2.76 (ma31p): Nr. 76 Reichstagsabgeordneter Brüning an den Reichskanzler. 7. September 1926

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[189] Nr. 76
Reichstagsabgeordneter Brüning an den Reichskanzler. 7. September 19261

R 43 I /2359 , Bl. 273–288

[Zur Rede des Reichsfinanzministers Reinhold vom 3.9.1926 auf der Tagung des Reichsverbandes der Deutschen Industrie in Dresden.]

Hochgeehrter Herr Reichskanzler!

Am vergangenen Sonnabend [4. 9.] hatte ich Gelegenheit, anläßlich der von Ihnen abgehaltenen Pressebesprechungen Ihnen mündlich meine Bedenken in bezug auf die Rede, die der Herr Reichsfinanzminister auf der Tagung des Reichsverbandes der deutschen Industrie in Dresden gehalten hat, auszusprechen2. Nachdem ich nun den Text der Rede des Herrn Reichsfinanzministers[190] in den Blättern verschiedenster Parteirichtungen mir genau angesehen habe, fühle ich mich nur aus ernstester Besorgnis für die Erhaltung der Verantwortungsfreudigkeit der Regierungsparteien verpflichtet, Ihnen, hochverehrter Herr Reichskanzler, meine Bedenken noch einmal schriftlich vorzutragen.

Es ist Ihnen, hochverehrter Herr Reichskanzler, bekannt, wie sehr die Zentrumspartei und auch ich persönlich uns Mühe gegeben haben, der demokratischen Partei die verantwortliche Mitarbeit an der Finanzpolitik zu erleichtern. Es war für die Zentrumsfraktion eine Selbstverständlichkeit, daß wir dabei gewissen weitgehenden Wünschen, die aus der Oppositionsstellung der demokratischen Partei im vergangenen Sommer3 sich ergaben, irgendwie im kleinen[191] Umfange Rechnung tragen mußten, selbst wenn wir starke Bedenken im einzelnen dagegen hatten. Ich habe diese Stellungnahme dem Herrn Reichsfinanzminister wiederholt auseinandergesetzt. In Gegenwart von Herrn Domkapitular Leicht hatte ich am vergangenen Freitag [3. 9.] Gelegenheit, dem Herrn Reichsfinanzminister auch zu erklären, daß wir es durchaus verstehen könnten, wenn er zur Abwehr übertriebener deutschnationaler Angriffe überginge. Herr Domkapitular Leicht und ich haben aber den Herrn Reichsfinanzminister dabei gebeten, diese Abwehr im Rahmen der finanzpolitischen Tatsachen zu führen, um politische Schwierigkeiten mit anderen Regierungsparteien zu verhüten. Zu diesen Tatsachen gehört auch der gewaltige Steuerabbau und die weitsichtige Sicherung der Reichsfinanzen durch die Finanzpolitik des Sommers 1925.

Nun muß ich zu meinem Bedauern feststellen, daß trotzdem nach übereinstimmenden Pressemitteilungen der Herr Reichsfinanzminister die schärfsten Vorwürfe gegen die Finanzpolitik des Kabinetts Marx vom Jahre 1924 und des ersten Kabinetts Luther vom Jahre 1925 erhoben hat. Der Herr Reichsfinanzminister hat die Dinge so dargestellt, als ob während der Dauer dieser Kabinette eine Finanzpolitik getrieben sei, die ohne Rücksicht auf die Wirtschaftslage Einnahmen geschaffen habe, die nicht zur Deckung der Ausgaben unbedingt erforderlich waren.

