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[1137] Nr. 363
Der Reichspräsident an den Reichskanzler. 3. Dezember 19271
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Eine Abschrift dieses Schreibens ist abgedr. in: Borcke-Stargordt, Der ostdeutsche Landbau zwischen Fortschritt, Krise und Politik, S. 36 ff.
[Hilfsaktion für Ostpreußen.]
Sehr geehrter Herr Reichskanzler!
Die Einblicke in die derzeitigen Zustände Ostpreußens, die ich durch eigene Anschauungen, durch zahlreiche Besprechungen mit führenden Männern der Provinz und durch tägliche Zuschriften von dort erhalten habe, machen mich um das Schicksal Ostpreußens außerordentlich besorgt2. Die große Gefahr, die ich hier sich entwickeln sehe, legt mir die Verpflichtung auf, die Reichsregierung nachdrücklichst auf den außerordentlichen Ernst der Lage in diesem Grenzgebiet hinzuweisen und sie eindringlich zu bitten, mit aller Beschleunigung hier auf gründliche Hilfe bedacht zu sein.
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Die an den RK gerichteten Eingaben ostpr. Institutionen, Verbände und Persönlichkeiten aus dem Jahre 1927 mit Anträgen auf Unterstützung der ostpr. Wirtschaft, insbesondere der ostpr. Landwirtschaft, befinden sich in R 43 I/1798, 1852 und 1853. Siehe dazu: Hertz-Eichenrode, Politik und Landwirtschaft in Ostpreußen 1919–1930, S. 221 ff.
Ostpreußen ist durch die Abtrennung vom Mutterlande in Verbindung mit seiner insularen und entfernten Lage in viel höherem Maße geschädigt, wie dies bei anderen Gebieten des Reichs durch den Versailler Vertrag geschehen ist. Ostpreußen ist die preußische Provinz mit der größten landwirtschaftlichen Nutzfläche, aber ungünstigem Klima, Mangel an industriellen Rohstoffen und wenig günstigen Verkehrsverhältnissen. Der fast einzige Wirtschaftserwerbszweig der ganzen Provinz ist die Landwirtschaft, die – wie ich zur Behebung falscher Auffassungen betone – zur Hälfte im mittelbäuerlichen Besitz, zu einem Viertel im kleinbäuerlichen und nur zu einem Viertel im Großgrundbesitz liegt. Die gesamte Landwirtschaft Ostpreußens, von der mittelbar oder unmittelbar fast 90% der Bevölkerung lebt, ist durch die Ungunst der letzten Jahre in eine Schuldenlast geraten, aus der sie sich selbst nicht mehr lösen kann, und die sie in einen Zustand der Mutlosigkeit und in ein Gefühl der Verlassenheit versetzt hat. Die Schuldenlast Ostpreußens ist allein im Jahre 1927 um 80 Millionen Mark = mindestens 20% der Gesamtverschuldung gestiegen gegenüber einem Reichsdurchschnitt von 10%. Dabei sind die neu aufgenommenen Schulden vielfach nicht zur Erhaltung oder Förderung der Bodenerzeugung,[1138] sondern nur zur Deckung des dringendsten Wirtschaftsdefizits aufgenommen worden, haben also nicht zu einer Wertsteigerung geführt. Die Arbeit und die Produktion der Landwirtschaft leidet hierunter aufs schwerste, die politische Stimmung wird täglich erbitterter, die Notlage des Einzelnen immer größer, und ich fürchte, daß, falls jetzt nichts geschieht, das verarmte und sich verlassen fühlende Land in verzweifelter Stimmung den Mut zur Selbstbehauptung verliert und eines Tages eine Beute des immer auf der Lauer liegenden polnischen Nachbarn wird. Dann aber ist auch die Schlacht von Tannenberg umsonst geschlagen!
