2.201.1 (ma31p): [Tagung des Völkerbundsrats in Genf.]

Zum Text. Zur Fußnote (erste von 24). Zu den Funktionen. Zum Navigationsmenü. Zum Navigationsbaum

 

Bandbilder:

Die Kabinette Marx III und IVDas Kabinett Marx IV Bild 146-2004-0143Chamberlain, Vandervelde, Briand und Stresemann Bild 102-08491Stresemann an den Völkerbund Bild 102-03141Groener und Geßler Bild 102-05351

Extras:

 

Text

RTF

[Tagung des Völkerbundsrats in Genf.]

Der Herr Reichspräsident eröffnet die Sitzung 5.05 Uhr und erteilt dem Reichsaußenminister das Wort zur zusammenhängenden Berichterstattung über die Beratungen des Völkerbundes in Genf2 und die damit im Zusammenhang stehenden Besprechungen. Der Herr Reichspräsident regt an, daß der Herr Außenminister im Zusammenhang berichte und die Herren Minister anschließend erst am Schlusse ergänzende Fragen stellen.

[630] Reichsminister Dr. Stresemann: Die Fragen, die in Genf behandelt wurden, betrafen zum Teil die deutsch-polnischen Verhältnisse, zum anderen Teil allgemeine politische Angelegenheiten. – Zur ersten Kategorie gehörten drei verschiedene Fragen: Die erste war das Vorgehen der Polen gegen die deutschen Minderheitsschulen. Die polnische Regierung hat sich in brutaler Art über die gesetzlichen Bestimmungen des Genfer Abkommens und die Rechte der Eltern hinweggesetzt und zwangsweise deutsche Kinder in polnischen Schulen untergebracht3. Der Deutsche Volksbund hat sich hiergegen gewandt; der Vertreter des Völkerbundes in Oberschlesien Calonder hat die deutsche Rechtsauffassung verteidigt, und die Angelegenheit ist, da Polen sich immer weiter weigerte, die deutschen Ansprüche anzuerkennen, beim Völkerbundsrat anhängig geworden. Der Völkerbund hat den Bericht seiner Kommission einstimmig angenommen und damit den polnischen Standpunkt scharf verurteilt. Es ist durch diesen Beschluß zum Ausdruck gebracht worden, daß alle Strafmaßnahmen gegen Eltern, die ihre Kinder in deutschen Schulen untergebracht haben, aufgehoben sind; es ist ferner darin ausgesprochen worden, daß deutsche Kinder in die deutschen Minderheitsschulen gehören, und nur dann, wenn sie nicht Deutsch können, in polnische Schulen gehen müssen; die Entscheidung darüber aber, ob ein Kind Deutsch kann oder nicht, ist den polnischen Behörden entzogen und in die Hand Calonders und eines Schweizer Schulmannes gelegt worden. Diese Lösung ist für uns durchaus annehmbar. Für meine Zustimmung hierzu war entscheidend, daß die Vertreter des Deutschen Volksbundes in Kattowitz, die in Genf mit anwesend waren, mir ihre volle Zustimmung zu dieser Entscheidung erklärten4. Das haben sie auch in der Kattowitzer Zeitung zum Ausdruck gebracht. – Die zweite Frage der deutsch-polnischen Beziehungen war die Finanzierung der Freien Stadt Danzig, um die lange Zeit gekämpft worden ist. Die Anleiheverhandlungen Danzigs, die mit deutschen Banken geführt und von dem deutschen Vertreter im Finanzkomitee Dr. Melchior in hervorragender Weise gefördert worden sind, sind nun zum Abschluß gebracht worden, und zwar im Sinne der Stadt Danzig5. – Die dritte Frage aus dem deutsch-polnischen Gebiet betrifft die außerhalb der Völkerbundsratssitzungen berührten deutsch-polnischen Wirtschaftsverhandlungen. Der Polnische Außenminister Zaleski hat Unterhandlungen mit mir gesucht, nicht ich6. Wir sind zu dem Ziele gekommen, daß Zaleski bei Pilsudski versuchen wird, dessen Zustimmung dazu zu erhalten, daß vor neuen Verhandlungen über die Wirtschaftsfragen7 Spezialverhandlungen über Niederlassungsrecht und Ausweisungen stattfinden, für die drei Monate in Aussicht genommen sind; während dieser Zeit wird Polen keine Ausweisungen verfügen; wenn diese Spezialverhandlungen zu einer Einigung geführt haben, dann erst sollen die Wirtschaftsverhandlungen aufgenommen werden. Polen will übrigens die hierfür eingesetzte Kommission mit anderen Herren besetzen. Zu diesem polnischen Entgegenkommen ist meines[631] Erachtens die Ursache die, daß die polnischen Verhandlungen über eine Anleihe in Amerika gescheitert sind und daß Polen bedeutet wurde, daß bei einem Zollkrieg mit Deutschland auf eine Anleihe nicht zu rechnen sei.

