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[398] Nr. 89
Bericht des Reichspostministers über Lage und Aussichten der separatistischen Bewegung in Düsseldorf. [28. September 1923]1
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Diesem Bericht hatte der RPM ein Schreiben an den RK beigefügt, s. Anm. 10 zu Dok. Nr. 97: „Mein Vertrauensmann bittet die Angaben vertraulich zu behandeln und dafür zu sorgen, daß sie nicht weiter bekannt werden, namentlich auch nicht in die Presse kommen. Wenn diese Angaben als persönliche Äußerungen der Führer auch vielfach Wünsche als Tatsachen vorwegnehmen und dementsprechend mit Vorsicht zu bewerten sind, glaubte ich doch, davon Vermerk nehmen zu sollen, damit sie mit andern dem Kabinett vorliegenden Meldungen verglichen werden können“ (R 43 I/215, Bl. 250).
Die bisher vorhanden gewesenen drei Richtungen der Separatisten haben sich zu einer Arbeitsgemeinschaft unter der Führung des Redakteurs Matthes aus Düsseldorf zusammengeschlossen2. Der föderalistische Gedanke ist aufgegeben, man hat sich auf einen autonomen Staat nach dem Muster der Schweiz geeinigt. Für das Elsaß sucht man Ersatz in Westfalen. Die Grenzen sollen voraussichtlich mit dem jetzigen besetzten Gebiet, von kleinen Abänderungen abgesehen, zusammenfallsen. Als Hauptstadt ist Koblenz, als Ausfuhrhafen Antwerpen in Aussicht genommen. Mit den Engländern hat man sich vor 14 Tagen dahin verständigt, daß sie den Franzosen freie Hand lassen würden3. Die Belgier sind nicht einverstanden, da sie ein Wiederaufflammen der flamischen Bewegung4 befürchten. Als Machtmittel stehen den Separatisten gut ausgebildete, mit Gummiknütteln und Revolver ausgerüstete Stoßtrupps unter der Führung von Eifeler Bauernsöhnen in grüner Jägeruniform zur Verfügung.[399] Am Düsseldorfer Sonntag5 sollen die Mannschaften grün-weiß-roten Armbinden mit Aufschrift „R. S.“ (Rheinischer Schutz), die Offiziere Samtbinden mit Sternabzeichen tragen. Generalissimus ist Sauer Düsseldorf. Waffenscheine würden vom jeweiligen Ortsdelegierten ausgestellt. In Krefeld sollen Maschinengewehre und zwei Kanonen bereitstehen.
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Gemeint sind Dortens Rheinische Volksvereinigung, Smeets’ Rheinisch Republikanische Volksvereinigung und Matthes’ „Frei Rheinland“ bzw. Rheinischer Unabhängigkeitsbund. Nach Dortens Memoiren trafen Vertreter der drei Organisationen in Koblenz am 15.8.23 zusammen und gründeten dort die „Vereinigte Rheinische Bewegung“ (BA: ZSg 105/4, Bl. 157, 159).
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Demgegenüber ist in einem von dem ehemaligen Staatsanwalt O. Jung nach 1940 in Paris kopierten Schreiben aus London, Nr. 468 vom 27.9.23 (wahrscheinlich der frz. Botschafter St. Aulaird an Poincaré), davon die Rede, daß englischerseits Bedenken gegenüber den separatistischen Bestrebungen bestünden, da durch sie der frz. politische und wirtschaftliche Einfluß verstärkt werde auf Kosten des englischen. „Nous ne devons donc pas nous étonner ne voir certains agents anglais entretenir des raports avec des séparatistes, nie même quelques uns de ces Messieurs convoqués par le Délégué britannique à Cologne. […] Je doute fort pour ma part qu’il ait été question d’ériger sur les bords du Rhin une zone libre, sphère d’influence anglaise“ (BA: ZSg 105/10, Bl. 2–4).