Die Reichsregierung hat durch ihren Beschluß der letzten Tage beim Reichsministerium des Innern eine Zentralstelle für Ostpreußen eingerichtet, welche sich mit den ostpreußischen Wünschen und Nöten befassen und Vorschläge zur Besserung der Lage machen soll3. Durch diese neue Einrichtung sind zwar die Wünsche Ostpreußens nach einer besonderen Vertretung nur in einem sehr bescheidenen Maße erfüllt worden; die Mißstimmung, die über diese geringe Berücksichtigung erneut in der Provinz entstanden ist4, kann aber beseitigt werden, wenn diese Stelle schnelle und gute Arbeit leistet und den Anfang einer wirksamen Hilfsaktion bildet. Ich wäre Ihnen, Herr Reichskanzler, und dem Herrn Reichsminister des Innern dankbar, wenn Sie nach dieser Richtung die neue Verwaltungsstelle für Ostpreußen mit Weisungen versehen wollten.
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Siehe Dok. Nr. 357, P. 3.
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In einem Schreiben des Präs. der Landwirtschaftskammer für die Provinz Ostpreußen, Brandes, vom 21.12.27 an den RK heißt es: „Nachdem es durchgesickert ist, daß Ostpreußen weder einen Minister für Ostpreußen nach Analogie der besetzten Gebiete, noch einen Staatssekretär direkt unter dem Reichskanzler erhält, sondern daß an Ostpreußen nur ein Ministerialrat als Dezernent unter einem Ministerialdirektor im Innenministerium konzediert ist, ist die Enttäuschung in der Provinz noch weit größer, als ich befürchtet hatte. Der Hinweis darauf, daß heute aus Sparsamkeitsgründen keine neuen Stellen geschaffen werden sollen, zieht hier nicht […]“ (R 43 I/1853, Bl. 85–86).
Für die Hilfsaktion, die nun begonnen werden muß, ist erste Voraussetzung, daß die Reichsregierung durch einen einstimmigen Beschluß anerkennt, daß Ostpreußen in einer wirtschaftlich und politisch ganz besonders gefährdeten Lage sich befindet, und daß die Hilfsmaßnahmen, die zu seinen Gunsten geschehen, nicht Anlaß geben dürfen zu Berufungen anderer Landesteile. Ostpreußen ist ein Sonderfall, denn kein anderes Gebiet Deutschlands steht außer Zusammenhang mit dem Mutterlande; Ostpreußen ist gefährdetes Grenzgebiet und gegenwärtig der schwächste Punkt im Deutschen Reiche. Wenn dieser Grundsatz nicht anerkannt und festgehalten wird, und wenn der Fall Ostpreußen nicht besonders, sondern nur im Rahmen anderer wirtschaftlichen Nöte behandelt wird, ist jede Hilfsaktion zur Wirkungslosigkeit verurteilt. Ebenso wie während und nach der Ruhrbesetzung das Reich unter Ablehnung der Anerkennung von Berufungen anderer, damals auch notleidenden Gebiete seine ganze politische und finanzielle Kraft zusammenfaßte, um das bedrohte Gebiet am Rhein und in Westfalen wirtschaftlich lebensfähig zu erhalten und wieder aufzubauen, so muß jetzt auch für Ostpreußen gehandelt werden.
