Text
Nr. 87
Der Vertreter der Reichsregierung in München an die Reichskanzlei. 28. September 1923
Inhalt: Innerpolitische Lage.
Die Ernennung des Herrn von Kahr zum Generalstaatskommissar hat bisher durchaus den von der Regierung erhofften Erfolg gehabt1. Die Nacht ist vollkommen ruhig verlaufen und Herr Hitler hat selbst vom Fenster aus an seine Anhänger beruhigende Wort gerichtet. Die vaterländischen Verbände haben sich hinter Herrn von Kahr gestellt und dadurch die Postion der Kampfverbände erheblich geschwächt. Letztere greifen zwar im Völkischen Beobachter Herrn von Kahr scharf an2. Herr Hitler hat aber das Verbot der 14 in größter Aufmachung von ihm als dem politischen Leiter der verschiedenen Kampfverbände angekündigten Hauptversammlungen hinnehmen und sich auf einen schwachen Protest beschränken müssen. Wenn man berücksichtigt, daß die ganze Hitlerbewegung auf energische rücksichtslose Aktion eingestellt ist[394] und ein Vorgehen à la Mussolini zum Ziel hat3, so bedeutet das neuerliche kampflose Zurückweichen für Hitler einen ähnlichen Prestigeverlust, wie der Verlauf des 1. Mai4.
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S. Dok. Nr. 84.
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Vgl. dazu auch E. Deuerlein, Der Hitlerputsch, Dok. Nr. 13.
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Zur Beurteilung, die Hitler genoß, s. den folgenden Auszug aus dem Tagebuch des Referenten in der Rkei RegR von Stockhausen: „Hitler in Bayern zahlt in gleicher Münze [wie Poincaré] – das ist keine Realpolitik, die dort in München getrieben wird, aber der hohe Schwung nationaler Gesinnung, der sich hier, vom Rankenwerk antisemitischer Übertreibungen verdunkelt, offenbart, wirkt erfrischend und zeigt einen Weg zur Gesundung. – Diese Töne aus Bayern vermag auch die Stimme des sächs. Ministerpräsidenten Zeigner nicht zu überschreien“ (20.9.23; BA: NL von Stockhausen 5).
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S. dazu J. C. Fest, Hitler, S. 250 ff.; E. Deuerlein, Der Hitlerputsch, S. 57 ff.
Wenn trotzdem von Kahr Herrn Hitler nicht ein einfaches sic volo sic jubeo entgegensetzt, sondern sich auf Verhandlungen mit ihm einläßt, so liegt der Grund hierfür in den Beziehungen, die zwischen den vaterländischen Verbänden und den Kampfverbänden bestehen und die es Herrn von Kahr gestatten, auf diesem Wege einen mäßigen Einfluß wenigstens auf die besonneneren Führer der nationalsozialistischen Bewegung auszuüben. Auch hält er es vielleicht für nicht unbedenklich Herrn Hitler ganz in die Arme der Extremisten seiner Anhänger zu treiben, unter denen bekanntlich auch die früheren Parteigänger Eisners5 stark vertreten sind. Schließlich ist es vielleicht nicht unerwünscht, wenn die rein schwarz-weiß-rote Hitlerbewegung mit den Herrn von Kahr nahestehenden mehr oder weniger blau-weiß gefärbten Kreisen eine gewisse Verbindung und damit einen gewissen Einfluß behält. Wie stark diese blau-weißen Tendenzen gerade bei der jetzigen erregten Stimmung hier und da wieder hervortreten, beweist der beiligende Artikel des Bayerischen Kurier6.
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Damit dürfte die Gruppe um die Brüder Strasser gemeint sein. Otto Strasser hatte der USPD zumindest nahegestanden und auf ihrer Seite aktiv den Kapp-Putsch im Jahr 1920 bekämpft.
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Dort, Nr. 270 vom 28.9.23, war u. a. ausgeführt worden, Kahrs Leitstern werde das „deutsche Bayern“ sein. Die weiß-blaue Fahne wehe zum Kampf gegen die Feinde Bayerns und die rote Revolution. „Zum Kampf aber auch gegen jene Revolution, die die alten ehrlichen Farben des früheren Reiches und mit ihnen Bayern im Dienst von Zielen mißbrauchen will, die alles andere als bayerisch-deutsch sind.“
Wenn es somit der hiesigen Regierung gelungen ist, die augenblickliche Gefahr zu beschwören, so ist damit keineswegs gesagt, daß alle ernsten Konfliktsmöglichkeiten zwischen Bayern und dem Reich ausgeschaltet seien und es wird notwendig sein, auch weiterhin die Entwickelung der Dinge hier genau7 zu verfolgen und die Beziehungen zwischen Bayern und Reich mit sehr vorsichtiger Hand zu gestalten. Wie die im Ausschnitt beigefügte Entschließung der vaterländischen Verbände Bayerns zeigt, sehen diese und damit weite bayerische Kreise in Kahr den Mann, der als Diktator außen- wie innenpolitisch das Reich zu retten vermag, ein Unternehmen, woran die Reichsregierung gescheitert sei8.
