besitze, nämlich der Artikel 48 der Reichsverfassung, beim Gebrauch durch Bayern ständig aus der Hand geschlagen werde. Es sei merkwürdig, daß andere Länder sich durch derartige Verordnungen nicht getroffen fühlten wie z. B. Preußen“ (R 43 I/2218, Bl. 47).
Wenn ich mir gestattet habe, zunächst auf die rechtliche Lage einzugehen6, so möchte ich im übrigen in tatsächlicher Hinsicht bemerken, daß die Reichsregierung entschlossen7 ist, bei der Ausführung der Verordnung den berechtigten Interessen der Länder in weitgehendem Maße Rechnung zu tragen.
Wie sehr die Reichsregierung bemüht war und ist, alles zu tun, um den Wünschen der Bayerischen Regierung nach Möglichkeit entgegenzukommen, bitte ich daraus zu entnehmen, daß trotz der bekannten Meinungsverschiedenheiten über die Notwendigkeit des Verbots gewisser Zeitungen und Vereinigungen die Reichsregierung bisher noch nicht in einem einzigen Falle von dem Rechte Gebrauch gemacht hat, die bayerische Regierung um das Verbot einer Zeitung oder einer Vereinigung gemäß § 17 des Gesetzes zum Schutze der Republik zu ersuchen8. Dabei war bekanntlich gerade dieses der Reichsregierung im Schutzgesetz gegebene Recht der Hauptanlaß für die entgegenkommenden Vereinbarungen, welche die Reichsregierung auf anderen Gebieten in den Berliner Protokollen getroffen hat.
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Sollmann hatte mit seinem Briefentwurf „eine Blütenlese aus der extremen bayerischen Presse“ übersandt. „In allen diesen Fällen hat die Reichsregierung trotz der schweren Schädigung der Staatsautorität und der Verstöße gegen die Gesetze davon abgesehen, die Bayerische Regierung um Verbote zu ersuchen oder selbst auf Grund der neuen Verordnung solche Verbote auszusprechen.“ Es handelt sich dabei um Zitate und Artikelauszüge aus dem „Völkischen Beobachter“ vom 12./13. – 20.8.23, 23. – 26./27.8.23, aus dem Wochenblatt „Bayern und Reich“ Nr. 18 vom 18.8.23, aus dem „Miesbacher Anzeiger“ vom 18.8.23, aus der Nürnberger „Weißen Fahne“ vom 21.8.23 (R 43 I/2218, Bl. 60–63).
Die Verordnung des Herrn Reichspräsidenten vom 10. August d. Js. war notwendig geworden, weil im Laufe des Juli und Anfang August ein Teil der radikalen Presse in fortschreitendem Maße zu Gewalttätigkeiten bis zum offenen[250] Bürgerkrieg anreizte, ohne daß jedesmal9 ein Einschreiten auf Grund des Gesetzes zum Schutze der Republik möglich gewesen wäre10. Aus diesem Grunde erließ der Herr Reichspräsident eine Verordnung, welche, der besonders großen innen- und außenpolitischen Spannung Rechnung tragend, Verbote von Zeitungen auch über die Tatbestände des genannten Gesetzes hinaus ermöglichen sollte. Diese Verordnung sollte in erster Linie vorbeugend wirken. Sie ist auch vom Reichsminister des Innern bisher nur in zwei Fällen, und zwar gegen zwei kommunistische Blätter, angewandt worden11. Ihre zentrale Handhabung erschien deshalb unumgänglich, weil die andernfalls ermöglichte ungleichmäßige Anwendung durch die verschiedenen Länderregierungen das Ziel der Verordnung auf das Ernsteste gefährdet hätte.
Ohne dem Herrn Reichspräsidenten vorgreifen zu wollen, spreche ich indessen die Hoffnung aus, daß es in nicht zu ferner Zeit möglich sein wird, die Verordnung aufzuheben; ich halte es ferner für möglich, daß sie bis zu ihrer Aufhebung auch weiterhin nur in vereinzelten Fällen Anwendung findet12.
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In von Stockhausen „Bemerkungen“ (s. o. Anm. 5) war gesagt worden, Bayern solle darauf hingewiesen werden, „daß eine dauernde gesetzliche Einschränkung von Landeshoheitsrechten durch die Presseverordnung des Herrn Reichspräsidenten durchaus nicht beabsichtigt sei, sondern daß diese Verordnung zweifellos wieder aufgehoben würde, falls die Verhältnisse in Deutschland erkennen ließen, daß sie nicht mehr notwendig sei. Das Protokoll vom 11. August 22 beziehe sich aber seinem Inhalt nach auf gesetzliche Beschränkungen der Landeshoheit“.
Ich13 darf mich hiernach der Hoffnung hingeben, daß die bayerische Regierung in Würdigung der gesamten Rechts- und Sachlage ihre Bedenken gegen die Verordnung zurückzustellen bereit ist.
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Dieser Absatz lautete zunächst: „Hiernach ist zuversichtlich zu erwarten, daß auch die gegenwärtige Verordnung in der Praxis zu keiner Trübung des Verhältnisses zwischen Bayern und dem Reich führen wird.“
Ich benutze diesen Anlaß gern zur Versicherung meiner ausgezeichneten Hochachtung als
Ihr
sehr ergebener
(NdHRKzler)14
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Bedeutet: Name des Herrn Reichskanzler.