Von den anderen politischen Fragen, die auf der Tagesordnung standen, war die wichtigste die Saarfrage. Ich muß hierbei daran erinnern, daß ehe wir in den Völkerbund eingetreten sind, der Rat sich schon grundsätzlich dahin festgelegt hatte, der Saarregierung eine gewisse Truppe zur Sicherung des Eisenbahnverkehrs zur Verfügung zu stellen. Den ersten Vorschlag, den die Regierungskommission des Saargebiets in dieser Richtung gemacht hatte, hat der Völkerbundsrat zurückgewiesen, da er nur mit drei gegen zwei Stimmen angenommen worden war8. Der zweite Vorschlag der Saarregierung, der dahin ging, eine von den okkupierenden Mächten zu stellende Truppe in Stärke von 800 Mann als Bahnschutz im Saargebiet zu behalten, war von der Regierungskommission einstimmig beschlossen worden9. Der deutsche Vertreter10 hatte sich bedauerlicherweise der Stimme enthalten. Damit waren wir von vornherein schon stark festgelegt und gebunden. Ich habe in meinen Verhandlungen mit Briand und Chamberlain versucht, von dieser Formation loszukommen, aber ohne Erfolg. Briand erklärte mir, er sei von den Dezemberverhandlungen11 politisch sehr geschwächt nach Paris zurückgekommen, man habe ihm die Zurückziehung der Kontrollkommission und andere Zugeständnisse sehr verübelt; einen neuen Echec könne er politisch nicht mehr vertragen. Wir müßten uns damit zufrieden geben, daß die französischen Truppen abzögen, wie wir und die Saarregierung es immer verlangt haben; aber auf einen Bahnschutz, den der Völkerbund bereits grundsätzlich zugestanden hätte, könne er nicht verzichten12. Chamberlain stimmte dem im allgemeinen zu, nur hielt er die Ziffer von 800 Mann für zu hoch gegriffen13; auch der Vorsitzende der Saarregierung, der Kanadier Stephens, hat für seine Person 500 Mann für genügend gehalten. Wir standen also vor der Frage, ob wir es auf eine Diskussion oder eine Abstimmung ankommen lassen wollten. Wir entschlossen uns zunächst für die Diskussion. Diese hat den Vorteil für uns gebracht, daß zum ersten Male in voller Öffentlichkeit die Frage des Saargebiets Mittelpunkt einer Debatte geworden ist und zum ersten Male die Weltöffentlichkeit auf das Verlangen Deutschlands nach völliger Entfernung fremder Truppen, die Frankreich zu Unrecht und gegen den Versailler Vertrag in diesem Gebiet noch hält, erhoben worden ist [sic]. Es ist hier deutlich und bestimmt betont worden, daß der Vorschlag der Saarregierung im Versailler Vertrag keinerlei Recht hat. Daß wir bei einer Abstimmung mit unserer Forderung durchkämen, konnten wir nicht erwarten. Deshalb entschlossen wir uns, vier ergänzende Forderungen zu erheben, und zwar: 1) daß ein Termin von 3 Monaten für den Abzug der französischen[632] Truppen festgelegt würde, 2) daß der Bahnschutz nur der Regierungskommission der Saar unterstellt würde und daß seine Beanspruchung nur in außergewöhnlichen Fällen stattfinden dürfe, 3) daß der Bahnschutz international, nicht interalliiert zusammengesetzt würde, und 4) daß er eine geringere Stärke als 800 Mann erhielte. Diese unsere Forderung wurde Gegenstand längerer Verhandlungen; es wurden uns die Forderungen zu 1) und 2) zugestanden und bezüglich der Forderung zu 4) eine nochmalige Nachprüfung der Stärke durch die Saarregierung konzediert. Mit der Forderung zu 3) drangen wir nicht durch. Es wurde dann eine von Scialoja formulierte Resolution in diesem Sinne vorgeschlagen. Es ergab sich für uns die Frage, ob wir gegen die Resolution stimmen und uns überstimmen lassen wollten. Da in der Hauptfrage der Völkerbundsrat sich schon festgelegt und im Prinzip die Notwendigkeit dieses Bahnschutzes zugestanden hatte, da ich auch als Vorsitzender der Kommission eine gewisse Verpflichtung hatte, diesen früheren Beschluß zu respektieren und durchzuführen, haben wir uns entschlossen, für die Resolution Scialojas zu stimmen14.