Nun ist es Ihnen, hochverehrter Herr Reichskanzler, durchaus bekannt, daß im Jahre 1923/24 es notwendig war, bis zur Durchbringung des ersten Normaletats im Jahre 1925 seitens des ersten Kabinetts Luther erst erhebliche Reserven an Steuern zu beschaffen. Die Notwendigkeit solcher Reserven ergab sich mit Rücksicht auf die ungeklärte Lage der Reparationsabgaben und die Durchführung des Dawes-Planes. Sie ergab sich ferner durch die Berücksichtigung der Mehrleistungen für Entschädigung der Liquidationsgläubiger des Reiches, für den Wiederaufbau der Sozialversicherung, für den Ausgleich der Ruhrschäden und nach unserer Ansicht auch für eine Aufbesserung der Lage der Beamtenschaft, sowie endlich zur Bestreitung von Ausgaben, die wie die großzügige Ostsiedlung aus sozialen und nationalen Gründen, einmalig oder auf mehrere Jahre verteilt, unbedingt erforderlich waren.

Diese vom sozialen Standpunkt notwendigen Ausgaben, die in den nächsten Jahren steigenden Reparationslasten, die Sicherung und Reform der Länder- und Gemeindefinanzen und die Unmöglichkeit, vor 1926 eine Anleihe aufnehmen zu können, mußten gegeneinander vorsichtig abgewogen und dann ein Generalplan für die Finanzpolitik des Reiches für längere Zeit aufgestellt werden. Was dann an Steuererleichterungen noch übrig blieb, hätte nach Unterzeichnung des Londoner Abkommens im Spätherbst 19244 durchgeführt werden können, wenn nicht die politischen Krisen, Reichstagswahlen5 und zweimalige Präsidentenwahlen6 eine Inangriffnahme der Finanzreform vor dem Frühjahr 1925 verhindert hätten. Dadurch allein sind nach dem Abschluß der Dawes-Anleihe noch weitere Überschüsse eingetreten, die bei den Beratungen[192] der Steuerreform vom Sommer 1925 für den großen Steuerabbau berücksichtigt wurden. Es wurde ein Etatsplan aufgestellt, der eine Deckung der Defizite mit Hilfe dieser Reserven bis 1926 und in das Krisenjahr 1927 hinein ermöglichen sollte. Unter Berücksichtigung dieser Überschüsse wurde die Umsatzsteuer um ein Drittel, die Luxussteuer um ein Viertel gesenkt, die Lohnsteuer in ganz gewaltigem Umfange herabgesetzt und endlich eine Reihe von kleineren Steuern erleichtert. Das Wichtigste war aber die Erleichterung, die der Steuerzahler erst heute fühlt, nämlich der Übergang bei der Entrichtung der Einkommens- und Körperschaftssteuer aufgrund von Vorauszahlungen zu Leistungen, die nach dem wirklichen Einkommen veranlagt worden sind. Das Jahr 1925 hat also für die Steuerpflichtigen eine ganz gewaltige Erleichterung herbeigeführt7, der gegenüber die Milderungen von 1926 verhältnismäßig geringfügig sind8. Die Fraktion der Zentrumspartei muß deshalb gegen die Rede des Herrn Reichsfinanzministers die stärksten Bedenken äußern, weil sie nicht mit der Wirklichkeit übereinstimmt und weil sie die fühlbaren Erleichterungen der Steuerreform des Jahres 1925 auf die geringfügigen Milderungen des Jahres 1926 vorsätzlich zurückführt. Die Zentrumsfraktion wird deshalb durch die Art der Rede des Herrn Reichsfinanzministers um ihre Erfolge bei der Steuerpolitik des Jahres 1925 gebracht. Die Darstellung des Herrn Reichsfinanzministers kann also nur auf eine Salvierung der demokratischen Politik des Jahres 1925 hinauslaufen, in einem Umfange, der auch in schwierigen Koalitionsverhältnissen als nicht gerechtfertigt angesprochen werden muß. Die Grundlagen dieser Feststellung müssen von dem Herrn Reichsfinanzminister an Hand der Ausweise der Reichskasse unbedingt anerkannt werden. Schon im Jahre 1925 nach Inkrafttreten der Steuerreform des gleichen Jahres sind die Überschüsse des Jahres 1924 zur Deckung der Ausgaben mit herangezogen. Wäre die Finanzreform des Jahres 1925 nicht gewesen, bzw. ein wohlüberlegter Ausgleich zwischen den gewaltigen Steuersenkungen des Jahres 1925 und der Heranziehung der Überschüsse des Jahres 1924 zur Deckung dieser Ausfälle, so wäre die Politik des Herrn Reichsfinanzministers von vornherein unmöglich gewesen. Er hätte eine kaum für ihn erträgliche Verantwortung übernommen.

