Text
[615] Nr. 197
Aufzeichnung des Reichskanzlers über seine Besprechung mit dem Generalagenten für Reparationszahlungen Gilbert am 10. März 19271
[Ausführung des Dawes-Plans; Finanzpolitik des Reichs.]
Der Reichskanzler hatte Herrn Parker Gilbert auf den 10. März vorm. 11 Uhr zu einer Besprechung gebeten, weil er erfahren hatte, daß Gilbert Besorgnisse wegen der Haltung Deutschlands gegenüber der Erfüllung der Verpflichtungen aus dem Dawesplan geäußert haben sollte. Reichsbankpräsident Dr. Schacht hatte eine solche Unterredung begrüßt und nahm an derselben teil, um zugleich als Dolmetscher zu dienen.
Der Reichskanzler eröffnete die Besprechung mit folgender Darlegung: Es sei ihm ein Bedürfnis, in vertraulicher Besprechung Herrn Gilbert seine Gedanken über die Fortführung der deutschen Politik zu äußern, nachdem das Kabinett eine andere Zusammensetzung erfahren hätte wie bisher. Er könne versichern, daß hierdurch in keiner Weise die bisherige, in den letzten Jahren von der Deutschen Reichsregierung in außenpolitischen Dingen festgehaltene Politik irgendwie verändert werden würde. Er sei ja Herrn Gilbert selbst in seiner Denkungsart seit langem bekannt. Er werde keinen Augenblick länger in einem Kabinett bleiben, das irgendwie politische Maßnahmen zu treffen gewillt sei, die mit der bisherigen, vom Reichskanzler seit 1924 geradlinig fortgeführten Außenpolitik nicht vereinbar erscheinen würden. Es komme ihm vor allem darauf an, die Ordnung in den Finanzen soweit wie irgend möglich festzuhalten, nachdem sie seit 1924 in mehr geordnete Bahnen gelenkt worden seien. Es sei von der Deutschen Reichsregierung als Pflicht schon im Jahre 1926 angesehen worden, den Etat rechtzeitig zum 1. April fertigzustellen. Das habe damals großes Aufsehen erregt, weil es seit mehr als 15 Jahren das erste Mal gewesen sei, daß der Etat rechtzeitig zum 1. April fertiggestellt worden sei. Das Bestreben der Reichsregierung sei auch jetzt darauf gerichtet, den Etat zum 1. April fertigzustellen. Die nötigen Besprechungen mit dem Reichstag hätten bereits stattgefunden. Der Reichstag scheine durchaus in dieser Beziehung mit der Reichsregierung übereinzustimmen.
Die wirtschaftliche Lage Deutschlands habe sich zweifellos in den letzten Jahren gebessert, ohne aber berechtigten Ansprüchen voll genügen zu können. Er stelle mit einer gewissen Besorgnis die Tatsache fest, daß die wirtschaftliche Lage Deutschlands im Auslande viel zu günstig angesehen und deshalb die Leistungsfähigkeit Deutschlands bedeutend überschätzt würde. Die Reichsregierung sei noch immer nicht in der Lage, allen Wünschen, die aus den verschiedenen notleidenden Bevölkerungskreisen an sie herangetragen würden, in wünschenswertem Maße zu entsprechen, obwohl sie diese Wünsche durchaus als berechtigt[616] anerkennen müsse. Noch immer werde an dem Standpunkte festgehalten, daß auch berechtigte Ansprüche zurückgestellt werden müßten angesichts der schweren Bedingungen, die Deutschland durch das Dawesabkommen auferlegt seien. Dieser Verpflichtung nachzukommen, halte er, der Reichskanzler, fortgesetzt für die dringendste Pflicht der Reichsregierung. Es sei ihm noch in den letzten Wochen mitgeteilt worden, daß nunmehr mit Ernst an die Entschädigung der durch die Liquidation ihrer Vermögen geschädigten Auslandsdeutschen herangegangen werden müsse. Selbst wenn sich eine solche Entschädigung in bescheidenem Umfange halte, werde sie immerhin 5 Milliarden in Anspruch nehmen2. Die Reichsregierung werde einem solchen Verlangen den entschiedensten Widerspruch entgegenstellen, obwohl an sich diese Entschädigungsansprüche durchaus gerechtfertigt seien.
Gilbert möge aus diesen Darlegungen die Überzeugung gewinnen, daß es dem Kanzler durchaus ernst sei, wenn er erkläre, an der bisher von ihm beobachteten Politik festhalten zu wollen.
Gilbert erklärte, daß er und die Amerikanische Regierung volles Vertrauen zum Kanzler und seiner Politik habe. Es sei durch die durchaus geradlinige und offene Politik, wie sie in den letzten Jahren betrieben worden sei, begründet. Er wolle in keiner Weise in die innere Verwaltung Deutschlands sich einmischen, dürfe aber vielleicht bei dem Verhältnis, das er zum Kanzler gewonnen habe, Ratschläge geben, wie das Mißtrauen, das zweifellos in weiten Kreisen des Auslandes mehr wie zuvor gegen die finanzielle Gebarung Deutschlands bestehe, beseitigt und behoben werden könne. Der Reichsetat sei überaus schwer verständlich und enthalte eine Reihe von Punkten, die für die Ausländer Anlaß zu Mißtrauen gäben. So würde es als auffallend bezeichnet, daß bei den verschiedenen Ministerien Fonds beständen, über die die Ministerien selbständig verfügten. In der nordamerikanischen Union lege man großen Wert darauf, daß nur das Schatzamt über Fonds verfüge, so daß alle Ausgaben klar und übersichtlich an einer Stelle verwaltet würden. Die einzelnen Ministerien meldeten ihre Zahlungen einfach beim Schatzamt an, so daß sie völlige Freiheit über die ihnen zugewiesenen Beträge hätten; die Auszahlung aber erfolge nur durch das Schatzamt.
