Text
Nr. 81
Der Reichsminister des Innern an den Reichskanzler. 17. September 1926
Betreff: Bereitstellung von 30 Millionen Reichsmark im Nachtragshaushalt des Reichsministeriums des Innern für das Rechnungsjahr 1926 zugunsten eines Verwaltungsprogramms für die Ostgebiete.
Eine frühere Entschließung des Ostausschusses des Reichstags, die eine Wiederaufnahme des Entschädigungsverfahrens für Flüchtlinge und Verdrängte anstrebte1, war von der Reichsregierung trotz ihrer Annahme durch den Reichstag mit der Begründung abgelehnt worden, daß eine Erneuerung des Entschädigungsverfahrens die Reichsfinanzen in einem unerträglichen Ausmaß in Anspruch nehmen und damit die glücklich durchgeführte Festigung der Reichswährung gefährden würde2. Die Reichsregierung hatte sich dagegen bereit erklärt, zum positiven Wiederaufbau des Ostens in gewissem Umfang Beihilfen zu gewähren. Hierauf hatte der Ostausschuß in seiner Entschließung vom 27. Juni 1926 die Gründung einer großen Kreditorganisation empfohlen, die durch eine besondere Zentrale und neu einzurichtende, über den ganzen Osten zu verbreitende Genossenschaftskassen für notleidende Ostdeutsche Wirtschaftsbeihilfen gewähren sollten3. Die Verhandlungen der Reichsressorts[204] über diesen Antrag haben zu einer grundsätzlichen Ablehnung geführt, da die Folge einer solchen Neugründung und die Höhe der erforderlichen Mittel – genannt wurden 250 Millionen Reichsmark – wie bei der früheren Entschließung des Ostausschusses nur geeignet schienen, die Reichswährung zu erschüttern und darüber hinaus eine uferlose Begehrlichkeit der Antragsteller zu erwecken. Die Ressorts waren indessen darüber einig, daß die Ablehnung auch dieses Antrags vor dem Ostausschuß nur dann überzeugend vertreten werden könne, wenn zugleich die sofortige Durchführung umfassender wirksamer Maßnahmen zur organischen positiven Förderung des wirtschaftlichen und kulturellen Wiederaufbaus der östlichen Grenzgebiete angekündigt werden könnten. Die inzwischen von den Ressorts des Reichs und Preußens mit den Führern und Verbänden des Ostens geführten Verhandlungen haben die dringende Notwendigkeit sofortiger Maßnahmen erwiesen. Die Fülle der den Regierungen vorgetragenen Bitten läßt sich in vier große Gruppen gliedern:
1. Maßnahmen zur Förderung der Grenzsiedlung.
Diese sind unter der Federführung des Herrn Reichsarbeitsministers bereits eingeleitet worden4. Zunächst sind 15 Millionen Reichsmark zur Verfügung gestellt worden. Der bei der Rentenkreditanstalt5 eingesetzte Ausschuß ist meines Wissens schon mit der Prüfung der ersten Gutsankäufe beschäftigt.
2. Arbeitsbeschaffungsprogramm.
Nach der Meinung der politischen Ressorts des Reichs und Preußens ist der Osten bisher im Arbeitsbeschaffungsprogramm nicht ausreichend berücksichtigt. Eine grundsätzliche Klärung dieser Frage ist durch mein Schreiben vom 14. September 1926 – II 7925 B – beantragt. Die Entscheidung steht noch aus6.
3. Kredithilfen.
Die Ressorts sind darüber einig, daß eine Kredithilfe durch Wiederaufbaudarlehen an notleidende Existenzen abzulehnen, dagegen der Kreditnot im Osten durch stärkere Zuführung von Geldmitteln auf den normalen Wegen der Geld- und Kreditwirtschaft, also durch Förderung der Kreditbedürfnisse der östlichen Gebiete seitens der zentralen Geldinstitute abzuhelfen, und daß dabei auch auf die Weitergabe der Kredite zu erträglichen Zinsbedingungen an die Darlehensempfänger hinzuwirken sein werde7.