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Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts hatte die flämische Bewegung eine größere Selbständigkeit Flanderns im Rahmen des belg. Königreichs sowie die Gleichberechtigung der niederländischen und der frz. Sprache gefordert. Unter der dt. Besatzung entstand seit 1914 die Gruppe der Aktivisten, die im Jahr 1917 den Rat von Flandern bildeten und die flandrische Unabhängigkeit erklärten. Gegen die Vereinigung wie gegen andere flandrische Autonomisten wurden nach Kriegsende zahlreiche Verfahren eingeleitet und Hochverratsprozesse geführt. Dennoch verfügte die flämische Bewegung in der Kammer seit 1921 über etwa 80 sympathisierende Abgeordnete. – Der dt. Geschäftsträger Rödiger hatte aus Brüssel am 28.8.23 gemeldet, bei der Erörterung des rheinischen Problems sähen die flämischen Organe im Separatismus ein frz. Werk, da die Mehrzahl der Rheinländer sich nicht von Deutschland lösen wolle. Von Frankreich werde die wirtschaftliche Not Deutschlands genutzt, um im Trüben zu fischen. Diejenigen Belgier, die gegen Deutschland eingestellt seien, setzten ebenfalls ihre Hoffnungen auf die wirtschaftlichen Schwierigkeiten Deutschlands und hofften, Antwerpen werde der Hafen der Rheinischen Republik. Außenminister Jaspar zeige wie seine flämischen Kabinettsmitglieder wenig Interesse an einem frz. beherrschten Rheinland. Selbst die frz. orientierten Politiker würden in der Abtrennung des Rheinlandes die Gefahr erkennen, daß dadurch der Revanchegedanken in Deutschland wachse. „Aber je mächtiger Frankreich an der Ruhr und am Rhein wird, um so weniger ist Belgien in der Lage, eine seinen eigenen Interessen dienende Politik zu führen. Es könnten daher sehr wohl in der politischen Entwicklung Umstände eintreten, die Belgien wider seinen Willen, auch in Bezug auf die rheinische Frage, in den Strudel der französischen Politik hineinziehen, wenn nicht eine stärkere Macht dafür eintritt, daß Belgien an ihrer Seite eine auf seine wirklichen Interessen gestützte Politik auch gegen Frankreich verfolgen kann.“ Am 9.10.23 teilte Rödiger mit, während die Nationalisten auf Zersetzungserscheinungen in Deutschland hofften und die Flamen eine Stellungnahme gegen den Separatismus verlangt hätten, habe die belg. Regierung in dieser Frage eine Neutralitätserklärung abgegeben (Pol. Arch.: Pol. Abt. II: Bes. Gebiet: Besetztes Rheinland, Politische Angelegenheiten, Bd. 18).
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Gemeint ist die Kundgebung der Separatisten am 30.9.23; vgl. dazu Dok. Nr. 94.
Der Anhang der Separatisten besteht aus Kleinbürgern, kaufmännischen Angestellten aller Betriebe und kleinen Industriellen in großer Zahl, im übrigen aus der Hefe der Bevölkerung. Beamte sind einstweilen nicht allzu zahlreich, man hofft auf deren späteren Umfall6. Seit Einigung der verschiedenen Richtungen, hat die Bewegung dank geschickter Propaganda und der durch die Besatzung verursachten Verkehrshemmungen außerordentlichen Boden gewonnen. Die Kölner Börse mit ihrem hohen Dollarstand, der allein für die Preisgestaltung im Rheinland maßgebend ist, wirkt für die Separatisten in allen Handelskreisen. In der Düsseldorfer Bevölkerung schimpft man immer lauter auf die „Berliner Mißwirtschaft“, „Parteiklüngel“ usw. Die Gründe für die Abkehr von Berlin sind meist persönlicher, rein materialistischer Natur. Von Preußen fürchtet man Geschäfts- und Verdienstrückgang, von einem selbständigen Rheinland erhofft man Reichtum und Wohlergehen, besonders wenn der Industriebezirk zum neuen Staat gehört7. Man weiß, daß die französische Besatzung[400] zunächst noch ertragen werden muß, macht hierfür aber die deutsche Regierung verantwortlich, die das Rheinland als Pfand verraten und verkauft habe. Bei den Arbeitern ist die Stimmung geteilt; es besteht nicht immer restlose Gefolgschaft den Führern gegenüber. Größere Geschäfte haben Fahnentuch, Papier für Geschäftsbetrieb und auch bares Geld gestiftet.