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Aus: „weiter“.
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Die Erklärung lautete: „Bayern steht unter der Führung des Generalstaatskommissars Dr. v. Kahr. Wir wissen, daß der Mann, der vor zwei Jahren allein gegenüber Zumutungen, die zum Schaden Deutschlands und Bayerns führen mußten, aufrecht geblieben ist, heute dieselbe gerade deutsche Gesinnung durch die Tat beweisen wird. Damals stand er allein, wenn auch die Gefühle der Besten in Bayern und in Deutschland mit ihm waren. Heute soll Herr v. Kahr wissen, daß er nicht nur auf Gefühle rechnen kann, machtvolle Organisationsverbände mit der Staatsgewalt stehen ihm zur Seite. Es heißt jetzt, das Vaterland vom Abgrund zurückreißen und sich in die Erfordernisse des völkischen Gedankens und eine auf diesen Gedanken fußende Staatsmacht einzuordnen, das ist die heilige Pflicht jedes Mitgliedes der Vaterländischen Verbände“ (Münchner Zeitung, Nr. 267 vom 28.9.23).
[395] Die Ernennung des Reichswehrministers Geßler hat hier schon wegen seines Gegensatzes zu dem hier bestens gehaßten Herrn Zeigner wohltuend berührt. Hingegen wird seine „Kontrollierung“ durch den Reichsminister des Innern bemängelt. Gegen letzteren herrscht hier ein starkes Mißtrauen schon im allgemeinen wegen seiner Parteiangehörigkeit, ferner aber weil ihm vorgeworfen wird, durch seine Erklärung, daß die Liquidierung des Ruhrkonfliktes die Aufgabe des Reichskabinetts sei, unsere außenpolitischen Karten vorzeitig aufdeckt und dadurch unsere Niederlage besiegelt und verschärft zu haben. Die Bayerische Regierung ist unzweifelhaft loyal bestrebt, nicht nur die Ordnung aufrecht zu erhalten, sondern auch Hand in Hand mit der Reichsregierung zu arbeiten9. Jedoch verträgt die hiesige innerpolitische Lage keine starken Belastungsproben. Wie ich auf anderem Wege berichtete, war der Ministerpräsident durch eine Mitteilung des Generals von Lossow, daß die Aufhebung der bayerischen Ausnahmeverordnung von Reichswegen bevorstehe, tief beunruhigt10. Herr von Knilling erklärte mir in Gegenwart des eigens dazu gerufenen Staatsrats Schmelzle, daß er nicht annehmen könne, daß diese Nachricht zutreffe. Wenn sie aber richtig sein sollte, so sei der Konflikt unvermeidlich. Die rechtsradikalen Elemente würden sich verstärken und nicht mehr zu halten sein. Vor allem aber sei keine bayerische Regierung in der Lage, eine derartige Berliner Anordnung hinzunehmen, ohne gleichzeitig von der öffentlichen Meinung hinweggefegt zu werden. Er und seine Regierung hätten alles getan, um den Konflikt zu vermeiden. Ein Vorgehen wie das angeblich geplante, würde aber den Konflikt heraufbeschwören und die Regierung zwingen, den Gehorsam zu kündigen. Zum Glück konnte ich bald darauf Herrn von Knilling die ihn sehr beruhigende Mitteilung machen, daß die in Rede stehende Nachricht in diesem Sinne nicht zutreffe11.
Es entzieht sich der diesseitigen Beurteilung, inwieweit und für wie lange die Reichsregierung das Nebeneinanderbestehen der beiden Ausnahmeverordnungen für tragbar hält. Was die hiesigen tatsächlichen Verhältnisse betrifft, so erachte ich ein reibungsloses Zusammenarbeiten zwischen General von Lossow und Herrn von Kahr für durchaus möglich12. Herr von Lossow selbst würde hierüber wohl am besten Auskunft geben können. Jedenfalls dürfte aber die Auffassung Herrn von Knillings zutreffend sein, daß eine Aufhebung der bayerischen Verordnung, d. h. der Versuch einer Absetzung des Herrn von Kahr, den Bruch zwischen Bayern und Reich bedeuten würde.
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Dieser Satz mit Blaustift unterstrichen und am Rand ein Fragezeichen.
Ebenso möchte ich davor warnen, durch andere Maßnahmen, wie z. B. durch Strafverfolgung gewisser rechtsgerichteter politischer Persönlichkeiten, – man spricht hier von einem Haftbefehl gegen Hauptmann Heiß […] den Zündstoff zu vermehren13. Mehr wie je und gerade mit Rücksicht auf die schweren Prüfungen, die uns außenpolitisch noch bevorstehen, kommt es darauf an, Bayern[396] gegenüber den unleugbar hier vorhandenen14 Patriotismus anzuerkennen, die einigenden Momente zu verstärken und über das Trennende tunlichst hinweg zu sehen.
Haniel