[205] Die Verhandlungen hierüber werden für die landwirtschaftlichen Kredite vom Reichsministerium für Ernährung und Landwirtschaft, im übrigen vom Reichswirtschaftsministerium geführt. Der mir durch Beteiligung an den Verhandlungen gewährte Einblick in den gegenwärtigen Stand läßt mich annehmen, daß die Lösung dieser schwierigen Fragen noch längere Zeit erfordern wird. Eine sofortige Entschließung ist jedenfalls nicht möglich.
4. Das Verwaltungsprogramm.
Aus der Fülle der Anträge der Provinzen auf wirtschaftliche und kulturelle Förderung des Ostens durch Verwaltungsmaßnahmen hat die Preußische Staatsregierung eine engere Auswahl der dringlichsten Aufgaben getroffen und zu einem Sofortprogramm zusammengestellt, das noch in diesem Haushaltsjahr in Angriff genommen werden soll. Das Programm ist in gemeinsamen Besprechungen der Ressorts beider Regierungen durchberaten worden8. Die einzuleitenden Hilfsmaßnahmen erfordern folgende Beträge:
I.
für Wohnungsbauten
5 000 000 RM
II.
zur Förderung der Jugend- und Gesundheitspflege
1 300 000 RM
III.
besondere wirtschaftliche und nationalpolitische Maßnahmen
1 445 000 RM
IV.
Chausseebauten
1 500 000 RM
V.
Förderung des Fach- und Berufsschulwesens
1 000 000 RM
VI.
Förderung landwirtschaftlicher Aufgaben
5 700 000 RM
VII.
Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, Allgemeines
2 130 000 RM
VIII.
Kirchliche Angelegenheiten, insbesondere Herstellung der durch die neue Grenze zerrissenen Kirchengemeinden
3 500 000 RM
IX.
Schulbauten
8 425 000 RM
insgesamt
30 000 000 RM
[206] In den Anlagen9 ist eine Übersicht der Unterverteilung nebst Erläuterungen angeschlossen, aus der die Einzelheiten ersichtlich sind.
Der Herr Reichsminister der Finanzen hat in seinem Schreiben vom 11. September 1926 – I C 17148 –10 sich mit meinem Antrag, durch einen Nachtrag zum Haushalt 1926 einen Betrag bis zu 30 Millionen Reichsmark für besondere Maßnahmen in den östlichen Gebieten anzufordern, einverstanden erklärt. Er hat dabei anerkannt, daß die Grenzsiedlung und das Arbeitsbeschaffungsprogramm aus den hierfür besonders bereitgestellten Mitteln zu fördern sind. Dagegen hat er die Forderung erhoben, daß etwaige Mehrbedürfnisse, welche die weitere Beratung der Kreditfragen, insbesondere auch der Plan des Generaldirektors der ostpreußischen Landschaft, von Hippel11, oder die Forderungen des Ostausschusses ergeben könnten, aus diesen 30 Millionen Reichsmark mit bestritten werden sollen.
Durch diese Verquickung des Verwaltungsprogramms, dessen Sinn und Wert als „Sofortprogramm“ in seiner alsbaldigen Durchführung besteht, mit den noch nicht entscheidungsreifen Kreditfragen und mit dem Ergebnis der erst bevorstehenden Verhandlungen des Ostausschusses entsteht eine sachlich und politisch untragbare Verhandlungslage.
Die mannigfachen Bereisungen des Ostens durch Minister, Mitglieder des Reichsrats und des Reichs- und Landtags haben wohl bei allen Beteiligten die Überzeugung hervorgerufen, daß die Klagen der Bevölkerung des Ostens darüber, daß der Osten bisher nicht ausreichend berücksichtigt worden ist, daß die großen dringenden Aufgaben in den besetzten Gebieten des Westens die Blicke in den letzten Jahren allzu stark von der Not des Ostens abgelenkt haben, nicht unberechtigt sind. Es liegen dringende Aufgaben vor, die sofortiger Lösung bedürfen. Die Preußische Staatsregierung hat sich bei der Aufstellung ihres Sofortprogramms auf Aufgaben dringendster Art beschränkt. In den Verhandlungen sind die ursprünglichen Anmeldungen der Preußischen Ressorts unter dem Gesichtspunkt der Dringlichkeit aufs stärkste herabgesetzt worden, so die Forderungen des Preußischen Ministeriums für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung von 83 Millionen auf etwa 14 Millionen, die des Ministeriums für Handel und Gewerbe von 8 Millionen auf 1,3 Millionen. Was übrig geblieben ist, bedarf der sofortigen Durchführung.