Die Steuererleichterungen des Jahres 1926 sind gegenüber den gewaltigen Steuerermäßigungen des Jahres 1925 unbedeutend; auch sie wären nicht möglich, wenn nicht die Politik des Jahres 1925 vorausgegangen wäre. Man kann aber heute feststellen, daß selbst trotz der unerwarteten Einnahmen infolge des langwierigen englischen Kohlenstreiks9 und eines geringen Anwachsens der Kassenliquidität infolge Neuregelung der Zahlungen aufgrund des kleinen Besserungsscheines10[193] das Jahr 1926 mit einem gewissen Defizit abschließen wird. Damit ist die Politik der Zentrumspartei absolut gerechtfertigt. Die Reden des Herrn Reichsfinanzministers in Dresden und anderswo dienen aber zu [sic] einer Herabsetzung und Verurteilung dieser Politik und erschweren die Verantwortungsfreiheit für die Zukunft.

Die Bedenken, die gegen die Rede des Herrn Reichsfinanzministers ebenso wie gegen eine ähnliche im März dieses Jahres erhoben werden müssen, liegen aber noch in stärkerem Maße in einem folgenschweren psychologischen Moment. Wenn der Herr Reichsfinanzminister überall Steuererleichterungen verspricht, wird er auf die Dauer nicht erzielen, daß nachträglich die Parteien aus ihrem großen Verantwortlichkeitsgefühl heraus seine Versprechungen auf das für die Reichsfinanzen erträgliche Maß herunterbringen. Es bedeutet eine bedenkliche Schwächung demokratischer Verantwortlichkeit, wenn der Herr Reichsfinanzminister die heutige Finanzlage des Reichs und die Leistungen der vergangenen Kabinette um die Rettung der Finanzen des Reichs in einer Form darstellt, die bei den Wählern ein völlig verkehrtes Bild ergeben müssen. Keine Partei wird in der Lage sein – das hat sich schon bei der Steuermilderungsaktion in diesem Frühjahr11 gezeigt –, solchen Wünschen ihrer Wähler auf die Dauer Widerstand zu leisten, die eine katastrophale Entwicklung der Reichsfinanzen zur Folge haben.

Der Herr Reichsfinanzminister hat in seiner Dresdener Rede eine Bemerkung über die Senkung der Börsenumsatzsteuer gemacht12, über die rein finanziell zu sprechen sich im Plenum des Reichstages noch Gelegenheit ergeben wird. Ich erwähne diesen Punkt nur deshalb, weil der Herr Reichsfinanzminister sich damals über den ausdrücklichen Wunsch einer Partei hinweggesetzt hat13, die ihm überhaupt eine Basis für die Durchführung seiner Wünsche erst ermöglicht hat. Der Herr Reichsfinanzminister hat in diesem Punkte sich über feste Vereinbarungen mit einer großen Partei, die ihm seine politische Stellung gesichert hat, einfach hinweggesetzt.

