Text
[484] Nr. 164
Staatssekretär Pünder an den Reichskanzler. 28. Dezember 1926
Historisches Archiv der Stadt Köln, Nachl. Marx, Nr. 731
[Möglichkeiten der Regierungsbildung.]
Hochverehrter Herr Reichskanzler!
Hoffentlich haben Sie im harmonischen Familienkreise frohe Weihnachtstage verlebt. Die laufende Arbeit der Reichskanzlei hat während der Feiertage natürlich nicht Halt gemacht. Mit all diesen Einzelheiten möchte ich Sie aber in der Ferienruhe nicht stören, darf sie vielmehr meinem mündlichen Vortrag vorbehalten. Nur ein kurzes Stimmungsbild über das große Problem der Regierungsbildung möchte ich heute entwerfen2.
Nachdem ich bis zum heutigen Tage mit allen möglichen politischen Faktoren von rechts bis links Gelegenheit zur Fühlungnahme hatte, stehe ich heute mit meiner Ansicht über die Entwicklung der Dinge noch auf demselben Standpunkt, wie ich ihn Ihnen, hochverehrter Herr Reichskanzler, schon mehrfach mündlich entwickeln durfte.
Ich möchte anfangen mit dem, was ich für ausgeschlossen halte.
In allen Kreisen, namentlich auch denen, die dem Gedanken der Großen Koalition besonders sympathisch gegenüber gestanden haben, scheint sich mir die Ansicht mit vollem Recht durchgesetzt zu haben, daß für die nächste politische Zukunft die Schaffung einer Großen Koalition nicht mehr möglich ist. Insbesondere sind hiervon die Führer der Sozialdemokratischen Partei offensichtlich tief durchdrungen. Gerade letzterer Umstand ist meines Erachtens bei den Folgerungen, die ich am Schluß ziehen werde, von besonderer Bedeutung.
Ausgeschlossen ist auch die Schaffung einer Rechts-Minderheitsregierung (ohne Zentrum) mit den Deutschnationalen, der Volkspartei, der Wirtschaftspartei, der Bayerischen Volkspartei und unter stiller Duldung der Völkischen. Letztere eingerechnet zählt diese Rechts-Minderheitsregierung auf 216 Abgeordnete. Sie wäre numerisch stärker als die bisherige Minderheitsregierung, würde aber selbstverständlich daran kranken, daß ihre Gegner geschlossen gegenüberstünden, während bisher die Opposition auf rechts und links verteilt war. Diese Rechts-Minderheitsregierung, an die der Herr Reichspräsident zunächst wohl ernstlich gedacht haben mag3, scheitert einfach an dem Widerstand der Deutschen Volkspartei. Letztere steht, wie ich bestimmt weiß, erfreulicherweise[485] auf dem unverrückbaren Standpunkt, daß sie sich nur an einer Koalition beteiligen will, an der auch das Zentrum mit gleichen Rechten und Pflichten beteiligt ist. Die Volkspartei ist der Ansicht, daß sie mit Zentrum und Bayern auch wieder den Kern einer neuen Koalition abgeben müsse. Mit der Aussichtslosigkeit dieser Rechts-Minderheitsregierung können auch gerade die in der heutigen Presse umgehenden Gerüchte von Diktaturbestrebungen im Wege des Artikel 48 als völlig überholt angesehen werden.
Völlig aussichtslos ist ferner die Bildung eines Beamtenkabinetts. Auch dieser Gedanke ist an der maßgeblichen Stelle4 offenbar ernstlich erwogen worden, und zwar im Zusammenhang mit der Person des Reichskanzlers a. D. Dr. Luther. Man ist sich jetzt aber wohl überall darüber klar, daß eine solche Beamtenregierung mit dieser Spitze kaum die erste Abstimmung im Reichstag überleben würde. Von Herrn Dr. Luther weiß ich übrigens auch, daß er persönlich den Gedankengängen, die auf die Schaffung eines Beamtenkabinetts hinzielen, völlig fern steht und gar nicht daran denkt, sich baldigst wieder politisch zu betätigen.
Schließlich kann auch der Gedanke der Schaffung einer Weimarer Koalition, der letzthin in der demokratischen und Zentrumspresse eine gewisse Rolle gespielt hat, als erledigt angesehen werden. Wer der Meinung ist, die Weimarer Koalition solle nach ihrem etwaigen Scheitern im Reichstage diesen auflösen, übersieht, daß es fast als ausgeschlossen zu gelten hat, daß eine Regierung der Weimarer Koalition die Auflösungsordre erhalten würde. Ausgeschlossen ist ferner, daß einer solchen Regierung der Weimarer Koalition Herr Minister Stresemann als Fachminister angehören würde. Ich weiß von ihm persönlich, daß er diesen Gedanken schroff ablehnt (siehe oben betreff Einstellung der Deutschen Volkspartei).
