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Nr. 51
Bericht über die Zustände im neubesetzten Gebiet. 17. April 19201
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Der Bericht stammt vom Kommando der Sicherheitspolizei Nassau und war über das Reichswehrgruppenkommando in Kassel dem Staatskommissar für öffentliche Ordnung zugesandt worden, der ihn der Rkei am 4. 5. zuleitete.
In Hanau sind Teile des I. Batls. belg. Linien-Regts. Nr. 10 eingerückt. Das Gros des Batls. liegt in Frankfurt in der Festhalle; Stab im Imperial-Hotel2. Das Benehmen der Franzosen in H. ist außerordentlich herausfordernd. Das Kasino des Ers. Regts. 2 ist von ihnen beschlagnahmt. Auf dem Dache weht die Trikolore. Die Schilderhäuser sind blau-weiß-rot angestrichen. Im Stabsgebäude der Kaserne Eis[en]bahn-Regt. 2 sollen die Geheimschränke erbrochen werden. Sämtliche Akten sind durchwühlt, viele Schriftstücke sind von den Franzosen entwendet. Die Privatsachen der Beamten sind zum großen Teil von den Franzosen aus den Fenstern geworfen und dort von der Zivilbevölkerung aufgebrochen. Viele Sachen sind als „Souvenir“ in den Händen der Franzosen geblieben.
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Die belgische Regierung hatte am 9. 4. beschlossen, sich an der Intervention im Maingebiet zu beteiligen (Kreuzzeitung Nr. 162 vom 9.4.20).
[129] Die els.-lothr. Flüchtlinge in der Kaserne Eis[en]bahn-Regt. 3 waren zur Hilfeleistung bei dem Verladen der beschlagnahmten Waffen und Munition herangezogen und haben bei dieser Gelegenheit die Türen der Stuben aufgebrochen und diese geplündert.
Offzre. und Mannschaften der Franzosen wohnen in der Kaserne. Das Wohnen in der Stadt ist verboten.
Zwischen KPD und franz. Offzr. in H. herrscht reger Verkehr. An verschiedenen Geheim-Versammlungen der KPD haben franz. Offzre. teilgenommen. Die Propaganda der KPD geschieht vollkommen öffentlich, scheinbar mit Einverständnis der Franzosen.
Im Gegensatz ist dazu das Benehmen der Franzosen in Offenbach und Darmstadt bedeutend rücksichtsvoller und bescheidener. Das hess. Publikum benimmt sich weit würdevoller und nimmt von den Eindringlingen überhaupt keine Notiz, was man von den Frankfurtern und Hanauern nicht sagen kann.
Am 11. hatte der Oberst Duvigne, „administrateur de souscommission de Frankfurt“, die Pressevertreter der Frankfurter Presse zu sich befohlen. Grund: Berichterstattung über die Toten vom 6. 4.3. Die Herren wurden barsch aufgefordert, sich im Kreise um den Oberst aufzustellen, nur Toni Sender (USP) wurde sehr freundlich empfangen und durfte Platz nehmen4. Der Oberst fragte einen Herren: „Sprechen Sie französisch?“ „Jawohl, in Frankfurt aber nur deutsch.“ Der Oberst stutzte und fragte auf deutsch: „Wieviel Tote hatten Sie?“, worauf ihm der Herr sagte: „Verzeihung Herr Oberst, den Ton bin ich nicht gewohnt; hier sprechen gebildete Leute miteinander.“ Der Oberst lenkte ein, äußerte aber auf eine Bemerkung des Kapitäns Pomaraide: „Herr Kapitän, hier bestimme nur ich“, und verwies seinen noch sehr jungen Zensur-Offz. noch brüsker. Nach einem vollkommen unberechtigten Standpunkte wurden die Pressevertreter einfach hinausgeschickt, während Toni Sender, über das ganze Gesicht strahlend sagte: „Sehen Sie, Herr Oberst, das ist die deutsche Chauvinisten-Presse, die alles Unheil über unser Volk gebracht hat.“
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S. hierzu Dok. Nr. 25.
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Bereits in einem Bericht über die Besetzung Frankfurts, den der Staatskommissar für öffentliche Ordnung am 10. 4. der Rkei zugeleitet hatte, war ausgeführt worden: „Im Bürgerausschuß wurde mir mitgeteilt, daß man genau wisse, daß die Schriftleiterin des USPD-Organs ‚Volksrecht‘, Fräulein Toni Sender, schon tagelang vor dem Einmarsch der Franzosen mit den Spitzen der Besatzungsarmee in ständiger Verbindung stand, besonders mit dem französischen Verbindungsoffizier in Frankfurt, Pomaraide, also offenbar und zweifellos den Einmarsch der Franzosen begünstigte“ (R 43 I/176, Bl. 151). Am 29. 4. meldete die Nassauer Sicherheitspolizei dem RWeMin.: „Eines äußerst engen Zusammenarbeitens mit den Franzosen erfreut sich die USP Frankfurts, deren Leitung nunmehr scheints ganz Toni Sender in die Hand genommen hat“ (Anlage 13 zum Bericht des Ministeriums über die Notwendigkeit des dt. Truppeneinmarschs in das Ruhrgebiet; R 43 I/2718, Bl. 132-159, hier: Bl. 143).
Im Gegensatz zu Hanau arbeiten die Linksradikalen in Frankfurt in der Öffentlichkeit gar nicht, umso mehr im Geheimen. Es hat sich ein <kommunistischer Aktionsausschuß gebildet, der beim Abrücken der Franzosen sofort die[130] Macht an sich reißen wird5>. Stickelmann befindet sich wieder in Frankfurt und vermittelt gemeinsam mit Portune und v. Zwehl den Verkehr der Linksradikalen mit den Franzosen.
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Unterstrichen und am Rand mit einem Fragezeichen versehen. In dem zitierten Bericht der Sicherheitspolizei Nassau (s. Anm. 4) wird ausgeführt, die Linksradikalen hätten Genugtuung über die Besetzung geäußert: „Wissen sie doch, daß der Franzose ihren Bestrebungen keine Schwierigkeiten in den Weg legen wird. […] Die Kommunisten oder vielmehr die neugegründete kommunistische Arbeiterpartei (KAPD) haben ganz offiziell erklärt, daß sie sich unter französischer Herrschaft sicherer fühlen und ihre Versammlungen anstandslos genehmigt wurden. Die Propaganda blüht jetzt von neuem und zwar ganz öffentlich.“