2.66 (ma31p): Nr. 66 Der Hessische Staatspräsident an den Reichskanzler. Darmstadt, 9. August 1926

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Nr. 66
Der Hessische Staatspräsident an den Reichskanzler. Darmstadt, 9. August 1926

R 43 I /2271 , Bl. 300–302

[Finanzlage Hessens; Bitte um finanzielle Hilfe des Reichs.]

Hochzuverehrender Herr Reichskanzler!

Persönlich und vertraulich!

Gestatten Sie gütigst, daß ich bei all den großen Sorgen, die Sie zu tragen haben, Ihre Aufmerksamkeit auf die Lage unseres Landes lenke, die Ihnen ja nicht unbekannt ist, und die jetzt in ein kritisches Stadium eingetreten ist. Wie mir unser Herr Finanzminister1 mitteilt, wird die hessische Frage am 12. d. Mts. in der Sitzung des Reichskabinetts behandelt werden. Da diese Entscheidung von einschneidender Bedeutung für das Schicksal von Land und Regierung sein wird,[150] so werden Euer Hochwohlgeboren es verstehen, wenn ich es versuche, noch einmal kurz aufzuzeigen, was auf dem Spiele steht.

Daß das mit nahezu 40 v. H. seines Gebietes und mit 50 v. H. seiner Wirtschafts- und Steuerkraft besetzte Land Hessen unter den Folgen der Besetzung mehr zu leiden hat wie jedes andere deutsche Land, ist zur Genüge bekannt. Namentlich waren es die Wirkungen des Rhein- und Ruhrkampfes, die der Wirtschaft des Landes schwere Wunden schlugen und die sich neuerdings in Gestalt einer weit über den Reichsdurchschnitt hinausgehenden Arbeitslosigkeit und in einem erschreckenden Niedergang des Steueraufkommens in geradezu unheilvoller Weise bemerkbar machen.

Bis in das Jahr 1925 hinein war die finanzielle Lage des Landes auch schon recht ernst, aber immerhin noch einigermaßen erträglich – abgesehen von den mancherlei Lasten, die sich aus der Besetzung ergaben; sie wich nicht sehr erheblich von der anderer Länder mit ähnlicher wirtschaftlicher Struktur ab. Geradezu katastrophal wurde diese Lage aber seit dem Zeitpunkte, an dem der Anteil des Landes an der Einkommensteuer durch das stark zurückgegangene Aufkommen im Lande selbst bestimmt wurde, und vor allem seit dem Eintritt der großen Arbeitslosigkeit, also seit dem Ende des vorigen Jahres. Schon der Staatsvoranschlag für 1926 schloß trotz schärfster Anspannung der Landessteuern und trotz weitgehender Beschränkung der Staatsausgaben und wiederholtem Beamtenabbau mit einem ungedeckten Fehlbetrag von etwa 8 Millionen M ab. Seit Anfang dieses Jahres aber hat sich die Situation um vieles verschlimmert. Die Lasten für Erwerbslosenfürsorge betragen für Hessen nahezu das Doppelte des Reichsdurchschnitts, und sie verursachen dem Lande eine budgetmäßig nicht gedeckte Mehrausgabe von mindestens 12 Mill. Mark im Jahr. Dazu kommt aufgrund der neueren Einkommensteuerüberweisungen ein nicht erwarteter weiterer Steuerausfall von 5 bis 6 Millionen. Allein aus den Jahren 1925 und 1926 werden hiernach Fehlbeträge von insgesamt 28½ Mill. zu erwarten sein, zu deren Deckung nur noch eine Reserve von 10½ Millionen M vorhanden ist, die eigentlich als Betriebskapital der Hauptstaatskasse zurückgestellt werden müßte. Dazu kommt, daß in 1926 für den Wohnungsbau 4 Millionen weniger aus der Hauszinssteuer vorgesehen wurden als es reichsgesetzlich zulässig ist. Bessert sich die allgemeine Wirtschaftslage nicht in Bälde sehr erheblich – und dazu ist leider keine Aussicht vorhanden –, dann ist die Aufstellung eines Staatsvoranschlages für das kommende Jahr nicht mehr möglich, und das Land wird damit vor die ernstesten politischen Entscheidungen gestellt sein.

Aufgrund der Denkschrift des Finanzministers vom 15. März d. Js.2 und gestützt auf die bekannte Entschließung des Reichsrats, die den Ersatz der durch die Besetzung eines Landes verursachten Steuerausfälle aus Reichsmitteln fordert, stellte die hessische Regierung des Ansinnen an die Reichsregierung, daß das Reich dem Lande Hessen in dieser außergewöhnlichen Lage und für die Dauer der Besetzung helfen möge, seine Weiterexistenz aufrecht zu erhalten. Auf Veranlassung des Herrn Referenten im Reichsfinanzministerium gab unser[151] Herr Finanzminister näher an, wie er sich die Hilfe des Reiches denke3. Diese Wünsche gingen in folgender Richtung: Entsprechender verlorener Zuschuß zur Abdeckung des Fehlbetrags in 1926, Zusage zur Gewährung gleicher Zuschüsse in späteren Jahren, so lange die gleichen Voraussetzungen dafür vorliegen, vorschußweise Beihilfe zu den Kosten der Erwerbslosenfürsorge und der Wiederherstellung des Mainzer Domes – beides zinslos während der Dauer der Besetzung –, und schließlich Streichung eines während des Ruhrkampfes gewährten besonderen Darlehens von 5,8 Millionen M. Dafür wollte sich die hessische Regierung jeder Kontrolle über seine Finanzwirtschaft unterwerfen.

