Text
[1211] Nr. 389
Der Reichswehrminister an den Reichskanzler. Lindenberg, 4. Januar 1928
R 43 I/1308, S. 91–98 eigenhändig
[Entlassungsgesuch1]
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Zum Rücktritt des RWeM Geßler vgl. Geßler, Reichswehrpolitik in der Weimarer Zeit, S. 423 ff.
Hochgebietender Herr Reichskanzler!
Das Unglück des Vaterlandes und der Tod meiner Kinder haben in Verbindung mit der von mir seit 8 Jahren getragenen Last meines Ressorts meine Kraft in einem Maße verbraucht, daß ich mich den Pflichten und Aufgaben meines Amtes nicht mehr gewachsen fühle. Ich bitte Sie, hochzuverehrender Herr Reichskanzler, deshalb beim Herrn Reichspräsidenten meine alsbaldige Verabschiedung zu beantragen, um die ich hiermit in aller Form dringlichst gebeten haben möchte.
Ich habe Ihnen, hochzuverehrender Herr Reichskanzler, diese Absicht bereits Ende Mai d.Js.2 mündlich vortragen dürfen. Sie ersuchten mich damals in voller Würdigung meiner Gründe, mein Gesuch bis zum Herbst zurückzustellen3. Eine weitere Verzögerung trat ein durch die Reise des Chefs der Heeresleitung4 nach den Vereinigten Staaten von Nordamerika und die Verabschiedung der neuen Besoldungsordnung5. Jetzt aber glaube ich nicht länger zögern zu dürfen, da ich mich bei meinem Gesundheitszustand den Anforderungen der bevorstehenden parlamentarischen Session in keiner Weise mehr gewachsen fühle.
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Statt „d[ieses] J[ahre]s“ richtig „vorigen Jahres“.
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In einem Schreiben des StS Pünder an RK Marx vom 23.7.27 heißt es: „Herr Minister Geßler hat mir vor einigen Tagen in einer längeren vertraulichen Aussprache mitgeteilt, daß er im August, spätestens im September, dem Herrn Reichskanzler sein Abschiedsgesuch einreichen werde. Im Gegensatz zu vor einigen Monaten noch gehegten Hoffnungen fühle er deutlich, daß er seine alte Spannkraft und Arbeitsfrische nicht wiedererlangen könne. Er lege Wert darauf, in einem ruhigen Zeitpunkt aus diesen rein persönlichen Gründen auszuscheiden. Er könne sich dagegen nicht zu einem politischen Streitobjekt machen lassen. Nachdem ich ihm von mir aus entwickelt hatte, daß seine Ersetzung meines Erachtens ganz außerordentlich schwierig sein würde, teilte er mir noch ergänzend mit, ihm komme es in erster Linie nur auf sein Abschiedsgesuch an. Wenn der Herr Reichskanzler namens des Herrn Reichspräsidenten oder gar letzterer ihn auf das Abschiedsgesuch hin bitten würde, vorläufig sein Amt weiter zu verwalten, so würde er hierzu bereit sein, selbst wenn dieses Interregnum bis zu den Neuwahlen des Reichstages dauern sollte. Dieser letztere Vorschlag dürfte vielleicht ein passender Lösungsversuch sein.“ (Nachl. Pünder, Nr. 28, Bl. 41–47; hier Bl. 46 f.).
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Heye.
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Über die Beamtenbesoldungsreform verhandelte das Kabinett von Mitte September bis Mitte Dezember 1927; vgl. Dok. Nr. 291 und die weiteren diesbezüglichen Dokumente.
Ich gebe mich vielmehr der Hoffnung hin, daß mein Rücktritt im gegenwärtigen Zeitpunkt zu einer Milderung der Gegensätze in den Streitfragen der Wehrpolitik des Reiches führen wird. Denn wenn ich ein Bild gebrauchen darf, nicht nur der Arm ist zu schwach geworden, sondern auch der Schild, den ich[1212] über den Wiederaufbau der Wehrmacht zu halten seit 8 Jahren bemüht war, hat in dieser Zeit eine Reihe von schweren Beulen und Scharten bekommen. Eine der häßlichsten und schwersten, der Fall der Phoebusfilm A.G. u[nd] des Kapitäns Lohmann6 harrt noch der parlamentarischen Erledigung. Ich trage für diese Vorkommnisse die politische Verantwortung und ich kann u[nd] will mich auch nicht dadurch zu entlasten suchen, daß ich meinen Untergebenen vorschiebe. Ein neuer Mann, der ganz unbeteiligt ist, wird ganz andere Mittel und Möglichkeiten haben und auch in der Darstellung des Falles viel freier sein als ich. Auch das Parlament wird dem neuen Minister viel unbefangener gegenüberstehen als mir, dem eben dieser Fall passiert ist.
