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[387] Nr. 84
Der Vertreter der Reichsregierung in München an die Reichskanzlei, 27. September 1923
Inhalt: Die Ausnahmeverordnung in Bayern1.
Streng vertraulich!
Der Ministerpräsident, den ich heute früh aufsuchte, rechtfertigte die Erklärung des Ausnahmezustandes mit der sehr bedrohlichen Lage, die er bei seiner Rückkehr von Berlin vorgefunden und festgestellt habe2. Die Kampfverbände hätten vor dem Beschluß gestanden, im Anschluß an die am Abend des 27. [9.] stattfindenden Massenversammlungen loszuschlagen. Diese Bewegung sei nicht sowohl auf Hitler oder andere Führer zurückzuführen, als auf die nichtleitenden Anhänger, die nicht länger untätig bleiben wollten. Der vollkommen unklare Gedanke sei dabei gewesen, Bayern lediglich als Aufmarschgebiet zu betrachten, um von hier aus in Berlin „Ordnung“ zu schaffen. Um einen derartigen Putsch und das sonst unvermeidliche Blutvergießen zu verhindern, habe infolgedessen der Ministerrat gestern Abend die Erklärung des Ausnahmezustandes beschlossen. Wegen der Person des Generalstaats-Kommissars habe man auch eingehende Erwägungen gepflogen. Der Minister des Innern3 sei wegen seiner Unbeliebtheit nicht nur bei der Rechten, sondern auch bis in die mittleren Parteien nicht in Frage gekommen. Seine Wahl würde nur Öl ins Feuer gegossen haben. Die Persönlichkeit des Herrn von Kahr habe sich dadurch besonders empfohlen, daß er das Vertrauen der vaterländischen Verbände in weitestgehendem Maße genösse, außerdem sich selbst bereits vor einigen Wochen für den Notfall der Regierung zur Verfügung gestellt habe. Es sei zu erwarten, daß er am allerersten ohne Blutvergießen seine Anordnungen durchsetzen und die Ordnung aufrechterhalten könne, da es nicht wahrscheinlich sei, daß die Verbände gegen ihn gehen würden4.
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Dies war auch in einem Telefongespräch des bayer. Gesandten von Preger der Rkei mitgeteilt worden, bevor der Reichsausnahmezustand bekannt wurde. Pregers weitere Ausführungen entsprechen den Angaben im ersten Absatz dieses Schreibens (R 43 I/2218, Bl. 137).
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Franz Schweyer; zu seiner Stellung in Bayern s. E. Deuerlein, Der Hitlerputsch, S. 47.
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Vom RKom. für Überwachung der öffentlichen Ordnung war auf Anfrage dem StSRkei am 25.8.23 mitgeteilt worden: „In Bayern haben sich ungefähr 20 vaterländische Vereine unter dem Namen ‚Vaterländische Verbände Bayerns‘ zusammengeschlossen. An ihrer Spitze steht Professor Bauer. Ihr Ehrenpräsident ist Regierungspräsident von Kahr. Die Tendenzen der verschiedenen den bayerischen Verbänden angeschlossenen Vereine sind durchaus nicht einheitlich. Im ganzen kann man sagen, daß die ‚Vereinigten vaterländischen Verbände Bayerns‘ alle rechtsgerichteten und deutschvölkische Vereinigungen in Bayern darstellen. Diese vaterländische Verbände Bayerns sind bei verschiedenen Kundgebungen an die Öffentlichkeit getreten, die ausgesprochen politische Forderungen enthielten. So wurde z. B. am 8.12.22 eine Resolution der vaterländischen Verbände veröffentlicht, die folgende Forderungen enthielt: 1.) Auflösung des Gesetzes zum Schutz der Republik, 2.) Errichtung des Bayrischen Staatspräsidiums mit vollen Befugnissen, 3.) Vorlage eines Gesetzes über den Volksentscheid, 4.) Ausweisung aller fremdstämmigen Elemente, besonders aller vor [!] 1915 ansässigen Ostjuden, 5.) Maßnahmen gegen Wucher und Schiebertum, 6.) Festsetzung der Todesstrafe für derartige Vergehen, 7.) Wiedereinführung der Farben schwarz-weiß-rot“ (R 43 I/2679, Bl. 53–54). Vgl. E. Deuerlein, Der Hitlerputsch, S. 58 ff.
[388] Auf meine Frage, ob nicht aber auch eine andere Möglichkeit vorläge, daß Herr von Kahr, der gerade von den rechtsgerichteten Kreisen als der künftige Diktator und Wegbahner für die Monarchie bezeichnet werde, nunmehr die Gelegenheit benutzen, um unter Beseitigung der legitimen Regierung sich zum alleinigen Machthaber aufzuwerfen, meinte Herr von Knilling, die Wahl des Herrn von Kahr sei allerdings ein „Wagestück“ und er persönlich sei nicht leichten Herzens hierzu geschritten. Immerhin sei Herr von Kahr nicht der Mann, der schnell verzweifelte Entschlüsse fasse und durchführe, seine Stärke bestehe mehr in der Hartnäckigkeit des Neinsagens. Auch bestände schließlich die legitime Regierung, das Parlament usw. fort. Sie würden selbstverständlich in fortwährender Verbindung mit Herrn von Kahr bleiben und sie hätten keinen Grund, dessen Loyalität anzuzweifeln.