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Der RPM berichtete in seinem Schreiben an den RK vom 1.10.23: „Hinsichtlich der Stellung, die das Personal gegenüber der separatistischen Bewegung einnimmt, lassen sich aus den Äußerungen, die in den öffentlichen Versammlungen gefallen sind, keine zuverlässigen Schlüsse ziehen. Alle Redner, die die Frage berührt haben, betonten in zum Teil erhebenden Worten ihre unwandelbare Treue zum Reich und zur verfassungsmäßigen Regierung. In den Bezirken Münster und Dortmund dürften die Separatisten unter dem Beamten auch wohl kaum eine nennenswerte Zahl von Anhängern besitzen. Im Düsseldorfer Bezirk liegen die Verhältnisse vielleicht nicht so günstig“ (R 43 I/215, Bl. 249).
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In der Erklärung der „Vereinigten Rheinischen Bewegung“ vom 15.8.23 hieß es entsprechend: „Wir verurteilen aufs schärfste die Versuche Berlins, unsere Bevölkerung zur Rache aufzureizen und in das Elend zu schleudern. Wir sind freie Rheinländer, wir lassen uns nicht verkaufen, sondern wollen selbst unser Geschick bestimmen. Deshalb verlangen wir die Ersetzung des Reichskommissars und seines parlamentarischen Beirats durch einen wahrhaft rheinischen Beirat. Dieser Beirat wird für die Wiederaufrichtung des völlig erschütterten Wirtschaftslebens Sorge tragen und eine Rheinische Währung schaffen, die das einzige Mittel bedeutet, um der Hungersnot und den Berliner Bestechungsmethoden zu entgehen“ (BA: ZSg 105/4, Bl. 155). Dem Präsidenten der Interalliierten Rheinlandkommission Tirard wurde am gleichen Tag eine Adresse übergeben, in der es u. a. hieß: „Infolge der Berliner Machenschaften ist das Elend der rheinischen Bevölkerung derart gestiegen, daß eine Hungersnot unvermeidlich erscheint; das Wirtschaftsleben des Landes sieht sich dem Zusammenbruch ausgesetzt. Sollte diese Lage nicht rasch beseitigt werden, so sind Aufstände zu befürchten, die die Sicherheit der Besatzungstruppen in Gefahr bringen könnten. Nur durch die sofortige Schaffung einer rheinischen Währung würde man den schädlichen Einfluß Berlins brechen können, das versucht, sich der Reparationsschuld zu entziehen“ (BA: ZSg 105/4, Bl. 156).
Die Beamten sind innerlich überwiegend Preußen und Deutschland treu, jedoch durch Presseangriffe auf „wohlerworbene Rechte“, durch die Einstellung der Vierteljahrszahlung und die unzeitige Veröffentlichung des Beamtenabbaugesetzes stark verärgert. Von Matthes wird das Verhalten der Regierung in diesem Augenblick gegenüber den Beamten als äußerst günstig für seine Bewegung bezeichnet. Er selbst verspricht goldene Berge, Beförderung um 1 bis 2 Stufen, Wahrung aller bisherigen Beamtenrechte. Nach der Erklärung von Matthes sollen sich ihm zahlreiche untere und mittlere Beamte zur Verfügung gestellt haben, aber auch einige höhere Beamte, darunter in Düsseldorf ein Regierungsrat bei der Regierung, ein Landgerichtsrat und ein Oberpostrat (es war nicht festzustellen, wer dies sein soll). Namen wollte Matthes nicht nennen. Alle Verfügungen, auch die geheimsten will er besitzen. Die Beamten sollen nicht mit Gewalt, sondern zunächst mit Güte gewonnen werden. Nach Wiederaufnahme der Betriebe usw. sollen Kontrollpersonen die einzelnen Beamten beobachten. Nach geringer Zeit würden sie dann für die Republik verpflichtet oder ausgewiesen. Blaue Polizei habe durch einzelne Kommissare in allen größeren Städten bereits neutrales Verhalten bei Staatsstreich zugesichert. Auch der neue Oberbürgermeister für Krefeld, ein jetziger Beigeordneter, sei z. B. schon vorgesehen. Matthes nimmt an, daß die überwiegende Mehrzahl aller Beamten trotz inneren Widerstrebens sich mit der vollendeten Tatsache eines Staatsstreiches abfinden und ihre Arbeit weitertun würde. Entscheidend würde das Verlangen, in der Heimat zu bleiben und die größere Aussicht auf wirtschaftliche Sicherung sein. In den Kreisen der Beamten fürchtet man, daß Preußen und das Deutsche Reich die ausgewiesenen Beamten nicht mehr unterbringen und ernähren könne, wenn eine Massenauswanderung komme. Der Gesamteindruck ist, daß etwa 60% der rheinischen Bevölkerung mehr oder weniger mit dem Gedanken der Loslösung von Preußen liebäugelt. Matthes behauptet, es sei ein größerer Prozentsatz, besonders in Duisburg, Mühleim und Oberhausen beständen gute Erfolgsaussichten8. Von den Beamten sind die meisten Föderalisten, d. h. Anhänger eines selbständigen Bundesstaates im Rahmen des Deutschen Reichs.