Ich bitte mir zu gestatten, zur Ergänzung auf die großen politischen Zusammenhänge einen Blick werfen zu dürfen.
Ich betrachte es als einen besonderen Vorzug unserer Entwicklung, daß in allen politischen Wirren seit dem Zusammenbruch der neuen Wehrmacht eine gewisse Stetigkeit dadurch gegeben war, daß sie immer dieselbe politische Führung hatte. Es würde meines Erachtens nicht nur den Herrn Reichspräsidenten in eine unerwünschte Lage bringen, sondern auch die Wehrmacht selbst stark beunruhigen, wenn der Wehrminister unter dem Zwang parteipolitischer Konstellationen gewechselt werden müßte. Dies sollte möglichst noch längere Zeit vermieden werden. Selbst wenn der Personenwechsel gar keine grundsätzliche Kursänderung bedeuten würde, so bestünde doch zunächst für den neuen Mann eine Atmosphäre des Mißtrauens, die ihm die Führung seines Amtes nicht erleichtern, ja vielleicht einen Teil des Vertrauens zwischen Staat u[nd] Heer gefährden würde, das, wie ich hoffe, durch die von mir seit Jahren unbeirrt verfolgte „Politik der Verständigung“ hergestellt wurde. Denn der Soldat stellt sich noch weniger als andere Leute auf politische Abstrakta ein, sondern auf Persönlichkeiten. Auch diese Erwägungen lassen meinen Rücktritt aus den angegebenen persönlichen Gründen jetzt besonders wünschenswert erscheinen.
Es ist für mich, sehr verehrter Herr Reichskanzler, ein bedrückendes Gefühl, daß in dieser an politischen Sorgen für Sie so überreichen Zeit meine Bitte für Sie und den Herrn Reichspräsidenten eine weitere Belastung bringt. Aber ich bin so fest von der Unmöglichkeit einer weiteren Verschiebung meines Rücktritts überzeugt, daß ich mit meinem Verantwortungsgefühl ein weiteres Zögern unvereinbar halte. Ich bitte Sie deshalb herzlichst, meinen Schritt freundlich aufzunehmen und in ihm zugleich einen Ausdruck meiner unbegrenzten Loyalität gegen Sie und die verehrungswürdige Person des Herrn Reichspräsidenten zu erblicken.
Einer baldigen Bescheidung meines Gesuches harrend verbleibe ich in der aufrichtigsten Ergebenheit, sehr geehrter Herr Reichskanzler,
Ihr ergebenster
Dr. Geßler7
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Nach einem beiliegenden Vermerk Plancks übersandte Geßler sein Entlassungsgesuch an Planck „mit einem kurzen Begleitschreiben zwecks Vorlage beim Herrn Reichskanzler“ (R 43 I/1308, S. 89). Im Auftrag des RK übermittelte Pünder eine Abschrift des Gesuchs mit Anschreiben vom 14. 1. an Meissner (R 43 I/952, Bl. 133).
