Text
[326] Nr. 72
Der Reichslandbund an den Reichskanzler. 21. September 1923
[Betrifft: Verordnung gegen Steuerverweigerung und Zurückhaltung von Lebens- und Futtermitteln vom 15. September 19231.]
Auf Grund des Artikels 48 der Reichsverfassung ist zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, wie es heißt, unter dem 15.9.1923 eine Verordnung ergangen, die mit Gefängnis nicht unter 1 Monat und unbeschränkter Geldstrafe denjenigen bedroht, der zur Steuerverweigerung und zur Zurückhaltung von Lebens- und Futtermitteln auffordert oder anreizt. Neben Geld- und Gefängnisstrafen soll auch auf Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte anerkannt werden können.
Diese Verordnung hat, soweit sie die Aufforderung zur Zurückhaltung von Lebens- und Futtermitteln betrifft, in den landwirtschaftlichen Kreisen große Befremdung hervorgerufen. Sie läßt erkennen, daß in den Kreisen der Reichsregierung die leider durch hetzerische Presseartikel hervorgerufene, vielfach verbreitete Ansicht geteilt wird, daß auf dem Lande Lebens- und Futtermittel vielfach zum Zwecke der Preistreiberei von der Landwirtschaft zurückgehalten werden und daß unter Landwirten nach dieser Richtung hin gewisse Verabredungen bestehen. Diese Auffassung ist durchaus unzutreffend! Die Landwirtschaft ist unter den heutigen Verhältnissen gar nicht in der Lage, über Gebühr Getreide zurückzuhalten wegen der hohen Betriebskosten und vor allen Dingen wegen der gewaltigen Steuerleistungen, die jetzt von ihr verlangt werden2. Das gilt insbesondere für die größeren und großen Besitzer, die in erster Linie für die Versorgung der Bedarfsgebiete in Frage kommen. Während alles, was der Landwirt kaufen muß, insbesondere Kohle und Eisen, jetzt auf Goldpreis abgestellt worden ist, muß er einzig und allein seine Produkte nach Papiermark abgeben. Er bleibt infolgedessen mit diesen Preisen auch weit unter den Friedenspreisen. Getreide erhält er in Goldmark kaum zu ⅔ des Friedenspreises bezahlt, Kartoffeln noch geringer. Ein sofortiges Abstoßen seiner Ernte würde bei der täglichen fortschreitenden Entwertung des Geldes für die meisten Landwirte den völligen Zusammenbruch bedeuten. So lange der Landwirt nicht in der Lage ist, wie die gesamte Industrie, sich auch auf Goldpreise einzustellen und vor allem die Erlöse seiner Waren wertbeständig anzulegen3, kann es ihm nicht verdacht werden, wenn er seine Produkte, die ihm zum Verkauf bleiben, über das Wirtschaftsjahr verteilt und dieselben, um sich vor Schaden zu bewahren, nur soweit abstößt, als er zur Aufrechterhaltung seiner Wirtschaft bedarf. Andernfalls ist es ausgeschlossen, die Landwirtschaft durchzuhalten[327] und den Schaden einer zusammengebrochenen Landwirtschaft hätte dann in erster Linie wieder die Verbraucherschaft zu tragen.
Reichs-Landbund
Direktion
i. V.
Dr. U. Gerber