Weitere schwerwiegende Bedenken ergeben sich gegen die angekündigte Herabsetzung der Einkommensteuertarife, gegen die Identifizierung der Steuer- und Handelsbilanz und gegen die Ankündigungen, die der Herr Reichsfinanzminister über seinen Plan der Anerkennung von Steuerbilanzen, die von vereidigten Bücherrevisoren aufgestellt werden, gemacht hat. Im vergangenen Sommer sind die Einkommensteuertarife soweit heraufgesetzt, daß in zwei oder drei Jahren sich solche Erträgnisse ergeben, daß die Gewerbe- und Grundvermögenssteuer[194] so, wie es Erzberger und vor dreißig Jahren schon Miquel als Ideal vorschwebte, wesentlich herabgesetzt werden können. Das ist ein großes Ziel zur Erleichterung der Lage der Landwirtschaft, des Mittelstandes und der Industrie. Der Herr Reichsfinanzminister zerstört diesen großzügigen Plan, wenn er jetzt schon Versprechungen auf Herabsetzung der Einkommensteuertarife macht. Selbstverständlich wird die Zentrumspartei einer Herabsetzung der Einkommenssteuer zustimmen, wenn die große Aufgabe der Entlastung der Ertragssteuern durch steigende Überweisungen aus der Einkommensteuer an die Länder nach Wiederingangbringung unserer Wirtschaft erfüllt ist. Ich brauche das wohl nicht besonders zu betonen, daß es für jede Partei selbstverständlich eine besonders angenehme Aufgabe ist, Steuern, wenn es geht, herabzusetzen. Man kann aber nicht Steuererleichterungen vornehmen, die auch die Grundlage des Finanzausgleichs erheblich erschweren. Schon durch die Senkung der Umsatzsteuer um ein Viertel Prozent in diesem Frühjahr haben wir uns den scharfen Angriffen unserer Parteifreunde in den Länderregierungen ausgesetzt, die sich, wenn auch eine Mindestsumme bei den Überweisungen garantiert wurde14, nachträglich erheblich geschädigt fühlten. Solange wie noch kein endgültiger Finanzausgleich möglich ist, muß u. E. gerade von seiten des Herrn Reichsfinanzministers, um den Parteien und sich selbst für die Erledigung des endgültigen Finanzausgleichs keine unnötigen Schwierigkeiten zu schaffen, auf dieses Moment Rücksicht genommen werden.

[…]

Entsprechend der Tradition der Zentrumspartei, die Sie, hochverehrter Herr Reichskanzler, stets besonders vertreten haben, lehnt die Zentrumsfraktion eine Agitationspolitik ab. Es wäre ein Leichtes, durch mehrere höchst populäre Anträge sofort vor der Öffentlichkeit nachzuweisen, in wie starkem Maße durch die erwähnten Äußerungen des Herrn Reichsfinanzministers die Öffentlichkeit sich falschen Erwartungen hingibt.

Ich darf endlich noch auf die Erschwerung von Verhandlungen, die auf Erleichterungen unserer Reparationszahlungen hinzielen, infolge der zu optimistischen Darstellung des Herrn Reichsfinanzministers über unsere Reichsfinanzen hinweisen. Ich konnte mich überzeugen gelegentlich meines Aufenthaltes in Paris vor vier Wochen, wie stark derartige Ausführungen des Herrn Reichsfinanzministers ungünstig für uns wirken.

Endlich muß gerade die Agitation in Aufwertungskreisen durch allzu optimistische Darstellungen über unsere jetzige Finanzlage und durch Äußerungen, wie sie der Herr Reichsfinanzminister in Dresden über die Finanzpolitik der vergangenen zwei Jahre gemacht hat, in äußerst bedenklicher Weise an Boden gewinnen.

Zusammenfassend muß ich Widerspruch dagegen erheben, daß die außerordentlichen Schwierigkeiten, die für einen Übergangszeitpunkt in der Finanzpolitik sich nach einer so gewaltigen Inflation wie die des Jahres 1923 ergaben, von einem maßgebenden Finanzpolitiker verschwiegen und unvermeidbare[195] Schwierigkeiten als Angriffspunkt gegen diejenigen, die das Reich seinerzeit gerettet haben, verwendet werden. Der Herr Reichsfinanzminister übersieht, daß er durch seine Reden und Kritik an den Jahren 1924/25 der deutschnationalen Volkspartei gegen seine eigene Partei selbst die schärfsten Agitationsmittel bietet, weil nachweisbar durch die Finanzreform im Jahre 1925 zum ersten Male ein stärkerer Abbau von Überschüssen bedingt worden ist.