Aus einer späteren Unterredung zwischen dem Herrn Reichsfinanzminister und dem hessischen Finanzminister ergab sich, daß – abgesehen von dem zur völligen Ausschüttung bereit gestellten sog. 60-Millionen-Fonds4 – etatsmäßige Mittel zur Gewährung fester Zuschüsse nicht zur Verfügung stehen. Herr Finanzminister Henrich glaubte sich mit Rücksicht hierauf damit abfinden zu können, wenn die erbetenen Reichszuschüsse – abgesehen von der Zuwendung aus dem 60-Millionen-Fonds – zunächst in der Gestalt unverzinslicher Vorschüsse erfolge, über deren Erstattung oder Streichung erst später zu entscheiden wäre, wenn die finanzielle Lage des Landes deutlicher übersehbar ist. Die nach dieser Aussprache abgeänderten Wünsche sind in der anliegenden Form zusammengefaßt5 und dem Herrn Reichsfinanzminister zugestellt worden. Trotzdem diese neue Formulierung die früheren Wünsche ganz erheblich abschwächt und vor allem nicht die festen Zuschüsse bietet, die zur Aufrechterhaltung unserer Finanzwirtschaft unbedingt nötig sind, glaubte ihr doch das Gesamtministerium zustimmen zu sollen unter der Voraussetzung, daß die Vorschüsse in einer budgetmäßig verwendbaren Form, d. h. mit der Aussicht ihrer Umwandlung in feste Zuschüsse gewährt werden, wenn die spätere Prüfung der Finanzlage des Landes die Notwendigkeit und die Billigkeit hierfür ergibt.

Diese Vorschläge unterliegen nunmehr der Entscheidung des Reichskabinetts. Sie sind gegen unsere bisherigen Erwartungen außerordentlich abgeschwächt, eine weitere Abschwächung ertragen sie nicht mehr. Es wird so schon außerordentlich schwer werden, damit die bedrohliche finanzielle und politische Lage des Landes entscheidend zu beeinflussen. Ich darf noch einmal mit besonderem Nachdruck darauf hinweisen, was im gegenwärtigen Augenblick unbedingt nötig ist:

1.

Gewährung des Vorschusses für 1926 in Gestalt der unverzinslichen Weiterbelassung des früheren Darlehens von 5,8 Millionen M in einer budgetmäßig verwendbaren Form, d. h. Inaussichtstellen des späteren Erlasses, wenn die Verhältnisse des Landes das erfordern,

2.

Zusage eines Vorschusses unter gleichen Bedingungen zunächst auch für 1927, wenn die Verhältnisse sich unterdessen nicht erheblich verbessern,[152 ]

3.

ein fester Zuschuß aus dem 60-Millionen-Fonds, um damit wenigstens den Teil der Erwerbslosenunterstützung bestreiten zu können, der in 1926 über den Reichsdurchschnitt hinausgeht.

Wenn uns darüber hinaus die Wiederherstellung des Mainzer Domes in der gewünschten Weise erleichtert werden könnte, so würde ich das mit besonderem Danke begrüßen. Den größten Wert aber legt die Regierung auf die grundsätzliche Erklärung der Bereitwilligkeit der Reichsregierung zur wirksamen Hilfe, solange die wirtschaftlichen Wirkungen der Besetzung des Landes weiterbestehen6.

Ich wäre Euer Hochwohlgeboren außerordentlich dankbar, wenn Sie durch einen entsprechenden Kabinettsbeschluß dazu beitragen könnten, unser Land vor verhängnisvollen politischen Erschütterungen zu bewahren, denen es im anderen Falle schon im Hinblick auf den bevorstehenden Volksentscheid über die Auflösung des Landtags7 zweifellos ausgesetzt sein wird.

Mit der Versicherung meiner ausgezeichneten Hochachtung bin ich

Euer Hochwohlgeboren ergebenster

Ulrich

Hessischer Staatspräsident

Fußnoten

1

Henrich.

2

Siehe Anm. 2 zu Dok. Nr. 32.

3

Siehe das Schreiben des Hess. FM an MinDir. Lothholz (RFMin.) vom 8.6.26 (R 43 I /2271 , Bl. 266–268).

4

Zum 60-Mio-Fonds siehe diese Edition, Die Kabinette Luther I/II, Dok. Nr. 247, Anm. 2.

5

In der Anlage der Entwurf einer finanziellen Hilfszusage der RReg. gegenüber dem Lande Hessen (R 43 I /2271 , Bl. 303). Die einzelnen Punkte dieser von Hessen gewünschten Zusage sind im vorletzten Abschnitt des oben abgedruckten Schreibens wiedergegeben.

6

Hierzu äußerte sich MinR Wachsmann in einer längeren Aufzeichnung vom 11. 8., die im Hinblick auf die bevorstehende Entscheidung der RReg. angefertigt wurde: „Nach meinem Dafürhalten ist eine Erfüllung der Ansprüche [Hessens] in dieser Form nicht möglich, sondern wird lediglich grundsätzlich die Bereitwilligkeit zur Hilfeleistung zu beschließen, ihr Ausmaß und ihre Art aber der mit Hessen zu vereinbarenden Finanz- und Verwaltungskontrolle und näheren Feststellungen vorzubehalten sein.“ (R 43 I /2271 , Bl. 307–309). Die Entscheidung der RReg. erfolgte in der Ministerbesprechung vom 12. 8.; siehe Dok. Nr. 68, P. 1.

7

Siehe dazu: Kahlenberg, Die Berichte Eduard Davids als Reichsvertreter in Hessen, Dok. Nr. 158, 159 und 161.

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