Diese Hilfe muß zunächst bei der Landwirtschaft einsetzen, die so verschuldet ist, daß sie ohne Hilfe nicht gesunden kann, und die finanziell saniert[1139] werden muß. Dazu ist nach meinem Dafürhalten ein großer Kredit erforderlich, der dazu dienen muß, die noch in großem Umfange schwebenden Personalschulden der Landwirtschaft in langfristige Realschulden umzuwandeln, und solche Hypothekar- und langfristigen Kredite, die zu hohe Zinsen erfordern, in mäßiger verzinsliche Realkredite umzuwandeln. Wenn die deutschen landwirtschaftlichen Kreditinstitute die erforderlichen Mittel nicht aufbringen können, so muß versucht werden, eine Sonderanleihe für die Landwirtschaft Ostpreußens im In- und Auslande zu erreichen, erforderlichenfalls unter Mitwirkung und Bürgschaft des Reichs. Die Zinsenlast, die auch hiernach noch der ostpreußischen Landwirtschaft verbleiben wird, wird von dieser allein bei den heutigen hohen Zinsfüßen nicht getragen werden können. Deshalb ist erforderlich, daß auf Jahre hinaus das Reich Mittel für eine Zinsverbilligung aufbringt, welche die dem ostpreußischen Landwirt auferlegte Zinslast auf 5% ermäßigt. Die für die Zinsverbilligung erforderlichen Beträge sind meines Erachtens nicht so hoch, daß sie nicht aus laufenden Etatsmitteln unter Beteiligung Preußens vom Reich getragen werden könnten. – Nur wenn dies geschehen ist, kann die ostpreußische Landwirtschaft sich selbst weiter helfen und auf der neu gewonnenen Grundlage wieder aufbauen.
Neben dieser nach meiner Meinung wichtigsten Lebensfrage der ostpreußischen Landwirtschaft sind weitere Maßnahmen zu treffen, die Ostpreußen wieder konkurrenzfähig mit den anderen landwirtschaftlichen Erzeugungsgebieten machen. Insbesondere muß danach getrachtet werden, den großen Frachtenvorsprung, den Polen gegen Ostpreußen hat, durch Tarifvergünstigungen für Ostpreußen auszugleichen. Es müssen hier Mittel und Wege gefunden werden, die die bisher erhobenen Bedenken wegen der hier eintretenden Meistbegünstigung, die automatisch auf andere Länder übergeht, beseitigen. Auch hier wird nichts anderes übrig bleiben, als daß das Reich der Reichsbahn in gewissem Umfange Ersatz leistet. Daß bei all dem beim Abschluß neuer Handelsverträge, insbesondere mit dem Osten, die ostpreußische Wirtschaft eine besondere Berücksichtigung finden muß, ist eine Forderung, die ich auch in diesem Zusammenhang erneut erhebe.
Ich bitte Sie, sehr verehrter Herr Reichskanzler, meinen obigen Ausführungen, die ich abschriftlich auch dem Herrn Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft und dem Herrn Reichsminister des Innern zugehen lasse, und deren Übermittelung an die anderen Herren Reichsminister ich Ihrem Ermessen anheimstelle, die gebührende Aufmerksamkeit entgegenzubringen und die beteiligten Ressorts zu beauftragen, nun unverzüglich die nötigen Vorarbeiten und Berechnungen für ein solches Ostpreußenprogramm aufzustellen. Ich habe den Wunsch, noch vor Weihnachten die hier angeschnittenen Fragen mit den Herren Reichsministern zu besprechen, und bitte Sie, die Vorarbeiten so zu fördern, daß in der Mitte dieses Monats bei mir ein Ministerrat über Ostpreußen stattfinden kann, dessen Vorsitz ich selbst übernehmen will5.
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Am 6.12.27 vermerkte MinR Feßler: StS Pünder habe in einer Unterredung mit StS Meissner festgestellt, daß der RPräs. „in dem von ihm angeordneten Ministerrat eine gründliche Aussprache über die ostpreußischen Fragen wünscht, deren Ergebnis möglichst konkrete Beschlüsse der Reichsregierung sein sollen. Die preußische Staatsregierung soll eingeladen werden, die zuständigen Minister in den Ministerrat zu entsenden.“ (R 43 I/1853, Bl. 12). Die Ministerratssitzung wurde daraufhin auf den 21.12.27 festgesetzt (siehe Dok. Nr. 383). Zur Vorbereitung des Ministerrats fanden am 19. und 21.12.27 zwei Chefbesprechungen statt (Dok. Nr. 379 und Nr. 382).
[1140] Mit der Versicherung meiner besonderen Wertschätzung und mit freundlichen Grüßen bin ich
Ihr sehr ergebener
von Hindenburg