Gegenüber Pressenachrichten und Gerüchten, die in Genf auftauchten, habe ich immer wieder mit Deutlichkeit betont, daß der Standpunkt, den ich bei den Beratungen und Besprechungen in Genf vertreten habe, meine eigene Stellungnahme enthält, und daß die Behauptung unrichtig ist, daß ich von den deutschnationalen Mitgliedern des Kabinetts oder dem Grafen Westarp irgendwelche Weisungen oder Vorschläge bekommen hätte. Ebenso bin ich bei jeder Gelegenheit der Behauptung entgegengetreten, daß die neue Zusammensetzung der Reichsregierung eine Änderung unserer Haltung in außenpolitischen Fragen, insbesondere gegenüber dem Völkerbund, hervorgerufen hätte. Im übrigen habe ich bei allen Gelegenheiten verlangt, daß die Zusammensetzung der Saarregierung eine internationale, nicht interalliierte sein müßte, und daher die Abberufung des Belgischen Mitglieds Lambert und seinen Ersatz durch ein neutrales Mitglied verlangt. Das wurde mir mit der Maßgabe zugestanden, daß beim Ausscheiden Lamberts (am 1. April nächsten Jahres) ein neutrales Mitglied ihn ersetzen solle.

Ein weiterer Punkt der Tagesordnung, das Verlangen der Vorlage deutscher Listen über Flugzeugindustrie usw., ist auf mein Verlangen abgesetzt worden, da wir den Standpunkt vertraten, Deutschland sei nur verpflichtet, solche Listen bei begründeten Beschwerden vorzulegen, sei aber nicht verpflichtet, sie jetzt schon zu übergeben15.

Außerhalb der Tagesordnung wurde die große Frage der Rheinlandräumung und die Beziehung Englands zu Rußland erwogen. In der Frage der Rheinlandräumung differiert der englische Standpunkt wesentlich vom französischen. Briand erklärte, wegen seiner geschwächten Stellung bezüglich der Räumung einstweilen nichts unternehmen zu können. Er habe aber nichts dagegen, wenn Deutschland, gestützt auf Artikel 431 des Versailler Vertrags, das Verlangen nach Räumung erhebe; aber er empfehle, wir sollten uns etwas Zeit lasse.

[633] damit die öffentliche Meinung Frankreichs allmählich darauf eingestellt werden könne16. Ich bin auch der Meinung, daß wir mit dem Antrag erst kommen können, wenn die Restfragen der Ostfestungen und der Ein- und Ausfuhr des Kriegsmaterials geregelt sind, was in etwa zwei Monaten der Fall sein dürfte. Sonst hätten wir von Poincaré zweifellos den Einwand, daß wir die Entwaffnung noch nicht erfüllt hätten, gewärtigen müssen. Der ausländischen Presse gegenüber habe ich unser Räumungsverlangen deutlich und klar angekündigt. Auch wegen der Truppenverminderung habe ich mit Briand gesprochen, der mir antwortete, er habe in diesem Sinne schon Anregungen nach Paris gegeben. Chamberlain gab mir offen zu, daß die Besetzung des Rheinlandes nach seiner Meinung nicht mehr haltbar sei und daß auch die Truppenzahl reduziert werden müsse17. Nach meiner Auffassung werden wir in zwei Monaten zunächst bei den alliierten Mächten die Forderung nach Räumung auf Grund des Artikels 431 erheben können. Den Völkerbund selbst können wir mit dieser Frage erst befassen, wenn die Alliierten unser Verlangen nicht erfüllen.

Ich sprach auch mit Chamberlain über die Beziehungen Englands zu Rußland. Chamberlain hat mir gegenüber keinen Versuch gemacht, uns auf die englische Seite zu ziehen. Ebenso sagte mir Briand, daß auch Frankreich nicht geneigt wäre, mit Rußland zu brechen, Chamberlain erklärte mir, er und Baldwin hätten alles getan, um einen Bruch mit Rußland zu vermeiden. Wenn Rußland allerdings seine Hetzpolitik in China fortsetze, müsse England die diplomatischen und Wirtschaftsbeziehungen zu Rußland abbrechen. Mehr könne aber nicht geschehen; ein Krieg gegen Rußland sei eine positive Unmöglichkeit.