Sonach bleibt nur noch die Bildung einer Rechts-Mehrheitsregierung (mit dem Zentrum und womöglich auch den Demokraten) oder wieder die Schaffung einer Regierung der bürgerlichen Mitte.
Die Auffassung der maßgeblichen Stelle geht jetzt dahin, daß zum mindesten zunächst einmal die Schaffung einer solchen Rechts-Mehrheitsregierung versucht werden müsse. Ob der Herr Reichspräsident die diesbezüglichen Sondierungen selbst vornimmt, ist zweifelhaft, ebenso ob er Sie, hochverehrter Herr Reichskanzler, mit dieser Mission betrauen wird. Wahrscheinlicher ist, daß ein Herr der Volkspartei als homo regius bestellt werden wird. Ich glaube, man denkt hierbei an Herrn Minister Curtius. Es ist zweifellos, daß im Rahmen dieser Sondierungen die Zentrumsfraktion vor die präzise Frage gestellt werden wird, ob sie im gegenwärtigen Augenblick der Bildung einer solchen Rechts-Mehrheitsregierung geneigt ist. Auf Grund der einwandfreien und klaren Linie, die die Zentrumsfraktion in den letzten Monaten anerkanntermaßen innegehalten hat, besteht hinsichtlich dieser Sondierungen beim Zentrum nirgendwo großer Optimismus. In dieser Beziehung hat insbesondere die klare Einstellung des Herrn Reichsarbeitsministers Dr. Brauns ihre Wirkung offensichtlich nicht verfehlt. Hinzu kommt, daß auch in der Deutschen Volkspartei die Neigung zur[486] Bildung einer Rechts-Mehrheitsregierung nicht sehr groß ist. Diesbezüglich hat im Anschluß an die hamburger Reise des Herrn Ministers Stresemann eine vertrauliche Aussprache des Herrn Ministers mit den maßgeblichen Herren der Deutschnationalen beim Fürsten Bismarck in Friedrichsruh stattgefunden, über welche Zusammenkunft ja auch schon allerlei in die Presse gedrungen ist. Ich weiß, daß die Deutschnationalen von dieser Aussprache nicht besonders entzückt waren.
Scheitern – was meines Erachtens anzunehmen ist – infolgedessen die Verhandlungen betreffend Bildung einer Rechts-Mehrheitsregierung, so wird der Herr Reichspräsident bereit sein zur Wiederherstellung einer Mittelregierung, die sich auf die bisherige Parteigruppierung stützt. Es ist sehr gut möglich, daß er als Kanzler dieser Mittelregierung wieder an Sie, hochverehrter Herr Reichskanzler, denkt. Es ist aber auch möglich, daß er – was ich hiermit in aller Vertraulichkeit aber ganz offen mitzuteilen mir erlaube – auch hier an Herrn Minister Curtius, oder, was mir noch wahrscheinlicher zu sein scheint, an Herrn Abgeordneten Dr. Stegerwald denkt. Die Volkspartei wünscht jedenfalls, falls die künftige Mittelregierung nicht von Ihnen, hochverehrter Herr Reichskanzler, geführt werden sollte, den Herrn Abgeordneten Dr. Stegerwald auf dem Kanzlerstuhl zu sehen.
Die Aussichten dieser neuen Mittelregierung werden mehr und mehr als nicht ungünstig betrachtet. Von der Rechten erhofft man, wenn zuvor die obengeschilderten Verhandlungen wegen Bildung einer Rechts-Mehrheitsregierung vorangegangen und gescheitert sind, die Einsicht, daß es mit der bisherigen Taktik der Deutschnationalen, der Opposition sans phrase, nichts ist. Man hält es für möglich, daß sich die Deutschnationalen nach dieser Klärung der Lage fürs erste zurückhalten und die Durchbringung namentlich der sozialpolitischen Gesetze mit der Linken dulden werden.
Ob dieser Teil der Rechnung stimmt, ist mir persönlich etwas zweifelhaft. Es ist meines Erachtens ebenso möglich, daß sie einer solchen Neuauflage der Minderheitsregierung der Mitte sofort wieder mit einem Mißtrauensvotum begegnen werden. Entscheidend wird es meines Erachtens aber auf diesen Teil nicht ankommen, wenn mit der Linken richtig taktiert wird. Die Sozialdemokratie steht vor der klaren Erkenntnis, daß auf der einen Seite die Große Koalition fürs erste gescheitert ist, und daß infolge des törichten Verhaltens der Sozialdemokratie in den letzten Wochen ein Abmarsch des Zentrums nach rechts immerhin droht. Da aber diese letzte Entwicklung für die Sozialdemokratie geradezu das rote Tuch ist, wird man sie bereitfinden, ohne Bindungen und Bedingungen eine Regierung der Mitte zu stützen. Gerade von Zentrumsseite muß der Sozialdemokratie meines Erachtens gesagt werden, daß bei einer abermaligen Kampfansage der Gedanke der Großen Koalition bis zu einer sehr fernen Zukunft gänzlich tot ist. Sie werden sich dann zufrieden geben und durch stillschweigende Unterstützung der Minderheitsregierung die Bahn für eine spätere Wiederanknüpfung der jetzt abgerissenen Fäden wieder frei machen.