Zur Frage der Verabschiedung Geßlers und zu den Verhandlungen über einen geeigneten Nachfolger, die schließlich am 19.1.28 zur Ernennung Groeners zum RWeM führten, war in den Akten der Rkei nichts zu ermitteln. Einige Aufschlüsse hierüber enthalten die stenographischen Tagebuchnotizen von Marx ab dem 10. 1., als der RK nach einem Urlaub seine Dienstgeschäfte in Berlin wiederaufnahm. Die diesbezüglichen Tagebucheintragungen von Marx lauten: 10. 1.: „Um 5 Uhr kommt Geßler und sagt mir, daß er sein Amt niederlegen wolle; das ist schlimm, jetzt gerade vor dem Etat“. – 11. 1.: „Morgens bin ich beim Reichspräsidenten gewesen und habe ihm Vortrag über den Abschied von Geßler gehalten; er hat schon von anderer Seite erfahren, daß es nicht mehr weitergehe mit G. Er mache deshalb auch keinen Versuch, Geßler von seinem Vorhaben abzubringen“. – 12. 1.: „Nachmittags kommt General Heye zu mir, weil er verreisen will, er ist auch der Meinung, daß Geßler nicht bleiben kann. Um 4 Uhr ist Kabinett […]; nach der Sitzung sage ich den Ministern, daß Geßler gehen will, sie sind sehr überrascht, es ist die Frage, wann wir es der Presse übergeben sollen“. – 13. 1.: „Curtius kommt kurz vor 12 Uhr und berichtet mir, daß er erst heute mit Stresemann gesprochen habe; man melde den Anspruch der Deutschen Volkspartei von neuem an. Um 12 Uhr fahre ich zum Reichstag und spreche mit v. Guérard, dann Leicht und Scholz, der mir sagt, er sei beim Reichspräsidenten gewesen, habe aber einstweilen abgelehnt, weil er lieber zunächst Vorsitzender der Fraktion bleiben wolle. Ich spreche dann noch mit Graf Westarp, der nicht viel zu sagen weiß; ich verspreche, mich mit ihm in Fühlung zu halten. Nachmittags ist wieder um 4 Uhr Kabinett […]; ich versuche noch mit Geßler zu sprechen, daß er Urlaub nimmt und die Sache hinausgeschoben wird. Nachmittags habe ich die Presse um 3 Uhr zusammengehabt, abends steht schon die Sache mit Geßler in der Zeitung“. – 14. 1.: „Ich habe um 11.30 Vortrag bei ihm [d. h. beim RPräs.], ich kann ihm aber nur mitteilen, daß ich noch keine bestimmten Vorschläge machen könnte. Er ist dann lieber für Vertagung, dagegen sprachen sich gestern die [Deutsch-]Nationalen aus, namentlich Hergt. Um 12 Uhr ist Vorstandssitzung [der Zentrumsfraktion], es wird hier Külz genannt, schließlich ist man aber mit Scholz zufrieden“ [vgl. Morsey, Zentrumsprotokolle, Dok. 219]. – 15. 1.: „Um 5 Uhr Meissner bestellt wegen Wehrminister; er will aber nicht. Es wird jetzt Köhler vor allem genannt“. – 19. 1.: „Morgens muß ich zuerst zum Reichspräsidenten; es bleibt jetzt bei Groener. Ich will aber zuerst mit den Parteiführern sprechen. Gegen 12 Uhr soll alles beendet sein. Es wird etwas später […]; der Präsident wird schon ungeduldig und fragt an. Später kommt dann Doehle und bringt die Urkunden mit in den Reichstag“. (Nachl. Marx, Nr. 1, Transkription der stenogr. Tagebuchnotizen). – In der Sitzung der Reichstagsfraktion der DVP am 19. 1., 17.10 Uhr stellte Scholz fest, daß die Ernennung Groeners „gegen den schärfsten Widerspruch“ der DVP und der DNVP erfolgt sei (R 45 II/67, S. 70). – Koch-Weser dazu in seinem Tagebuchvermerk vom 4.2.28: „Nun ist Groener der Nachfolger von Geßler geworden. Es ist geradezu ein Satyrspiel auf die Propaganda der Rechten, die Rechte des Reichspräsidenten zu verstärken. Als Groener als Kandidat in Frage kam, war helle Entrüstung bei den Deutschnationalen, die ja in Groener immer noch – wegen der Flucht des Kaisers nach Holland – den Verräter am Kaisertum sehen und die ihn vor ein paar Jahren geradezu vor ein Ehrengericht geschleppt haben. Nicht geringer war die Entrüstung bei der Deutschen Volkspartei, die seit der Rechtskoalition auf diesen Posten spekuliert und das auch öffentlich bei Rücktrittsabsichten Geßlers stets verkündet hat. Aber was wollte sie machen? Der Alte [Hindenburg] erklärte, nun haben sie immer gesagt, ich solle mehr Rechte haben, und wenn ich meine Rechte mal anwende, dann machen sie mir Schwierigkeiten. Sie mußten nachgeben, obwohl die Ernennung Groeners allgemein, fast offiziell, damit begründet wurde, es käme darauf an, einen Wehrminister zu ernennen, der auch bei der großen Koalition bleiben könne. Politische Unmöglichkeiten für die Rechte, die sie aber dulden muß, weil sie sich im Kampfe gegen das Parlament und für den Reichspräsidenten engagiert hat.“ (Nachl. Koch-Weser, Nr. 37, S. 47–49). – Siehe dazu: Meissner, Staatssekretär unter Ebert, Hindenburg, Hitler, S. 164 ff.; Geßler, Reichswehrpolitik, S. 426 f., 471 ff.; Eyck, Geschichte der Weimarer Republik, II, S. 190 ff.; Dorpalen, Hindenburg in der Geschichte der Weimarer Republik, S. 135 f.