Auf die Einwendung des Kanzlers, daß es sich doch nur um Fonds von verhältnismäßig geringem Umfange handle, daß z. B. an die Reichskanzlei Anforderungen der verschiedensten Art gestellt würden, für die sonst im Etat keine Mittel ausgeworfen seien, z. B. für Kulturfragen, etwa die Wiederherstellung des Mainzer Doms, erwiderte Gilbert, daß er diese Fonds nicht meine, vielmehr Fonds, wie etwa beim Arbeitsministerium für Erwerbslosenfürsorge, für Invalidenversicherung u. dergl. Diese Fonds seien so bedeutend, daß man im Auslande vielfach die Bemerkung hören könnte, es seien diese Posten nur Wege, um bedeutende Geldbeträge der Kontrolle von Außenstellen zu entziehen und vielfach Kapitalien anzuhäufen, die dann zu irgendwelchen verborgenen Zwecken verwendet werden könnten.
[617] Der Kanzler wies darauf hin, daß ein solches Mißtrauen durchaus unbegründet sei. Es folge ja dem Etatjahr stets die Abrechnung, die vom Rechnungshof geprüft und sodann dem Reichstag wieder vorgelegt werde, der dann seinerseits in einer besonderen Kommission die Rechnungslegung nochmals prüfe. Er mache den Vorschlag, daß ein mit dem Etat durchaus vertrauter Beamter des Reichsfinanzministeriums einmal Herrn Gilbert aufsuche, um anhand des Etats die einzelnen Fonds zu besprechen, bei denen ein Mißtrauen, wie oben dargelegt, überhaupt nur denkbar wäre. Es sei zweifellos, daß eine solche Aussprache Herrn Gilbert vollständig beruhigen werde.
Herr Gilbert wiederholte seine Feststellung, daß er in keiner Weise in die Handhabung des Etats eingreifen wolle. Wenn ihm eine Aufklärung in inoffizieller und vertraulicher Weise vom Finanzministerium gegeben werden könne, würde er das dankbar begrüßen. Es sei richtig, daß die Rede des Reichsfinanzministers zum Etat Besorgnisse ausgelöst habe, namentlich die Stelle, die davon spreche, daß das Dawesabkommen nicht erfüllt werden könne3. Nicht, als ob man bestreiten könne, daß diese Angabe der Wahrheit entspreche; von der Tatsache der Unmöglichkeit sei jetzt wenigstens wohl alle Welt, namentlich die Sachkundigen, überzeugt. Aber daß gerade der Reichsfinanzminister es für nötig befunden habe, eine solche Erklärung in seiner Etatrede abzugeben, habe zu der Vermutung geführt, es solle nunmehr eine andere Politik bezüglich der Ausführung des Londoner Abkommens beobachtet werden.
Der Kanzler wiederholte nochmals die Erklärung, daß Gilbert versichert sein könnte, daß daran in keiner Weise gedacht werde. Auch der Reichsfinanzminister denke nach seiner ganzen politischen Einstellung nicht daran, irgendwie die Linie der bisherigen Politik zu verändern.
Schließlich bat der Kanzler Herrn Gilbert darum, unumwunden ihm irgendwelche Bedenken mitzuteilen, die ihm bei der Ausführung seines Amtes aufsteigen würden. Er sei auch durchaus zur Wiederholung einer solchen Besprechung wie heute zu gegebener Zeit bereit.
Herr Gilbert begrüßte namentlich das Letztere und äußerte sich dahin, daß die heutige Unterredung für ihn von ganz besonderer Bedeutung gewesen sei4.
Marx
Fußnoten
- 1
Die Aufzeichnung ist vom 11.3.27 datiert.
- 3
In seiner Etatrede vom 16.2.27 im RT hatte RFM Köhler auf die jährlich zunehmende Reparationsbelastung Deutschlands hingewiesen und erklärt, er „erkenne im gegenwärtigen Augenblick noch keine Möglichkeit, wie wir trotz allen guten Willens diese Beträge aufbringen können“. „Deutschland wird auch weiterhin tun, was in seinen Kräften steht, die übernommenen Verpflichtungen loyal zu erfüllen. Aber es müssen ihm hierzu auch die notwendigen Voraussetzungen gegeben werden.“ Voraussetzung für den Vollzug des Dawes-Abkommens „ist für uns die Erstarkung der deutschen Wirtschaft; denn eine schwer ringende Volkswirtschaft ist außerstande, Milliardenlasten für Reparationszwecke aufzubringen“ (RT-Bd. 392, S. 9011). Siehe dazu: ADAP, Serie B, Bd. IV, Dok. Nr. 192; Köhler, Lebenserinnerungen, S. 232 f. und 241 ff.
- 4
Eine Abschrift dieser Aufzeichnung übersandte StS Pünder mit Schreiben vom 12. 3. an RFM Köhler „zur vertraulichen Kenntnisnahme“ (R 43 I/275, Bl. 274).