Ich hatte auch eine Unterredung mit Masaryk18, in der dieser sehr offen betonte, daß die Frage der Rückgabe des Korridors eine akute Frage und wichtig zur Befriedung Europas sei. Die Tschechoslowakei habe übrigens die Anregung Polens auf engere Beziehungen mit der Tschechoslowakei abgelehnt. Masaryk sprach auch von dem Gedanken einer wirtschaftlichen Konföderation der Sukzessionsstaaten des alten Österreich. Er empfahl uns enge kulturelle Verbindung mit Österreich, Anpassung der Gesetzgebung und anderes mehr; dagegen würden die Tschechen keine Schwierigkeiten machen. Jedenfalls verdienen diese Gedanken weitere Aufmerksamkeit.

Schließlich hat Chamberlain auch bei mir angeregt, die nächste Tagung des Völkerbundsrats im Juni in Berlin abzuhalten. Ich bin einer Entscheidung ausgewichen und möchte auch heute die Entscheidung darüber vertagen. Meines Erachtens wäre es besser, den Völkerbundsrat erst dann in Berlin tagen zu lassen, wenn das Rheinland frei ist.

Reichskanzler Dr. Marx: Gegenüber der in der Öffentlichkeit erhobenen Bemängelung, daß das Kabinett von Berlin aus keine Instruktionen an Stresemann gegeben habe, vertrete ich den Standpunkt, daß man in Fällen wie hier gar nicht in der Lage ist, eine bindende Instruktion zu geben. Die Situationen bei solchen Beratungen wie in Genf verschieben sich von Tag zu Tag, so daß[634] die Instruktionen zu spät kommen oder von falschen Voraussetzungen ausgehen. In der Sache selbst stehe ich auf dem Standpunkt, daß wir uns mit kleinen Schritten nach vorwärts zufrieden geben müssen. Nun läßt sich nicht leugnen, daß diesmal in Genf ziemlich wenig erreicht worden ist. Der einzige kleine Fortschritt ist der, daß die französischen Truppen nun aus der Saar zurückgezogen werden; das ist immerhin bemerkenswert. In der Frage der Haltung der Deutschen Delegation betreffend den Bahnschutz kann man verschiedener Meinung sein. Ich möchte mich aber über die Einzelheiten nicht auslassen. Jedenfalls möchte ich betonen, daß unsere Haltung in der Saarfrage durch die uneinheitliche Haltung der Saarbevölkerung selbst geschwächt war. Alles in allem habe ich zu einer besonderen Kritik keinen Anlaß, und ich glaube daher, empfehlen zu können, daß wir die Ergebnisse der Genfer Beratungen wie die Tätigkeit Stresemanns billigen.

Reichsminister Dr. Hergt: Die Deutsche Delegation hatte bei dieser Tagung zum ersten Male die besondere Aufgabe, den Vorsitz zu führen, und ich möchte mit Befriedigung feststellen, daß unser Kollege Stresemann sich als Vorsitzender so bewährt hat, daß seine Geschäftsleitung als ein Erfolg für uns Deutsche zu verzeichnen ist. Ich möchte das vorausschicken, weil ich in anderen Punkten mit dem Vorgehen Stresemanns nicht ganz einiggehe.

