2.35 (mu11p): Nr. 35 Legationsrat Rieth an Legationsrat von Prittwitz. Darmstadt, 13. April 1920

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Nr. 35
Legationsrat Rieth an Legationsrat von Prittwitz. Darmstadt, 13. April 1920

R 43 I /2729 , Bl. 129 Abschrift1

1

Die Abschrift des Schreibens von Rieth, der Preußen in Hessen vertrat, hat Prittwitz UStS Albert am 16. 4. zugeleitet. Sie trägt die Paraphe des RK.

[Betrifft: Konferenz der süddeutschen Länder in Stuttgart. Französische Besetzung des Maingaues.]

Lieber Prittwitz!

Aus meinem Telegramm über die Stuttgarter Verhandlungen werden Sie bereits ersehen haben, daß dort ziemlich starke Gegensätze zu Tage traten, bezüglich der dem Reich gegenüber einzunehmenden Haltung; die Frage der[82] Auflösung der Einwohnerwehren gab dazu den Anlaß2. Die Haltung der Württemberger scheint erst schwankend gewesen zu sein, doch haben sie sich offenbar dem Standpunkt der hessischen und badischen Vertreter angeschlossen, nachdem ihnen von letzteren klar gemacht worden war, daß die Bayern mit den Einwohnerwehren einen Machtfaktor nicht aus der Hand geben wollten, der einmal zu nicht unbedenklichen Zwecken in die Wagschale geworfen werden könnte3. Der jetzt veröffentlichte, anscheinend mit einiger Mühe zustande gekommene Wortlaut der Entschließung4 scheint daher ein Kompromiß darzustellen, das auch nicht ganz die Absicht der hiesigen Regierungsstellen wiedergibt. Diese würden, wenn sie allein wären, wohl wenig gegen die Auflösung der Einwohnerwehren einzuwenden haben, da sie sich wenig Schutz von ihnen versprechen und dieselben bis jetzt zu mancherlei Schwierigkeiten mit der Arbeiterschaft Anlaß gaben. Ulrich sagte mir allerdings, er könne Berlin den Vorwurf nicht ersparen, daß die Einwohnerwehren von dort aus zu zentralistisch aufgebaut und zu einer Art militärischen Reichsorganisation gestaltet worden seien5. Dies müsse das Mißtrauen der Entente erwecken. – Herr Ulrich sagte mir auch, er habe sich Herrn von Kahr eigentlich schlimmer vorgestellt als er anscheinend sei. Politisch scheine er ziemlich farblos zu sein. Nachdem es ihm nicht gelungen sei, die anderen Staaten zu einer scharfen Aktion gegen das Reich zusammenzuschließen, habe v. K. ihm mehrfach privatim erklärt, er wolle gerade wie die übrigen Konferenzteilnehmer nur das, was zum Besten des Reiches sei. Kahr habe ihm gesagt, er wünsche[83] mit den übrigen süddeutschen Regierungen zusammen zu arbeiten und er hoffe auch, daß es noch gelingen werde, die Sozialdemokraten in Bayern zu einem Wiedereintritt in die Regierung zu bewegen. Ulrich meinte, auf die Dauer würde sich eine Regierung in Bayern ohne Sozialdemokraten nicht halten lassen6. Jedenfalls seien solche Zusammenkünfte wie die in Stuttgart nützlich, weil durch sie ein mäßigender Einfluß auf die jetzige bayerische Regierung ausgeübt werden könne.

2

Das Telegramm, das Prittwitz UStS Albert am 15. 4. zuleitete, lautete „StPräs. Ulrich sagte mir, in Stuttgart habe vor dem Eintreffen der hess. und bad. Vertreter die bayer. Delegation bereits mit der württemb. eine in äußerst starken Ausdrücken gehaltene Resolution gegen die Auflösung der Einwohnerwehren vereinbart, die eine scharfe gegen Berlin gerichtete Spitze enthielte. Es sei ihm und den Badensern dann gelungen, die Württemberger von der Unzweckmäßigkeit des bayer. Vorgehens zu überzeugen, und sie hätten dann gemeinsam bei den Bayern eine Abänderung in der jetzt bekanntgegebenen Fassung bewirkt. Von anderen Teilnehmern erfahre ich, von Kahr habe im Schlußwort der Besprechung ein Bekenntnis zum Reiche abgelegt, nachdem er eingesehen habe, daß ihm die anderen dort vertretenen Staaten in eine Kampfstellungnahme dem Reich gegenüber nicht folgen würden. – Vor der Stuttgarter Sitzung hatte der hiesige sozialdemokratische Minister des Innern mir gesagt, er persönlich habe kein Bedenken gegen die Auflösung der Einwohnerwehr in Hessen, die seines Erachtens eher zur Beruhigung der Arbeiter beitragen würde“ (R 43 I /2729 , Bl. 118).