Die Bevölkerung des Ostens darf erwarten, daß nach allen Besichtigungsreisen und Wohlwollensversicherungen nun gehandelt wird. Sie erwartet mit Spannung ein positives Ergebnis der lange schwebenden Verhandlungen. Die alsbaldige Inangriffnahme des „Sofortprogramms“ mit der Bereitstellung von[207] 30 Millionen Reichsmark zu seiner Durchführung wird einige Beruhigung schaffen und das Vertrauen wiederherstellen.
Der Ostausschuß des Preußischen Landtages tritt am 28. d. M. zusammen. Dem Vorsitzenden des Ostausschusses des Reichstags hat der Herr Reichsfinanzminister mitgeteilt, daß der alsbaldigen Einberufung des Ausschusses nichts im Wege stehe. Auch dieser Ausschuß kann daher in allernächster Zeit zusammentreten.
Der taktische Zweck des „Sofortprogramms“ war, der Bevölkerung und den Parlamenten zu zeigen, daß sofort nach Maßgabe des Fortschreitens der Verhandlungen die beschlußreifen Maßnahmen zur Ausführung gelangen. Nur durch bestimmte Ankündigung wirksamer positiver Hilfe lassen sich untragbare weitergehende Parlamentsbeschlüsse verhindern. Ich kann daher auch gerade im Interesse der Reichsfinanzen nur dringend dazu raten, die Mittel für die Durchführung des Verwaltungsprogramms ohne Verquickung mit den Kreditfragen uneingeschränkt zur Verfügung zu stellen. Mit leeren Händen oder mit hinhaltenden Erklärungen vor dem Ostausschuß zu erscheinen, würde die Vertreter der Reichsregierung nach allen vorausgegangenen Versicherungen baldiger Hilfe in eine politisch unmögliche Lage versetzen.
Hiernach beantrage ich, grundsätzlich zuzustimmen, daß im Haushalt des Reichsministeriums des Innern für die sofortige Durchführung dringender Verwaltungsmaßnahmen zur wirtschaftlichen und kulturellen Förderung der preußischen Ostgebiete 30 Millionen Reichsmark bereitgestellt werden.
Soweit die Prüfung von Einzelheiten noch für erforderlich erachtet wird, bitte ich, sie den Ressortberatungen zu überlassen. Auch bitte ich davon abzusehen, den Gesamtbetrag von 30 Millionen um den Betrag etwa streitig bleibender Positionen zu kürzen. Wegfallende Positionen werden ohne Schwierigkeit aus der Fülle der zurückgestellten gleichfalls dringlichen Anmeldungen ersetzt werden können.
Auf besondere Anregung des Herrn Reichsministers für Ernährung und Landwirtschaft beehre ich mich, die Bitte auszusprechen, die Entscheidung tunlichst schon in der auf Montag, den 20. September vormittags bereits anstehenden Kabinettssitzung herbeizuführen12.
[…]
Dr. Külz
Fußnoten
- 1
Diese Entschließung des Ostausschusses ist wiedergegeben in Anm. 4 zu Dok. Nr. 7.
- 2
Siehe hierzu Anm. 5 zu Dok. Nr. 7.
- 3
Die vom Ostausschuß des RT entworfenen „Richtlinien“ für eine Kreditaktion des Reichs zugunsten der östlichen Grenzgebiete sind abgedr. in: Politisches Jahrbuch 1926, S. 113 f. (Abschr. in R 43 I/1797, Bl. 40–41).