Die Fragen, die in Genf verhandelt worden sind, waren <an sich>19 nicht Fragen ersten Ranges oder von besonderer Wichtigkeit. Gegen die Lösung der oberschlesischen Schulfragen habe ich <mit Rücksicht auf die Haltung des Deutschen Volksbunds> nichts einzuwenden. Dagegen stimme ich mit der Behandlung der Saarfrage nicht überein. Die Saarfrage ist während der Verhandlungen in Genf sehr stark in den politischen Vordergrund getreten, und ich hätte gewünscht, daß mit Rücksicht auf diese politische Bedeutung, die sie angenommen hat, das Kabinett mit ihr näher befaßt worden wäre. Die Kernfrage war die, sollen wir einem Kompromiß zustimmen, oder sollen wir uns niederstimmen lassen? Es handelt sich um eine Rechtsfrage, und ich bedauere, daß diese Frage und die zu ihr einzunehmende Haltung der Deutschen Delegation nicht oder nicht rechtzeitig zum Gegenstand einer Beratung und Entscheidung des Kabinetts gemacht wurde. Ich hätte es im Interesse der deutschen Politik für richtiger gehalten, wenn wir dem Kompromiß nicht zugestimmt hätten, sondern auf unserem Rechtsstandpunkt verblieben wären. Dieser Kompromiß könnte unsere Forderung auf die schließliche Räumung des Saargebiets gefährden. Bei einem Überstimmtwerden hätten wir nichts verloren, weder an unserem Prestige als vorsitzende Macht, noch in unseren Beziehungen zu Frankreich. Es wäre besser gewesen, wenn der andere Teil gesehen hätte, daß wir aus Rechtsgründen[635] beim Nein geblieben wären. <In Zukunft müssen wir uns vor solchen Kompromissen hüten.>

Die große Frage der Räumung<, die vom Herrn Außenminister nicht bloß aus Art. 431 V.V., sondern auch auf Grund der bisherigen Besprechungen p.p. zu betreiben ist,> ist leider nicht vorwärts gekommen <und muß zu einem Erfolge gebracht werden>. Wie hier zweckmäßig weiter zu verfahren ist, ob wir die Juni-Tagung zum Gegenstand unseres Räumungsverlangens machen und ob diese Tagung in Berlin stattfinden soll, muß besonderer Entscheidung vorbehalten bleiben. In der Lösung selbst, wie sie nun nach Genf vorliegt, ist natürlich nichts zu ändern, und wir müssen sie mit vertreten; aber ich bitte doch, daß in der Zukunft über solche Fragen wie hier das Kabinett gefragt wird. Das liegt auch im Interesse des Außenministers selbst, der sonst die ganze Verantwortung allein zu tragen hat. Wäre das Kabinett rechtzeitig mit der Frage befaßt worden, so würde auch die Presse eine einheitliche Haltung eingenommen und nicht so lange im Dunkeln getappt haben.

Reichsminister Schiele bittet um Bestätigung seiner Auffassung, daß Wirtschaftsverhandlungen mit Polen erst wieder aufgenommen werden, wenn die Frage der Niederlassungen und Ausweisungen befriedigt geregelt ist.

Reichsminister Stresemann bestätigt dies. Über Wirtschaftsverhandlungen wird überhaupt nicht verhandelt werden, ehe diese grundsätzlichen Fragen nicht geregelt sind.

Reichsminister Schiele (fortfahrend): Ich bin nicht der Auffassung, daß es zweckmäßig ist, nun neben der Forderung der Räumung auch das Verlangen nach Verminderung der Besatzungsstärke zu stellen. Das brächte uns in die Gefahr, daß wir eine Abschlagszahlung statt einer Lösung bekämen. Im übrigen schließe ich mich den Darlegungen des Reichsministers Hergt an.

Der Herr Reichspräsident: Was die Frage einer Instruktion anlangt, so muß man zwischen einer allgemeinen Direktive und einer Detailinstruktion unterscheiden. Um ein Beispiel zu erwähnen: Ich habe während des Krieges der Türkischen Heeresleitung, weil die Situationen bei uns nicht zu übersehen waren, nur die allgemeine Direktive gegeben, auf dem asiatischen Kriegsschauplatz die dort befindlichen Kräfte festzuhalten, damit sie nicht auf den europäischen Kriegsschauplatz übergehen können, im übrigen aber den Türken freie Hand gelassen. Wenn auch häufig da, wo die Situation sich nicht übersehen läßt, eine Detailinstruktion nicht am Platze ist, so kann man doch allgemeine Richtlinien geben, innerhalb deren der Beauftragte frei handeln kann. So wäre es auch vielleicht hier möglich gewesen und wird es in künftigen Fällen gehandhabt werden können. Vor Kompromissen, wie sie hier abgeschlossen worden sind, möchte ich auch grundsätzlich warnen; wir haben in der letzten Zeit viel Kompromisse bei solchen Zusammenkünften gehabt, und ich halte es für richtiger, wenn in der Zukunft mehr der Rechtsstandpunkt festgehalten wird, als daß man Kompromisse abschließt.