Die größte Sorge, die sich für mich aus den verschiedenen Ausführungen des Herrn Reichsfinanzministers ergibt, ist die, daß, wenn jetzt Steuern auf ein für die nächsten Jahre nicht sicher zu ertragendes Maß gesenkt werden, nachträglich die Parteien in dem Augenblick der Notwendigkeit einer Wiedererhöhung nicht dazu die Kraft besitzen, zumal man nicht weiß, ob dann eine Regierung vorhanden ist, die eine geschlossene Mehrheit im Parlament hinter sich hat. Es ist leicht, aufgrund der Überschüsse bis zum Inkrafttreten der Steuerreform des Jahres 1925 nachträglich Finanzpolitik zu betreiben; es ist schwer, bei den deutschen parlamentarischen Verhältnissen, wenn diese Überschüsse verbraucht und unter Umständen auch die Anleihemöglichkeiten erschöpft sind, nachträglich eine Mehrheit für Steuererhöhungen zu finden. Sie haben, Herr Reichskanzler, in führender Stellung alle diese Schwierigkeiten in den Jahren der Inflation miterlebt und kennen sie besser als ich. Es ist oft genug in den Jahren bis zur Stabilisierung unmöglich gewesen, in entscheidenden Augenblicken für Steuererhöhungen genügend verantwortungsbereite Mehrheiten im Reichstag zu finden, ein Umstand, der uns in katastrophale Situationen hineingebracht hat und der als Warnung für jeden späteren Finanzminister dienen sollte.

Ich mache diese Ausführungen nur aus ernstester Sorge für die Zukunft unserer Reichsfinanzen und für die Durchführung des steuerlichen Gerechtigkeitsideals unserer Partei. Es liegt mir fern, Verdienste, die sich beispielsweise der Herr Reichsfinanzminister um die Reorganisation des Reichsfinanzministeriums erwirbt, herabzusetzen. Ich bin jederzeit bereit, sie in der Öffentlichkeit anzuerkennen und bin ebenso bereit, in der Zentrumspresse, falls in dem einen oder anderen Punkte die optimistischen Schätzungen des Herrn Reichsfinanzministers sich bewahrheiten sollten, dieses gleichfalls anzuerkennen. Aber vor dem Übermaß von Optimismus und vor einer zerstörenden Kritik über die [sic] Finanzpolitik der Vergangenheit, einer Kritik, die eine Gefährdung für die Zukunft notwendig in sich schließt, zu warnen, halte ich für meine zwingende Pflicht.

Ich erhalte aus dem Lande und aus Kollegenkreisen eine Reihe von Anregungen, die dahin gehen, daß man Sie, Herr Reichskanzler, bitten möchte, zu der Rede des Herrn Reichsfinanzministers und den schmerzlichen Notwendigkeiten der Finanz- und Währungspolitik des Jahres 1923/24, für die Sie die Verantwortung in erster Linie vor der Geschichte tragen, selbst in maßgebender Weise Stellung zu nehmen; ein Wunsch, dem ich mich nur von ganzem Herzen anschließend kann15.

[196] Es ist die historische Aufgabe der Zentrumspartei, sowohl für die Kontinuität der Außenpolitik wie für die mit ihr eng verknüpfte und ihre Erfolge zum Teil bedingende Finanzpolitik des Reiches im Wechsel der Koalitionen die Verantwortung zu tragen. Ich bitte Sie, hochverehrter Herr Reichskanzler, Ihren ganzen Einfluß aufzuwenden, daß nicht durch falsche Auffassungen der Öffentlichkeit, die durch Äußerungen des Herrn Reichsfinanzministers hervorgerufen werden, diese Aufgabe der Zentrumspartei unmöglich gemacht wird.