Sollte auf diese Weise abermals eine bürgerliche Minderheitsregierung zustande kommen, so würde dies meines Erachtens auch den Grundlinien der alten Zentrumspolitik am ehesten gerecht werden, da eben die politische Weltanschauung[487] des Zentrums in der Schaffung eines verständigen Ausgleichs auf mittlerer Linie besteht. Ich glaube auch zu wissen, daß die Deutsche Volkspartei durchaus für diese Gedankengänge zu haben sein wird. Sie wird hierbei entscheidenden Wert darauf legen, daß von links keine Bedingungen gestellt und keine formellen Bindungen nach links eingegangen werden. Daß die Bayerische Volkspartei ebenso denkt, dürfte nicht zweifelhaft sein. Erkennt die Sozialdemokratie diesen starken Willen der bürgerlichen Mitte, wird sie nach meinen Feststellungen angesichts der ihr sonst drohenden Gefahr eines endgültigen Abrutschens der Entwicklung nach rechts auf diesen Boden zu treten geneigt sein.
Von Personalfragen habe ich oben, abgesehen von der Spitze, nicht gesprochen. Schwierigkeiten ergeben sich bei Bildung einer Mittelregierung selbstverständlich bezüglich der Posten des Reichswehr- und des Reichsinnenministers. Diese sind meines Erachtens aber nicht unüberwindlich. Was das Reichswehrministerium angeht, so scheint mir auf der einen Seite es keineswegs ausgeschlossen zu sein, daß Herr Minister Geßler zu einem persönlichen Verzicht auf Wiederbetrauung zu bringen ist. Ebenso halte ich es auch für durchaus möglich, daß der Herr Reichspräsident einem etwaigen Abschiedsgesuch des Herrn Reichsministers Dr. Geßler unter Umständen und insbesondere bei Präsentierung eines geeigneten Nachfolgers zustimmen wird. Unter allen Umständen ist dann aber notwendig, daß die Reichswehrfragen nicht mehr prinzipiell in den Kreis der politischen Erörterungen gezogen werden. Die prinzipielle Seite dieser Angelegenheit muß mit Ihrer programmatischen zweiten Erklärung mit den vier Punkten5, die die Billigung der vier Regierungsparteien und namentlich des Herrn Reichspräsidenten gefunden haben, die unverrückbare Richtschnur bleiben. So sehr die künftige Regierung sich einer Durchführung dieser vier Leitpunkte mit äußerster Energie widmen muß, müssen darüber hinausgehende Ansprüche der Linken schroff abgewiesen werden. Wird dieser sachliche Gesichtspunkt klar herausgearbeitet, so wird sich die Personalfrage leichter erledigen. Was schließlich den Posten des Herrn Reichsinnenministers angeht, so ist dies weniger eine Frage der Regierungsparteien als der Demokratischen Partei selber.
Ich bitte sehr um Entschuldigung, daß ich Sie, hochverehrter Herr Reichskanzler, in der Ferienruhe mit diesen Auseinandersetzungen belästigt habe. Ich hielt mich aber für verpflichtet, Ihnen von meinen abschließenden Eindrücken alsbald Kenntnis zu geben. Soviel ich höre, werden die offiziellen Verhandlungen nicht vor Montag, dem 10. Januar, an welchem Tage bekanntlich der Haushaltsausschuß zusammentritt, beginnen6.
Mit den ehrerbietigsten Empfehlungen an Sie und Ihre hochverehrte Frau Gemahlin bin ich, hochverehrter Herr Reichskanzler,
Ihr stets treu ergebener
Pünder
Fußnoten
- 1
Dieses Schreiben ist nach der Durchschrift im Nachl. Pünder (Nr. 27, Bl. 160–167) abgedr. in: Stürmer, Koalition und Opposition in der Weimarer Republik, S. 299 ff.
- 2
Zum folgenden vgl. Stresemann, Vermächtnis, Bd. III, S. 92 f. Die Überlegungen der Reichswehrführung zur Frage der Regierungsbildung beleuchten zwei (vermutlich von Schleicher verfaßte) Aufzeichnungen aus der Wehrmachtabteilung des RWeMin., die um die Jahreswende 1926/27 entstanden sind und die sich im Nachl. Schleicher befinden; abgedr. bei Josef Becker, Zur Politik der Wehrmachtabteilung in der Regierungskrise 1926/27, in: VfZ 14 (1966), S. 69 ff.
- 4
Gemeint ist offenbar RPräs. Hindenburg.