Reichsminister Dr. Stresemann: Was die Frage einer Instruktion durch das Kabinett anlangt, so habe ich, als Herr von Schubert zu mir nach San Remo kam, ihn einleitend gleich gefragt, ob er mir namens der Reichsregierung[636] Richtlinien mitzuteilen hätte. Diese Frage hat Herr von Schubert verneint. Hätte das Kabinett den Wunsch ausgesprochen, daß ich von San Remo erst nach Berlin führe, so wäre ich dem gern nachgekommen. Da ein solcher Wunsch aber nicht geäußert wurde und das Kabinett mir auch nicht durch Herrn von Schubert eine Instruktion zugehen ließ, mußte ich annehmen, daß das Kabinett mir freie Hand ließe, namentlich, da wir ja darüber im klaren waren, was wir in der Sache selbst wollten. In der Saarfrage war die Situation durchaus unübersichtlich; erst am Freitag20 kamen wir zu einer Klärung. Es ist überhaupt in solchen Fällen schwer zu entscheiden, was ist grundsätzliche Frage und was Frage der Taktik. Unser Rechtsstandpunkt ist klar und deutlich zum Ausdruck gekommen. Für uns ergab sich die Frage: Was war für die Gesamtpolitik richtiger, an unserem Rechtsstandpunkt festzuhalten oder ein Kompromiß abzuschließen? Da hier die Frage nicht von grundsätzlicher Bedeutung war, da andererseits auch bei einer ablehnenden Haltung unsererseits die Gefahr bestand, daß die Entscheidungen bis nach Einholung eines Rechtsgutachtens vertagt würden und damit die französischen Truppen in voller Stärke im Saargebiet geblieben wären, haben wir uns dafür entschieden, dem Kompromiß zuzustimmen.

Zu der Bemerkung des Herrn Reichspräsidenten über die Kompromisse darf ich bemerken, daß es schon auf dem Gebiete der innerpolitischen Gesetzgebung kaum eine Entscheidung gibt, die nicht mit einem Kompromiß zwischen den widerstreitenden Auffassungen endet. Um so mehr gilt dies für den Völkerbundsrat, wo 13 Nationen mit verschiedenen Auffassungen sich entgegenstehen. Dazu kommt, daß der Völkerbundsrat nicht gern durch Mehrheitsentschluß entscheidet und immer danach strebt, zu einer vermittelnden Lösung zu kommen. Man wird also Kompromisse nicht ganz vermeiden können.

Was die Frage der Räumung anlangt, so habe ich, trotz der großen Inanspruchnahme, die ich in meiner doppelten Eigenschaft als Vorsitzender der Konferenz und Führer der Deutschen Delegation hatte, gleich am Ankunftstage mit Briand und Chamberlain darüber Besprechungen gehabt21. Der Bericht darüber ist allerdings wegen Arbeitsüberlastung erst später nach Berlin gekommen22. In der Räumungsfrage ist diesmal in aller Öffentlichkeit die Offensive begonnen worden.

Gegenüber der Beanstandung des Herrn Reichsministers Schiele möchte ich bemerken, daß im Auswärtigen Ausschuß gerade von dem Redner der Deutschnationalen immer wieder verlangt worden ist, daß man neben der Gesamträumung die Forderung auf Verminderung der Besatzungsstärke nicht fallen lassen dürfe. Ich habe das diesmal in der Form getan, daß ich keinen formellen Antrag stellte, aber Briand gegenüber die bestimmte Erwartung ausgesprochen, daß hier frühere Versprechungen erfüllt würden. – Bei den weiteren Beratungen der Ergebnisse von Genf darf nicht der Eindruck entstehen, als ob eine Dissonanz im Kabinett bestehe. Ich empfehle daher, ein Kommuniqué herauszugeben,[637] welches die Billigung der Ergebnisse von Genf durch das gesamte Kabinett ausspricht. – Zu einer besseren Verbindung zwischen Delegation und Kabinett in künftigen Fällen würde es beitragen, wenn der Staatssekretär der Reichskanzlei als Verbindungsmann zwischen mir und dem Kabinett an den Tagungen teilnimmt. Dieser könnte dann auch in kritischen Situationen schnell nach Berlin fahren und Entscheidungen des Kabinetts herbeiführen.

Reichsminister Schiele: Die Situation bezüglich der Herabsetzung der Besatzungsstärke ist insofern jetzt eine andere, als nunmehr die Voraussetzung des Artikels 431 gegeben ist. Deshalb würde ich es für falsch halten, nur die Herabsetzung zu verlangen.