In bekannter Verehrung verbleibe ich

Ihr ganz ergebener

Dr. Brüning

Fußnoten

1

Das Begleitschreiben Brünings an StS Pünder vom 7. 9. lautet: „In der Anlage überreiche ich Ihnen das angekündigte Schreiben an den Herrn Reichskanzler. Ich bedaure, daß es etwas lang ausgefallen ist; ich glaubte aber, alle die Momente, die die Steuerpolitik des Jahres 1925 beherrscht haben, ganz kurz zusammenstellen zu müssen. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie folgenden Vorschlag überlegen würden: Ich würde es für gut halten, wenn anschließend an die für morgen in Aussicht gestellte Besprechung mit dem Herrn Reichskanzler doch noch eine Besprechung mit den Parteiführern stattfindet und daß im Anschluß daran ein Kommuniqué an die Presse gegeben wird, das, ohne Kritik an dem Herrn Reichsfinanzminister, die wirkliche Lage der Reichsfinanzen und die zahlenmäßige Bedeutung der Überschüsse aus dem Jahre 1924 und 1925 für die Aufrechterhaltung des Gleichgewichts im Haushalt des Finanzjahres 1926 darlegt. Ich glaube, daß man so vielleicht am besten über die Schwierigkeiten hinwegkommt.“ (R 43 I /2359 , Bl. 271–272).

