Text
[1] Nr. 1
Unterstaatssekretär Albert an Staatssekretär a. D. Trimborn. 29. März 1920
R 43 I/1304, Bl. 60-62 Durchschrift
[Betrifft: Fragen der Ressortverteilung im neugebildeten Kabinett.]1
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Zur Bildung des Kabinetts Müller I s. die Einleitung.
Hochgeehrter Herr Staatssekretär!
Die Frage der Besetzung des Reichsverkehrsministeriums habe ich auf Grund unserer Unterredung unverzüglich dem Herrn Reichskanzler nochmals vorgetragen. Der Herr Reichskanzler läßt Ihnen zunächst herzlich dafür danken, daß Sie die Freundlichkeit hatten, im Geiste loyalster Ausführung der getroffenen Abmachungen auf ein auftauchendes Mißverständnis sofort hinzuweisen und auf dessen Beseitigung hinzuwirken. In demselben Geiste beehre ich mich im Auftrage des Herrn Reichskanzlers das folgende mitzuteilen:
Nach den getroffenen Abreden sollte[n] das Reichsfinanzministerium und das Reichsschatzministerium vom Zentrum besetzt werden, während das Reichsverkehrsministerium von den Sozialdemokraten übernommen wurde, die hierfür Herrn Bauer vorschlugen. Unmittelbar nachdem dies Einverständnis erzielt war, kam die Nachricht, daß Herr Cuno die Übernahme des Reichsfinanzministeriums ablehne. Es wurde also eine Neubesetzung des Reichsfinanzministeriums und des Reichsschatzministeriums durch das Zentrum notwendig. Dabei bestand sofort Einigkeit darüber, daß das Reichsfinanzministerium Herrn Wirth anzubieten sei, der es dann auch übernommen hat2. Bezüglich des Reichsschatzministeriums schlug der Herr Reichskanzler Müller vor, daß man es, falls das Zentrum es im Moment zu besetzen nicht in der Lage sei, vorübergehend Herrn Bauer anbieten solle. Er habe in diesem Sinne mit Herrn Bauer bereits gesprochen, da ja die monatelangen vergeblichen Versuche des Zentrums, einen geeigneten Kandidaten zu finden, bekannt gewesen seien. Er habe daher geglaubt, im Interesse des Zentrums selber zu handeln. Herr Bauer habe auf Grund seiner genauen Kenntnisse der Verhältnisse die Schwierigkeit der Kabinettsbildung gewürdigt und sich bereit erklärt, obwohl eine vorübergehende Übernahme eines anderen Ministeriums zweifellos ein großes Opfer bedeute, dieses Opfer zu bringen und das Reichsschatzministerium vorläufig zu übernehmen, bis ein anderer Kandidat vom Zentrum präsentiert werde. Dabei wurde jedoch ausdrücklich ausbedungen, daß Herr Bauer, den die große Aufgabe der Ordnung des Verkehrswesens mehr reizte und der für die Lösung dieser im wesentlichen von der Stellung der Arbeiter und der Gewerkschaften abhängigen Frage, zumal im Hinblick auf die von ihm bereits geleiteten Verhandlungen ganz besonders qualifiziert ist, gemäß der getroffenen Vereinbarung möglichst bald das Reichsverkehrsministerium übertragen[2] erhalten solle, daß daher auch die verabredete Beschleunigung der Verreichlichung der Eisenbahnen und des dadurch gegebenen Rücktritts des Reichsministers Bell bestehen bleiben müsse. Diese Abmachung hat der Herr Reichskanzler Müller in der Besprechung mit den Führern der Fraktion in gedrängter Form vorgetragen3. Hiernach liegt die Sache so, daß das Zentrum bis zur Verreichlichung der Eisenbahnen, die voraussichtlich etwa am 14., 15. April durch die Nationalversammlung genehmigt sein dürfte4, für Neubesetzung des Reichsschatzministeriums zu sorgen haben würde, und daß andererseits Herr Bell das Reichsverkehrsministerium zum selben Zeitpunkt behufs dessen Übernahme durch Herrn Bauer freizumachen hätte5.
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Über die Besetzung des RFMin. s. „Eine Niederschrift Joseph Wirths über seinen Eintritt in das RKab. 1920“ hg. v. J. Becker (ZGOR 112, 1964, S. 243–254).
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Eine Niederschrift wurde nicht ermittelt.
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Die zweite und dritte Lesung des Gesetzes über die Verreichlichung der Staatsbahnen fand am 24.4.20 in der NatVers. statt.
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Bell legte sein Amt zum 1.5.20 nieder.
Es kann nicht verkannt werden, daß bei der durch die Natur der Sache gebotene eilige Behandlung ein Mißverständnis aufkommen konnte, und daß insbesondere nach Lage der Dinge der Ausdruck der „vorläufigen“ Übernahme mißverstanden werden konnte6. Der Herr Reichskanzler läßt jedoch dringend bitten, der Erledigung der Angelegenheit in dem vorstehend dargelegten Sinne zuzustimmen, weil sich andererseits eine unübersehbare Komplikation ergeben und das neue Kabinett sofort wieder in Frage gestellt sein würde. – Dies nicht nur im Hinblick auf die mit Herrn Bauer getroffene und von der Sozialdemokratischen Partei gebilligten Abrede, sondern auch auf die für die Besetzung des Reichsverkehrsministeriums durch Herrn Bell maßgebenden und von mir mündlich dargelegten Erwägungen.
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Dieser Satz dürfte sich auf die Berichterstattung in der offiziösen DAZ beziehen. Dort hieß es in der Morgenausgabe vom 28.3.20 (Nr. 143), Bauer sei zum RSchM berufen worden und Bell, „dem ja ohnehin die Überleitung der Staatseisenbahnen auf das Reich vorbehalten bleiben sollte“, zum RVM. „Dr. Bells Berufung wird als vorläufig betrachtet, bis die von ihm eingeleiteten Organisationsarbeiten durchgeführt sein werden.“
Indem ich mich dieses Auftrags entledige7, habe ich die Ehre zu sein, hochgeehrter Herr Staatssekretär,
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Eine Abschrift sandte UStS Albert an StM a. D. Spahn „mit der Bitte um Kenntnis und Gelegenheit zu einer mündlichen Besprechung“.
Ihr
Ihnen sehr ergebener
gez. Albert