Text
Nr. 176
Aufzeichnung des Staatssekretärs Pünder über Verhandlungen zur Neubildung der Reichsregierung am 22. Januar 1927
Nachl. Pünder, Nr. 95, Bl. 70–71
Nachdem am vergangenen Sonnabend, dem 22. Januar, der Herr Reichskanzler auf Grund des Beschlusses der Zentrumsfraktion dem Herrn Reichspräsidenten gegenüber den Auftrag zur Regierungsbildung übernommen hatte1, setzte er am Nachmittag im Reichstag die Besprechungen mit den Parteiführern fort.
[514] Zunächst empfing er um 4 Uhr die Führer der Demokratischen Partei, die Abgeordneten Koch, Erkelenz und Dr. Haas. Der Herr Reichskanzler richtete an sie die Frage, ob sie anläßlich der durch den Beschluß des Zentrums geschaffenen neuen Lage bereit seien, sich an diesen Verhandlungen im Sinne des Briefes des Herrn Reichspräsidenten2 zu beteiligen. Herr Abgeordneter Koch legte daraufhin den nachstehenden Beschluß der Demokratischen Fraktion, der soeben gefaßt worden sei, vor und erläuterte ihn kurz:
„Die Deutsche Demokratische Reichstagsfraktion gibt über ihre Haltung folgendes Kommuniqué aus: In der am Sonnabend abgehaltenen Fraktionssitzung wurde die Kundgebung der Zentrumsfraktion begrüßt. Man sah aber den vollen Wert dieses Dokuments erst dann gegeben, wenn es nicht die Erklärung einer einzelnen Partei ist, sondern als Mindestprogramm von allen für die Bildung einer Regierung überhaupt in Frage kommenden Parteien ausdrücklich anerkannt und gebilligt ist. Die Fraktion hat deshalb ihren Vorsitzenden beauftragt, der Zentrumsfraktion anheimzugeben, daß sie vor den Verhandlungen über die parteipolitische und persönliche Zusammensetzung des Kabinetts allen diesen Parteien einschließlich Sozialdemokraten und Deutschnationalen das Dokument zur Erklärung und Zustimmung unterbreitet.“
Danach seien die Demokraten zur Teilnahme an diesen Verhandlungen bereit, wenn sie auf der Grundlage des Zentrums-Manifestes geführt würden und zu ihnen auch die Sozialdemokraten hinzugezogen würden. Herr Abgeordneter Erkelenz ergänzte diese Mitteilungen dahin, daß auch für den Fall des Erfolges solcher Verhandlungen, wie sie sich die Demokratische Fraktion dachte, immer noch der Fall Geßler als ungelöst übrig bliebe. Der Herr Reichskanzler nahm diese Erklärung entgegen.
Im Anschluß hieran empfing der Herr Reichskanzler den Führer der Bayerischen Volkspartei, Abgeordneten Prälat Leicht. Das Ergebnis dieser Besprechung war das gleiche wie die letzte Besprechung mit Herrn Abgeordneten Leicht3: die Bayerische Volkspartei begrüßt die sich jetzt anbahnende Entwicklung4 lebhaft und ist selbstverständlich bereit, sich an den Verhandlungen des Herrn Reichskanzlers zu beteiligen. Nur bittet Herr Abgeordneter Leicht, als Grundlage dieser Verhandlungen nicht das Manifest der Zentrumsfraktion zu machen; denn den Satz, daß die geltende Reichsverfassung auch[515] für eine fernere Zukunft der allein hoffnungsvolle Weg sei5, könne die Bayerische Volkspartei nicht unterschreiben. Diese Ablehnung bedeute keineswegs, daß die Bayerische Volkspartei monarchistisch eingestellt sei, sie lehne nur aus grundsätzlichen Erwägungen nach dieser Richtung jede Festlegung für die fernere Zukunft ab. Der Herr Reichskanzler bestätigte in diesem Zusammenhange, daß auch das Zentrum nach seiner Auffassung nur eine Verfassungspartei, aber keine republikanische Partei sei. Außerdem beabsichtige er nicht, die Verhandlungen betreffend die Regierungsbildung an Hand des Zentrums-Manifestes, sondern auf Grund besonderer, noch zu bildender Formulierungen zu führen.