Schließlich erklärte Herr von Knilling, er sei sich wohl bewußt, daß die Sozialdemokraten in Berlin gegen die bayerische Ausnahme-Verordnung Sturm laufen und ihre Aufhebung verlangen würden. Er hoffe dringend, daß dieser Versuch nicht gemacht werde, denn man würde die Bayerische Regierung außerordentlich „bockbeinig“ finden. Es würde der Abdankung seiner Regierung gleichkommen, wenn sie auf eine derartige Anordnung von Berlin hin den Ausnahmezustand aufheben würde5.
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In einer Unterhaltung führte der Leiter der Münchener Amtlichen Pressestelle Dr. Eisele am 30.9.23 aus, „daß der Generalstaatskommissar von Kahr unbedingt eine bayerische Politik gegen die Sozialdemokratie führen wolle und werde. Zu diesem Zweck sei er bestrebt, alle rechts von der Sozialdemokratie stehenden Gruppen in einer Einheitsfront zur Bekämpfung der Sozialdemokratie zusammenzufassen. Das Problem, das in Bayern jetzt zur Entscheidung stehe, sei: Kann Bayern seine Reichspolitik treiben gegen die Sozialdemokratie oder wird es dabei vom Reiche behindert werden? Im letzteren Falle würden Konflikte unvermeidlich sein“ (Aufzeichnung Kieps; R 43 I/2218, Bl. 115).
Herr von Knilling betonte ausdrücklich, daß seine Maßnahmen in keiner Weise bestimmt seien, gegen Berlin zu frondieren, im Gegenteil, er hoffe, der Reichsregierung dadurch zu helfen, daß er in Bayern die Ordnung aufrecht erhalte. Dies müsse er aber unter Berücksichtigung der bayerischen Mentalität und der hiesigen innerpolitischen Lage auf seine Weise vornehmen. Aus ähnlichen taktischen Gründen habe er auch den Pressevertretern gegenüber so ausführlich dargelegt, in welchen Punkten seine Ansichten bei der Besprechung der Ministerpräsidenten in Berlin6 abgewichen seien. Er sei hier bei seiner Rückkehr schon als halber Landesverräter betrachtet worden.
Bei meiner Besprechung mit Herrn von Knilling war diesem noch nicht bekannt, daß auch seitens der Reichsregierung der Ausnahmezustand verhängt worden ist. Auftragsgemäß habe ich ihm dieses sofort telephonisch mitgeteilt und dabei betont, daß die Maßnahme nicht gegen Bayern gerichtet, sondern veranlaßt sei durch die Möglichkeit von Unruhen in den verschiedensten Teilen des Reiches7. Ich würde es, wie ich bereits telephonisch nach Berlin übermittelte,[389] für sehr bedenklich halten, wenn etwa aus dem Nebeneinanderbestehen der beiden Ausnahmeverordnungen ein Konflikt mit der Bayerischen Regierung entstünde. Die Bayerische Regierung ist tatsächlich aus innerpolitischen Grüden nicht in der Lage, ihre Verordnung zu Gunsten der Verordnung der Reichsregierung aufzuheben. Andererseits zwang der Ernst der Lage zu raschem Handeln. Die Wahl des Herrn von Kahr war ein vielleicht gewagter, aber geschickter Schachzug, um die rechtsradikale Bewegung abzufangen oder zum mindesten Verwirrung in ihre Reihen zu tragen8. Inzwischen sind auf Anordnung des Generalstaatskommissars die heutigen Hitler-Versammlungen verboten worden, so daß an der ernstlichen Durchführung der Verordnung durch Herrn von Kahr nicht zu zweifeln ist. Die Kampfverbände hatten sich heute Vormittag ihre Stellungnahme vorbehalten9. Die Regierung erwartet, Herrin der Lage zu sein und zu bleiben. Sie hatte auch bereits, und zwar vor Erlaß der Berliner Ausnahmeverordnung, zwei Bataillone Reichswehr und mehrere Hundertschaften auswärtiger Schupo nach München berufen10. Eine möglichst rasche und umfassende Verständigung zwischen dem Reichswehrminister und dem bayerischen Generalstaatskommissar und Belassung des Herrn von Kahr in seiner Stellung würde ich empfehlen.
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In einer telefonischen Mitteilung der Reichsvertretung in München vom 27.9.23, 22 Uhr wurde ausgeführt: „Der Ministerpräsident von Knilling ist sehr beunruhigt gewesen über die Mitteilungen, die Herr von Haniel nach seinem Gespräch mit dem Herrn Reichskanzler dem Bayerischen Ministerpräsidenten gemacht hat.“ Die auf Befehl von Kahrs abgesagten Hitlerveranstaltungen seien unterblieben. In der Stadt patrouilliere Militär (R 43 I/2218, Bl. 101).
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Im Rückblick auf diese Ereignisse notierte RegR von Stockhausen in sein Tagebuch am 13.10.23: „Herr von Kahr ist der Führer der vaterländischen Verbände in München. Er steht in einem gewissen Gegensatz zu Adolf Hitler, dem Führer des Kampfbundes der Vaterl. Verbände. Hitler, hinter dem Ludendorff stehen soll, vertritt die schärfste und radikalste Richtung der Rechtsbewegung in Bayern, […]“ (BA: NL von Stockhausen 5); vgl. E. Deuerlein, Der Hitlerputsch, Dok. Nr. 13.
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S. dazu Dok. Nr. 87.
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S. E. Deuerlein, Der Hitlerputsch, Dok. Nr. 12.
Haniel