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Nr. 90
Die Gewerkschaftsverbände an die Reichsregierung. 28. September 19231
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Das Schreiben trägt das Präsentat der Rkei vom 9.10.23.
[Betrifft: Versorgung mit Kohlen und Kartoffeln.]
Aus allen Teilen des Reiches, insbesondere aus den Großstädten und Industriegegenden, gelangen Notschreie an uns, daß weite Kreise der arbeitenden Bevölkerung und der ihnen wirtschaftlich gleichgestellten Schichten bei den derzeitigen Preisen nicht in der Lage sind, ihren gewohnten Bedarf an Kartoffeln und Kohlen für den Winter einkaufen zu können2. Das gilt in erster Linie für die große Zahl der Arbeitslosen und Kurzarbeiter und in mindestens ebenso[402] hohem Maße für die Empfänger von Sozial-, Kriegsbeschädigten- und Wohlfahrtsrenten.
Aber nicht nur die Arbeitslosen und Rentenempfänger sind von dieser Sorge bedrückt, sondern auch die weitaus größte Mehrzahl der noch in Arbeit Stehenden. Bei dem derzeitigen Preisstande für Kohlen und Kartoffeln ist es selbst diesen nicht möglich, die Aufwendungen für die notwendigen Wintervorräte machen zu können, da, wie wir gerade in der letzten Zeit wiederholt nachgewiesen haben, die Kaufkraft der Löhne ungemein stark zurückgegangen ist.
Man sieht daher in diesen Kreisen der Bevölkerung dem kommenden Winter mit der größten Sorge entgegen.
Diese schwere Notlage von Millionen von Arbeitern, Arbeiterinnen und Angestellten ist aber auch zu einer innerpolitischen Gefahr höchsten Grades angewachsen. Sie kann nur noch gebannt werden durch eine großzügige Hilfsbzw. Kreditaktion zugunsten dieser von Hunger und Kälte Bedrohten.
Wir beantragen deshalb, schleunigst in Verbindung mit Vertretern der Gewerkschaften eine solche Hilfsaktion einzuleiten.
Wir stellen uns diese so vor, daß allen Arbeitnehmern, Renten- und Unterstützungsempfängern, die Anspruch auf Belieferung erheben, eine der Kopfzahl ihrer Familien entsprechende Menge von Kartoffeln und Kohlen auf dem Wege eines Kredits zur Verfügung gestellt wird3.
Die Bezahlung erfolgt in der Weise, daß den Lohn- und Gehaltsempfängern entsprechende ratenweise Abzüge vom Lohn bezw. Gehalt gemacht werden; bei den Renten- und Unterstützungsempfängern erfolgt Verrechnung auf die Renten und Unterstützungen.
Der Bezug hat zu erfolgen:
a) für die Lohn- und Gehaltsempfänger auf Bezugsscheine, die auf Antrag der Arbeitnehmer von den Arbeitgebern auszustellen sind,
b) für die Unterstützungs- und Rentenempfänger erfolgt die Ausstellung der Bezugsscheine durch die Gemeinden.
Der Bezug kann bei den Kohlen und Kartoffelhändlern oder an besonders errichteten Ausgabestellen erfolgen.
Arbeitgeber bezw. Rentenstellen haben die abgezogenen Beträge jeweils sofort an die Finanzämter abzuführen.
Die zur Belieferung erforderlichen Mengen sind vom Erzeuger gegen Bezahlung in wertbeständigen Zahlungsmitteln zu erwerben. Welcher Organe sich die Reichsregierung zur Vermittelung der abzuschließenden Käufe bedienen will, ist ihrer Beschlußfassung überlassen; irgendwelche Zwangseingriffe in die Landwirtschaft und den Handel brauchen damit nicht verbunden zu sein.
Mit Rücksicht auf den sozialen Charakter dieser Hilfsaktion sind Preiswucher und betrügerische Machenschaften mit schwerer Strafe zu bedrohen.
Durch die hier vorgeschlagene Maßnahme würde der Warenausgleich in Gang gebracht, das zu schaffende wertbeständige Geld zu wirklich produktiven[403] Zwecken verwendet werden; es würde weiter der dringlichsten Not der Bevölkerung abgeholfen4.
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Das Schreiben wurde abschriftlich dem RFM mit der Bitte um Beantwortung im Einvernehmen mit dem REMin. und dem RWiMin. am 16.10.23 zugesandt (R 43 I/1134, Bl. 261). Erst am 19.11.23 wurde aus dem RFMin. die Antwort mitgeteilt, die dorthin mit Schreiben vom 12. 11. durch das REMin. ergangen war: „Die von den Gewerkschaften vorgebrachten Wünsche für die Lebensmittelversorgung der Bevölkerung sind hier am 30.10.23 mit ihnen eingehend besprochen worden. Hierbei wurde den Gewerkschaften kein Zweifel darüber gelassen, daß bei der gegenwärtigen Finanzlage des Reiches eine allgemeine Hilfs- oder Kreditaktion in dem gewünschten, die gesamte arbeitende Bevölkerung umfassenden Rahmen nicht in Frage kommen könne.“ Von einer Beantwortung des Schreibens sei daher abgesehen worden (R 43 I/1134, Bl. 291/292).
Allgemeiner Deutscher Gewerkschaftsbund.
A. Knoll
Allgemeiner freier Angestelltenbund.
W. Stähr
Deutscher Gewerkschaftsbund.
Bernh. Otte
Gewerkschaftsring deutscher Arbeiter-, Angestellten- und Beamten-Verbände.
Leonor Lewin
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