3

Die bayer. Einstellung wird durch ein Telegramm des pr. Gesandten in München, Graf Zech, an das AA vom 8.4.20 gekennzeichnet: „Von Berlin hierher gelangte Nachrichten, daß die RReg. auf die Ententenote hin beschlossen habe, Einwohnerwehren aufzulösen, hat hier allgemein Bestürzung und Erregung hervorgerufen. Nach Ereignissen vorigen Jahres weiß man, daß die Entwaffnung der Wehren gleichbedeutend mit einer Kommunistenherrschaft wäre. Abgesehen davon ist ihre Auflösung in Bayern faktisch nicht durchführbar, da die Wehrleute ihre Waffen gutwillig nie abgeben werden. – Gleichzeitig werden als autoritative Nachrichten verbreitet, wonach die Entente einem selbständigen Bayern die Beibehaltung von Volkswehren gestatten würde. In dem Dilemma zwischen Reichstreue einerseits und Selbstmord durch Auflösung der Wehren andererseits gewinnt die Ansicht schnell Boden, daß die Abtrennung vom Reiche das kleinere Übel [wäre]. Die Regierung wird wahrscheinlich, um die große Erregung zu parieren, morgen eine loyale Erklärung veröffentlichen. Die Stuttgarter Konferenz der süddt. Regierungen wird sich schon morgen mit der Auflösung der Wehren beschäftigen“ (R 43 I /2729 , Bl. 85).

4

S. Dok. Nr. 31.

5

S. hierzu Anm. 4 zu Dok. Nr. 20.

6

Zur polit. Situation Bayerns s. Dok. Nr. 18 und 110.

Es wurde in Stuttgart auch über die Gesandtschaftsfrage verhandelt7, jedoch soll angeblich wegen Mangels an Zeit keine gründliche Aussprache stattgefunden haben und auch kein Entschluß gefaßt worden sein. Es scheint mir aber fast, als ob auch da die Meinungen nicht miteinander übereinstimmen. Ministerialdirektor Schulze aus Sachsen sei energisch für die Beibehaltung der zwischenstaatlichen Gesandtschaften eingetreten; Sachsen werde auch seine Gesandtschaft in München beibehalten. Der Hessische Standpunkt in der Frage scheint sich nicht geändert zu haben. – Die Franzosen bemühen sich sichtlich, hier einen guten Eindruck zu erwecken8. Sie benehmen sich der Regierung gegenüber rücksichtsvoll und vermeiden jeden Zwischenfall, wie ja auch die Erledigung des Zwischenfalls der französischen Trikolore – über die ich einen kurzen Bericht einsende – erneut beweist9. Sie wollen sich offenbar ihre politischen Chancen für die Zukunft nicht verderben und die Regierung nicht noch mehr verprellen, als es durch die Tatsache des Einmarsches bereits geschehen ist. Sollte die Besatzung längere Zeit dauern, so werden die Franzosen zweifellos – nachdem sie durch rücksichtsvolles Auftreten eine günstige Atmosphäre geschaffen haben – mit ihren vom linken Rheinufer her bekannten Beeinflussungsmethoden auch hier einsetzen, was bis jetzt nicht geschah. Sollte die Regierung dann fernerhin in ihrer jetzigen Opposition verharren, zweifele ich nicht daran, daß sie versuchen werden, ihre Stellung zu untergraben, wobei manche Kreise ihnen hier wenn auch in vorsichtiger Weise, in die Hände arbeiten würden. Ich werde Ihnen hierüber später noch einen besonderen Bericht schicken, möchte aber jetzt schon auf die Gefahr hinweisen, die in dieser Hinsicht bei einer längeren Dauer der Besetzung Darmstadts in zunehmendem Umfange entstehen dürfte, zumal die Abneigung gegen Berlin und eine vorerst noch auf gewisse Kreise beschränkte latente Stimmung der Reichsverdrossenheit schon vor Einrücken der Franzosen infolge des Kapp-Putsches, der linksradikalen Umsturzversuche und des nach hiesiger Auffassung von der Furcht vor den Radikalen beeinflußten Kurses der Reichsregierung erneuten Auftrieb erhalten hatten10.

7

S. hierzu Dok. Nr. 92.

8

Zur frz. Intervention im Maingebiet s. Dok. Nr. 33, P. 2 und 51.

9

Nicht ermittelt.

10

Diese Äußerung dürfte sich wohl weniger auf die Linksradikalen beziehen als vielmehr auf separatistische Strömungen insbesondere in der hess. Zentrumspartei, s. dazu die Berichte Davids.

Mit den besten Grüßen

stets Ihr

gez. Rieth

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