- 6
Der einschlägige Schriftwechsel zwischen dem RIM, dem PrIM und dem RArbM befindet sich in R 43 I/2031 und 2032. Am 16.11.26 vermerkte ORegR v. Stockhausen, daß die Frage der Einbeziehung der Ostgebiete in das Arbeitsbeschaffungsprogramm in einer Sitzung der Ministerialkommission für Arbeitsbeschaffung eingehend besprochen worden sei. Dabei sei dargelegt worden, „daß der Osten weitgehend im Arbeitsbeschaffungsprogramm berücksichtigt worden sei“. Nach Mitteilung des MinR Weigert (RArbMin.) habe sich das RIMin. „daraufhin beruhigt“ (R 43 I/2032, Bl. 61).
- 7
Siehe das Protokoll einer Ressortbesprechung vom 12.8.26 „über die Kredithilfe für den Osten“ (R 43 I/1852, Bl. 146–148).
- 8
Mit Schreiben vom 20.4.26 an den RIM hatte der PrIM Severing namens der PrStReg. um eine finanzielle Beteiligung des Reichs an der Beseitigung wirtschaftlicher und kultureller Notstände gebeten, die in den preußischen Provinzen Oberschlesien, Niederschlesien, Ostpreußen und Grenzmark Posen-Westpreußen infolge „der unseligen Grenzgestaltung im Osten des Reichs“ entstanden seien. Als besonders wichtige Aufgaben, die nur mit finanzieller Hilfe des Reichs durchgeführt werden könnten, nannte der PrIM den Bau von Wohnungen, Schulen, Chausseen, Bahn- und Hafenanlagen, die Verbesserung der Elektrizitätsversorgung, die Förderung der Jugend-, Wohlfahrts- und Gesundheitspflege, die Unterstützung kultureller und kirchlicher Einrichtungen, die Bereitstellung von Krediten für das Handwerk, die Kleinindustrie, den Einzelhandel und die Landwirtschaft. Für einen Teil der in Aussicht genommenen Maßnahmen und Projekte teilte der PrIM den erforderlichen Finanzbedarf mit (Schreiben des PrIM mit Anlagen in R 43 I/1796, Bl. 194–249). Dieser Antrag Preußens auf Reichshilfe für die östlichen Grenzgebiete bildete den Ausgangspunkt für Verhandlungen über ein „Ostprogramm“, die unter Vorsitz des RIMin. zwischen den zuständigen Reichs- und Preußischen Ressorts geführt wurden. Man kam dabei überein, die Frage der Kredithilfe für die ostdt. Wirtschaft zunächst auszuklammern und gesonderten Ressortbesprechungen vorzubehalten. Aus den übrigen Anträgen Preußens wurde ein Katalog vordringlicher Hilfsmaßnahmen zusammengestellt, die unverzüglich im Verwaltungswege in Angriff genommen werden konnten. Für dieses „Verwaltungs-“ oder „Sofortprogramm“ sollte das Reich – vorbehaltlich der Zustimmung des RFM – noch im Haushaltsjahr 1926 einen Betrag von ca. 30 Mio RM bereitstellen (Protokolle über die Ressortbesprechungen und einschlägiges Aktenmaterial in R 43 I/1797). Vgl. dazu Hertz-Eichenrode, Politik und Landwirtschaft in Ostpreußen 1919–1930, S. 188 ff.
- 10
Nicht zu ermitteln.
- 11
Die Ostpreußische Landschaft, die als Pfandbriefinstitut die wichtigste Quelle langfristigen Kredits für die ostpr. Landwirtschaft war, hatte in den Jahren von 1924 bis 1926 10- und 8%ige Pfandbriefe ausgegeben. Der von Hippel vorgelegte Plan sah vor, diese hochverzinslichen Pfandbriefe mit Hilfe des Reichs in 6%ige Pfandbriefe umzutauschen, um dadurch die Zinsbelastung der verschuldeten Landwirtschaft zu vermindern (Ostpr. General-Landschafts-Direktion an das RKab., 26.7.26, in R 43 I/1852, Bl. 149–153). Vgl. Hertz-Eichenrode, Politik und Landwirtschaft in Ostpreußen, S. 94 ff., 196 ff.