2

WTB Nr. 1488 vom 4. 9. brachte folgenden Bericht über die Rede des RFM Reinhold (DDP) vom 3. 9. auf der Tagung des RdI in Dresden: Der RFM „gedachte zunächst der trostlosen Wirtschaftslage, die das zweite Kabinett Luther bei seinem Amtsantritt [am 20.1.26] vorgefunden habe, und führte weiter aus: In den vergangenen Jahren mußte die Sorge um die Stabilisierung und Erhaltung der Valuta in den Vordergrund gestellt werden, so daß 1924 ein zu scharfes Angreifen der Steuerschraube vielleicht berechtigt war. Aber daß, trotzdem zu sehen war, wie bei verminderter Wirtschaft die öffentlichen Kassen sich füllten, diese Steuerpflichten so lange aufrecht erhalten wurden, das war wohl gegenüber der deutschen Wirtschaft und damit gegenüber dem Vaterlande ein ganz schwerer Fehler. Die ganzen öffentlichen Gewalten, Reich, Länder und Kommunen breiteten sich mit ihrem Geld in die Privatwirtschaft aus. […] Die Wirtschaft muß sich daran gewöhnen, daß das Reich nicht die Aufgabe hat, Bankier der Wirtschaft zu sein, daß es ein ganz unerhörter Zustand ist, daß man den gutgeleiteten Betrieben die Steuern abnimmt, um damit schlecht arbeitende und faule Konkurrenten zu stützen. […] Es erscheint mir für unser Volk, das im Augenblick unendlich hohe Lasten zu tragen hat, ganz falsch, wenn wir die Lasten, die wir mit Recht verteilen können auf spätere Zeiten und Generationen, jetzt auch noch zu den unvermeidlichen unserer Wirtschaft aufbürden. Ich habe deshalb nach hartem Kampf mein Steuermilderungsprogramm eingebracht [siehe Anm. 8] und möchte darauf hinweisen, daß erst dieses Programm die gefährlichste und sinnloseste Steuer, die Luxussteuer und damit die Besteuerung der deutschen Qualitätsarbeit, beseitigt hat. Wenn viele bisher von der Luxussteuer betroffene Industrien jetzt die belebende Wirkung der Aufhebung dieser Steuer feststellen, so ist das für mich die beste Rechtfertigung. Ähnlich war es mit der Herabsetzung der Fusionssteuer. Erst dadurch haben wir den wirtschaftlich notwendigen Prozeß der Zusammenfassung unserer Industrie nach gesunden Gesichtspunkten ermöglicht. […] Die Ermäßigung der Umsatzsteuer gehörte zu meinem Programm. 350 Millionen, die nicht in die öffentlichen Kassen geflossen sind, sind in der Wirtschaft geblieben, und ihr belebender Einfluß ist in der Wirtschaft sicher besser gewesen. Wir müssen uns endlich daran gewöhnen, daß wir die Ausgaben anpassen an die Einnahmen. Zur Frage der Verwaltungsreform bemerkte der Reichsfinanzminister, nachdem er die von der Beamtenschaft in den letzten Jahren geleistete Arbeit anerkannt hatte: Wegen der schwierigen Struktur Deutschlands, die einen viel zu großen Aufwand von Beamtenapparaten erfordert, muß endlich ein Abbau eintreten, nicht in der Form, daß wir schematisch die Beamten abbauen, sondern daß wir die Aufgaben abbauen. Das Reichskabinett hat gestern den von mir vorgelegten Plan einer organisatorischen Umbildung meines Ministeriums gebilligt, der davon ausgeht, daß wir die Hemmungen beseitigen müssen, die durch das Neben- und Durcheinander der letzten Jahre geschaffen wurden. Die Verwaltungsreform ist vor allem nötig auch in den Ländern und Gemeinden. […] Eng damit im Zusammenhang steht der Finanzausgleich. Ich bin entschlossen, den Finanzausgleich durchzuführen, sobald die nötigen Unterlagen zu beschaffen sind, die von der Finanzstatistik, vor allem von den Ergebnissen der ersten Einkommensteuer abhängen. Die Grundzüge dieses großen Planes müssen in erster Linie darin bestehen, daß wir die finanzielle Selbstverantwortung der einzelnen Körperschaften, die das Geld bewilligen müssen, wieder stärken. […] Es ist zweifellos sinnlos, wenn das Reich Steuern ermäßigt und Länder und Gemeinden gleichzeitig eine Steuer erhöhen. Wir wollen deshalb in unserem Finanzausgleich das schwere Problem lösen, daß wir die Realsteuern in eine Relation bringen zu den Zuschlägen zur Einkommensteuer. […] Vor der Einführung von Zuschlägen zur Einkommensteuer werden wir auch die Einkommensteuer selbst uns einmal entschieden ansehen müssen. Gelingt es uns, die Einkommen in Deutschland wirklich nach den Sätzen zu erfassen, dann sind die Sätze zu hoch. Deshalb kann eine Herabsetzung der Tarife herbeigeführt werden. Ich habe mich von jeher dafür interessiert, das in England beliebte System, das die Geschäftsbilanzen durch vereidigte Revisoren nachprüft und feststellt, so daß dann die Steuerbilanz identisch ist mit der Geschäftsbilanz, auch in Deutschland einzuführen. […] Hinsichtlich des Dawes-Planes führte der Reichsfinanzminister aus: […] Mit voller Loyalität werde ich die Verpflichtungen aus dem Dawesplan erfüllen, solange die wirtschaftliche Möglichkeit dazu gegeben ist. Daß ich aber ebenso für die vernünftige Anpassung an die wirtschaftlichen Notwendigkeiten Deutschlands eintreten werde, ist gewiß. Der Minister drückte die Überzeugung aus, daß die ganze Welt einmal sich gegen die Daweszahlungen wehren werde. Man müsse das ganze Problem aus dem politischen Gebiet herausbringen und auf das wirtschaftliche Geleis führen. Zum Schluß erklärte der Reichsfinanzminister: Ich bin von der ganzen Öffentlichkeit abgestempelt als ein Optimist. Wenn ein Optimist sein heißt, Deutschlands jetzige und zukünftige Lage rosig zu beurteilen, so bin ich gewiß kein Optimist. Ich sehe unendliche Schwierigkeiten und einen großen Leidensweg. Wenn Optimist sein heißt, die Lage der Reichsfinanzen als günstig zu betrachten, so muß ich leider auch das mit Energie zurückweisen. Ich werde froh sein, wenn es gelingt, ein Defizit zu vermeiden. Von einer günstigen Lage unserer Reichsfinanzen kann keine Rede sein. Aber wenn Optimist sein heißt, an die Zukunft zu glauben, dann erkläre ich mich allerdings zum Optimisten. Ich glaube an Deutschland und glaube an Deutschlands Zukunft. Wir glauben an das Reich, an dessen Spitze jetzt der greise Führer steht, vor dessen vorbildlicher Treue zu Volk und Vaterland wir uns alle in Ehrfurcht beugen. (Stürmischer Beifall.) Wir werden unser Reich durchretten zu einer besseren Zukunft und den schweren Weg in Arbeit gehen müssen, der zur Freiheit führt. Ich weiß, daß dieser Weg schwer ist, aber wir müssen, welch’ politischen Glaubens wir auch sind, gemeinsam den Weg gehen, weil meiner festen Überzeugung nach nur am Ende dieses Weges das Ziel steht, zu dem wir alle streben: Der Wiederaufbau unserer Nation, die alte deutsche Größe und die neue deutsche Freiheit. (Stürmischer, langanhaltender Beifall. Die Versammlung erhebt sich und bringt dem Minister brausende Ovationen dar.)“ (R 43 I /2359 , Bl. 261).