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Matthes arbeitete vor allem von Düsseldorf aus und erfaßte mit seiner Organisation „Freies Rheinland“ auch das besetzte Ruhrgebiet.
[401] Man wollte noch vor dem 1. Oktober losschlagen, wenn es in Bayern zum separatistischen Staatsstreich gekommen wäre. Die Verbindung mit Bayern war hergestellt. Vor 8 Tagen ist eine entsprechende Anfrage deshalb zusagend beantwortet worden. Nunmehr werde, wenn Bayern ruhig bleibt, am Sonntag, den 30. September, in Düsseldorf nur ein Werbesonntag in großer Aufmachung stattfinden9. Der Staatsstreich ist in einigen Wochen geplant. „Erst sollen die Preußen einmal frieren.“ Man hofft auch, an der Kölner Börse die Mark noch weiter zu drücken. Für Montag, den 1. Oktober, ist ein Margarinepreis von 90 Millionen M prophezeit. Wenn die Bevölkerung durch Teuerung weiter zermürbt, eine große Arbeitslosigkeit herbeigeführt ist und die Ruhrhilfe dann versagt, sei der geeignete Zeitpunkt da. Voraussichtlich werde die Sache in Düsseldorf, Krefeld und Gladbach zunächst losgehen, darauf werde man mit Stoßtrupps etappenweise vorrücken. Der Koblenzer Plan, gleichzeitig an 15 Orten loszuschlagen, ist wegen zu großer Zersplitterung fallen gelassen. Wenn der Staatsstreich gelungen, soll das Rheinland sofort mit Lebensmitteln aller Art überschwemmt werden, die schon jetzt in großen Lagern an der französischen Grenze bereitliegen. Hierdurch hofft man endgültig festen Fuß fassen und die Masse der Bevölkerung von den Vorteilen der Rheinischen Republik überzeugen zu können.
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Der Vorschlag, in Düsseldorf einen „rheinischen Tag“ der Separatisten zu veranstalten, ist nach Dortens Erinnerungen von Matthes ausgegangen. Dorten berichtet, daß die Unruhen, die anläßlich dieser Veranstaltung stattfanden und mehrere Todesopfer unter der Düsseldorfer Polizei und den „Sonderbündlern“ forderten, von Stoßtrupps ausgelöst worden seien, die der in Barmen tätige RegPräs. Grützner in Schupo-Uniformen und als Provokateure entsandt habe (BA: ZSg 105/4, Bl. 158 f.). Demgegenüber berichteten die Presse und Augenzeugen, daß die Unruhen durch die Separatisten ausgelöst worden seien, als sie versuchten, die Düsseldorfer Polizei zu entwaffnen. Zur Unterstützung der vor der sich verteidigenden Polizei zurückweichenden Sonderbündler seien dann frz. Truppen eingesetzt worden (Wentzcke, Ruhrkampf II, S. 165 ff.; L. Zimmermann, Frankreichs Ruhrpolitik, S. 232 f.; Schultheß 1923, S. 184; „Die Zeit“, Nr. 227 vom 1.10.23).