Im Anschluß hieran empfing der Herr Reichskanzler den Grafen Westarp und Exzellenz Wallraf von der Deutschnationalen Fraktion. In dieser eingehenden Aussprache wurde nur die allgemeine Zustimmung zu gemeinsamen Verhandlungen über eine Regierungsbildung festgestellt. Die Erörterung einzelner Punkte wurde mit Absicht zurückgestellt und hierfür eine neue Sitzung für Montag, den 24. Januar, 10 Uhr vormittags, vereinbart.
Pünder, 22. 1.6
Fußnoten
- 1
Die Zentrumsabgeordneten Joos, Wirth und Brauns hatten eine aus zwei Teilen bestehende „Kundgebung“ ausgearbeitet, die – im Hinblick auf die weiteren Verhandlungen über die Regierungsbildung – die Haltung des Zentrums zur Weimarer Verfassung, zur Reichswehr, zur Außen-, Wirtschafts- und Sozialpolitik in programmatischer Form darlegte. Diese Kundgebung wurde der Fraktion des Zentrums am 21.2.27 vorgelegt, die am selben Tage folgenden Beschluß faßte: „Die Zentrumsfraktion des Reichstags erklärt sich mit der […] Kundgebung einverstanden und stellt fest, daß damit Herrn Dr. Marx der Zugang zu Verhandlungen [über die Regierungsbildung] eröffnet ist.“ (Morsey, Zentrumsprotokolle, Dok. Nr. 107 und 109). Am 22. 1. vormittags teilte Marx dem RPräs. mit, daß er den Auftrag des RPräs. zur Regierungsbildung (Dok. Nr. 173) im Sinne des Beschlusses der Zentrumsfraktion annehme (WTB-Meldung vom 22. 1., R 43 I/1307, Bl. 254). – Die Kundgebung der Zentrumsfraktion vom 21. 1. (auch „Manifest“ genannt) wurde durch WTB und in der Tagespresse veröffentlicht (Text in R 43 I/1307, Bl. 252–254); abgedr. in: Politisches Jahrbuch 1927/28, S. 83 ff.; Mommsen, Deutsche Parteiprogramme, S. 493 ff.; leicht gekürzter Abdruck in: Schultheß 1927, S. 13 ff.
- 3
Gemeint ist anscheinend die Besprechung zwischen Marx und Leicht am 18. 1.; siehe Dok. Nr. 169.
- 4
D. h. den Beginn von Verhandlungen über die Bildung einer bürgerlichen Mehrheitsregierung mit Einschluß der Deutschnationalen.
- 5
In der Kundgebung („Manifest“) der Zentrumsfraktion vom 21. 1. (siehe Anm. 1) heißt es: „Im Weimarer Verfassungswerk ist jener neue politische Wille durchgebrochen, der nach außen hin die nationale Geltung auf dem Wege der Verständigung mit den anderen Nationen und nach innen die Erzielung eines vertieften Volksbewußtseins durch eine umfassende soziale Erneuerung unseres nationalen Lebens erstrebt. Es gibt für uns keine andere staatliche Wirklichkeit als die der deutschen Republik mit ihren Symbolen. Sie hat dem deutschen Volke seine Einheit in verzweifelten Tagen gerettet. Auch für die fernere Zukunft ist sie der allein hoffnungsvolle Weg.“
- 6
Diese Datierung Pünders ist nicht mit dem ersten Satz der vorliegenden Aufzeichnung vereinbar, wo vom 22. Januar als dem „vergangenen Sonnabend“ die Rede ist; wahrscheinlich hat Pünder diese Aufzeichnung erst nach dem 22. 1. angefertigt.