3

Sommer 1925. Während der Amtszeit des Kabinetts Luther I (15.1.25 bis 20.1.26) befand sich die DDP in der Opposition. Seit der Bildung des II. Kabinetts Luther am 20.1.26 war die DDP wieder an der Regierung beteiligt und stellte mit Reinhold den Reichsfinanzminister.

4

Londoner Abkommen über die Durchführung des Dawes-Plans vom 16.8.24.

5

Reichstagswahlen vom 7.12.24.

6

Reichspräsidentenwahlen vom 29. 3. und 26.4.25.

7

Eine Darstellung und zugleich Rechtfertigung der Steuerreform des Jahres 1925 vornehmlich aus der Sicht der Zentrumspartei gibt Brüning in den von ihm verfaßten Artikeln „Die Steuerreform von 1925“, Politisches Jahrbuch 1925, S. 394 ff. und „Finanz- und Steuerpolitik“, Politisches Jahrbuch 1926, S. 539 ff. Zu den Verhandlungen über die Steuerreform von 1925 siehe auch diese Edition, Die Kabinette Luther I/II.

8

Das „Gesetz über Steuermilderungen zur Erleichterung der Wirtschaftslage“ vom 31.3.26 (RGBl. I, S. 185 ) brachte u. a. eine Senkung der Umsatzsteuer von 1 auf 0,75%, eine Herabsetzung der Fusionssteuer, die Beseitigung der Luxussteuer, der Weinsteuer und der Salzsteuer. Vgl. dazu diese Edition, Die Kabinette Luther I/II; Brüning, Finanz- und Steuerpolitik, Politisches Jahrbuch 1926, S. 573 ff.

9

Engl. Bergarbeiterstreik vom Mai bis November 1926.

10

Siehe hierzu Dok. Nr. 75, P. 5.

11

Siehe Anm. 8.

12

Nach WTB (Anm. 2) hatte Reinhold in seiner Dresdner Rede ausgeführt: „Zwei große Parteien des Reichstags haben mich heftig angegriffen wegen der Senkung der Börsenumsatzsteuer. Das Ergebnis ist gewesen, daß die reduzierte Steuer im Juni und Juli das doppelte Ergebnis der Vormonate gebracht hat. Man sieht hieraus wieder, daß es nicht auf die Sätze ankommt, sondern auf den Verkehr.“

13

Die Senkung der Börsenumsatzsteuer war durch eine VO des RFM Reinhold vom 29.4.26 (RGBl. I, S. 215 ) gegen den ausdrücklichen Widerspruch der Zentrumsfraktion erfolgt. Siehe diese Edition, Die Kabinette Luther I/II, Dok. Nr. 346, P. 3; Nr. 349, P. 3 und P. 7. Vgl. dazu Brüning, Finanz- und Steuerpolitik, Politisches Jahrbuch 1926, S. 587 ff.

14

Zur Umsatzsteuergarantie des Reichs gegenüber den Ländern im Zusammenhang mit dem geltenden Finanzausgleich siehe Dok. Nr. 99, Anm. 2.

15

Siehe das Schreiben des StS Pünder an RFM Reinhold vom 7. 9.: Dok. Nr. 77.

Extras (Fußzeile):