Staatssekretär von Schubert erklärt: Das Interview des „Excelsior“, das auch in der deutschen Presse verbreitet worden ist, stellt eine durchaus unrichtige Wiedergabe einer privaten Unterhaltung dar, die er mit einer Berichterstatterin, der Nichte des Botschafters Cambon gehabt hatte23. Das Interview ist von ihm, v. Schubert, sowohl in der deutschen wie durch Havas in der französischen Presse dementiert worden.

Nach längerer Debatte<, die sich namentlich auf den Begriff des Ergebnisses von Genf bezog,>24 wird schließlich auf Vorschlag des Reichskanzlers die Herausgabe eines Kommuniqués folgenden Inhalts beschlossen:

Der Reichsminister Dr. Stresemann berichtete über die außenpolitische Lage und die Verhandlungen des Völkerbundsrats in Genf. Nach eingehender Aussprache, in der insbesondere die Rechtsauffassung, wie sie der Reichsaußenminister in Genf vertreten hat, geteilt wurde, stimmte das Kabinett dem vorliegenden Ergebnis der Genfer Tagung einmütig zu25.

Fußnoten

2

44. Tagung des Völkerbundsrats vom 7. bis 12.3.27. Zum Verlauf der Ratstagung vgl. Schultheß 1927, S. 510 ff.

3

Siehe hierzu: ADAP, Serie B, Bd. II,2, Dok. Nr. 97, 105, 112 und 178.

4

Siehe ADAP, Serie B, Bd. IV, Dok. Nr. 242; Bd. V, Dok. Nr. 22.

5

Siehe ADAP, Serie B, Bd. IV. Dok. Nr. 244.

6

Siehe ADAP, Serie B, Bd. IV, Dok. Nr. 230.

7

Zur Unterbrechung der dt.-poln. Handelsvertragsverhandlungen siehe Dok. Nr. 185.

8

Siehe ADAP, Serie B, Bd. I,1, Dok. Nr. 238.

9

Siehe ADAP, Serie B, Bd. IV, Dok. Nr. 171.

10

Kossmann.

11

Verhandlungen während der Tagung des Völkerbundsrats in Genf im Dezember 1926; vgl. Dok. Nr. 156, P. 1.

12

Siehe ADAP, Serie B, Bd. IV, Dok. Nr. 219 und 234.

13

Siehe ADAP, a.a.O., Dok. Nr. 235.

14

Siehe ADAP, Serie B, Bd. IV, Dok. Nr. 242; Bd. V, Dok. Nr. 22.

15

Siehe ADAP, Serie B, Bd. IV, Dok. Nr. 237 und 238.

16

Siehe ADAP, Serie B, Bd. IV, Dok. Nr. 219, 225 und 234.

17

Siehe ADAP, a.a.O., Dok. Nr. 220 und 225.

18

Siehe ADAP, a.a.O., Dok. Nr. 245.

19

Meissner teilte Pünder mit Schreiben vom 25.3.27 mit, daß Vizekanzler Hergt um Ergänzung seiner (Hergts) Darlegungen im (oben abgedruckten) Protokoll der Ministerratssitzung gebeten habe. Er – Meissner – habe dieser Bitte entsprochen und das Protokoll an einigen Stellen ergänzt und auch im Schlußabsatz des Protokolls einen Nebensatz eingefügt. In der Anlage übersandte Meissner 3 neu geschriebene Protokollseiten mit den besonders hervorgehobenen Zusätzen (R 43 I /1419 , Bl. 223–226). – Der Bearbeiter hat die von Meissner nachträglich vorgenommenen Ergänzungen in den Text des Originalprotokolls eingefügt und durch spitze Klammern kenntlich gemacht.

20

11. 3.

21

Am 6. 3.; siehe ADAP, Serie B, Bd. IV, Dok. Nr. 219 und 220.

22

Siehe ADAP, a.a.O., Dok. Nr. 225.

23

Siehe dazu ADAP, Serie B, Bd. IV, Dok. Nr. 233.

24

Siehe oben Anm. 19.

25

Im Anschluß an diese Ministerratssitzung fand eine Kabinettssitzung statt, in der die Frage des Zuckerzolls, der Zuckersteuer und der Hektolitereinnahme behandelt wurde. Die Beschlußfassung des Kabinetts ist in einem Aktenvermerk Feßlers vom 16. 3. wiedergegeben; siehe Dok. Nr. 200, Anm. 11.

Extras (Fußzeile):