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Nr. 86
Der Reichswirtschaftsminister an den Reichsarbeitsminister. 27. September 1923
R 43 I/2187, Bl. 55 Abschrift1
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Die Abschrift ist nicht unterschrieben, wohl aber das Anschreiben v. Raumers an den RK (R 43 I/2187, Bl. 56).
[Betrifft: Verlängerte Arbeitszeit im Bergbau.]
Bereits mit meinem Schreiben vom 28. Juli 1923 […] habe ich auf die ernste Lage hingewiesen, die durch die Verschlechterung der deutschen Steinkohlenbilanz[392] während des Ruhreinbruchs eingetreten ist2. Ich habe darauf aufmerksam gemacht, daß die Deckung des nach den Verbrauchsziffern der Monate Juni bis Dezember 1922 ermittelten Steinkohlenbedarfs des unbesetzten Deutschlands unter Einrechnung der Eingänge an Auslandskohle auf 73,1% und bei Berücksichtigung der Steinkohlenlieferungen aus dem unbesetzten Deutschland auf 28,3% gesunken ist.
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Das Schreiben befindet sich in R 43 I/2187, Bl. 13–15. RWiM Becker hatte darin ein Schreiben des RKohlenKom. über die Kohlenlage im unbesetzten Deutschland zusammengefaßt und den RArbM gebeten, mit den Bergarbeiterverbänden über das Verfahren von Überschichten zu verhandeln.
Die Verschärfung der Devisenlage hat mich gezwungen, die Einfuhr ausländischer Kohle soweit als irgend angängig abzudrosseln. Umso dringender wird die Notwendigkeit, die einheimische Förderung nach Möglichkeit zu steigern. Demgegenüber zeigt die in der Anlage in drei Exemplaren beigefügte Zusammenstellung über die Steinkohlenförderung in Westfalen, Sachsen und Oberschlesien3, daß die Leistung des Arbeiters je Kopf und Stunde nicht nur gegenüber der Friedensleistung, sondern – in Sachsen und in den Randrevieren Westfalens – sogar noch während der Zeit des Ruhreinbruchs erheblich zurückgegangen ist4.
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Diese Zusammenstellungen (R 43 I/2187, Bl. 57–637) wurden vom RWiM noch einmal verwendet, als er seinen VOEntw. zur Aufhebung der Kohlensteuer einbrachte (s. Anm. 23 zu Dok. Nr. 128).
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Die Förderleistung, die im Ruhrgebiet 1913 im Tagesdurchschnitt 1823 t betragen hatte, war im August 1923 auf 1702 t herabgesunken (R 43 I/2187, Bl. 59). Im Oberschlesischen Revier hatte die Arbeitsleistung 1913 bei einer 9½-Stunden-Schicht pro Kopf und Stunde 188,0 kg betragen, im Juli 1923 betrug sie bei einer 7½-Stunden-Schicht noch 126,7 kg (R 43 I/2187, Bl. 61–62). Im sächsischen Steinkohlenbergbau war gegenüber 1913 mit einem Monatsdurchschnitt von 690 kg je Kopf der Belegschaft die Förderung bei einer 7-Stunden-Schicht im Juni 1923 auf 350 kg abgesunken (R 43 I/2187, Bl. 63).
Ich bin der Auffassung, daß keine Zeit mehr verloren werden darf, um die deutsche Kohlenwirtschaft wieder in Ordnung zu bringen. Hierzu zwingt insbesondere die Notwendigkeit, demnächst und zwar unter sehr erschwerten Arbeitsbedingungen die Kohlenlieferungen an die Entente aufzunehmen. Der Förderrückgang des Jahres 1922 gegenüber dem Frieden betrug allein für das Ruhrrevier rd. 18 Millionen t Steinkohle und für den gesamten deutschen Steinkohlenbergbau erheblich mehr als unsere Lieferungen an Reparationskohle. Es hilft nichts, die Augen vor der Tatsache zu verschließen, daß wir die Reparationskohlenlieferungen, mit denen wir zu rechnen haben, nur dann leisten können, wenn wir mindestens wieder die Friedensförderung erreichen. Um zu diesem Ziel zu gelangen, wird es weniger darauf ankommen, die Arbeitszeit in der Form von Überschichten zu verlängern5, als die Leistung je Zeiteinheit zu erhöhen. Insbesondere scheint es mir erforderlich, die Leistungen der Arbeiter über Tage zu steigern und aus dem Betrieben überflüssige oder arbeitsunwillige Belegschaftsmitglieder zu entfernen. Hierfür werden mit größter[393] Beschleunigung die erforderlichen gesetzlichen Grundlagen zu schaffen sein6.
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Am 16.8.23 hatte der RArbM dem StSRkei mitgeteilt, daß mit Gewerkschaftsführern Vorbesprechungen über die Wiedereinführung von Überschichten im Kohlenbergbau im unbesetzten Deutschland stattgefunden hatten. „Die entgegenstehenden Schwierigkeiten sind angesichts der in der Arbeiterschaft z. Z. herrschenden Stimmung außerordentlich.“ Die Bemühungen würden nachdrücklich fortgesetzt (R 43 I/2187, Bl. 34). S. a. Dok. Nr. 111.
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Vgl. hierzu die Ausführungen des RArbM in Dok. Nr. 97, P. d.
Neben einer Erhöhung der Fördermenge muß eine starke Verbilligung der Kohle angestrebt werden, die ebenfalls nur durch eine Erhöhung der Leistung erzielt werden kann. Wenn auf einer Tonne Kohle infolge der geringen Arbeitsleistung so gewaltige Lohn- und Materialkosten wie im Augenblick liegen, ist an eine Verbilligung nicht zu denken7. Bei Verwendung derartig teurer Kohle muß das deutsche Wirtschaftsleben dauernd zur Untätigkeit verurteilt sein.
In einer Steigerung der Leistung im Steinkohlenbergbau sehe ich das Kernproblem der Gesundung unserer Wirtschaft und der Möglichkeit, Reparationen zu leisten. Man muß sich darüber klar sein, daß der Zusammenbruch der deutschen Wirtschaft unvermeidlich ist, wenn das Problem der Steigerung der Arbeitsleistung im Bergbau nicht unverzüglich gelöst wird8.
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RegR Grävell bemerkte in einem Referat dieses Schreibens vom 30.9.23, der Gedanke, „daß die Produktionssteigerung ganz allgemein notwendige Voraussetzung für den Beginn einer Gesundung ist“, solle in die vom RK vorgesehene „Programmrede“ aufgenommen werden. Am 9. 10. fügte er hinzu: „Im Rahmen der allgemeinen Regelung behandelt. Weitere Schritte sind abzuwarten“ (R 43 I/2187, Bl. 64). Zum Fortgang s. Dok. Nr. 95.