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Nr. 30
Rede des Reichskanzlers in der zweiten Plenarsitzung der Konferenz von Lausanne am 17. Juni 19321
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Stenografische Niederschriften über die fünf Plenarsitzungen der Lausanner Konferenz (16. 6.– 8.7.32) sowie Aufzeichnungen über eine Reihe von Besprechungen der brit. Delegation mit Vertretern Deutschlands und anderer Teilnehmerstaaten befinden sich in Documents on British Foreign Policy, Second Series, Vol. III, Dok. Nr. 137–189; zahlreiche Aufzeichnungen der dt. Delegation über Verhandlungen mit (u. a.) frz. und brit. Delegierten sind abgedr. in ADAP, Serie B, Bd. XX, vgl. dort S. XLI–XLVI; zum Verlauf der Konferenz vgl. auch Schultheß 1932, S. 399 ff.; Weill-Raynal, Les Réparations Allemandes et la France, Bd. III, S. 682 ff.; Papen, Der Wahrheit eine Gasse, S. 198 ff.
R 43 I/524, Bl. 51–64 Umdruck2
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Neben dieser Fassung befindet sich im selben Aktenbande (Bl. 30–46) ein maschinenschrl. Entwurf der Rede mit zahlreichen handschrl. Korrekturen des RK (vgl. unten Anm. 6 und 10). – Papen entschloß sich offenbar erst in Lausanne, die Rede in frz. Sprache zu halten (Papen, a.a.O., S. 200), und zwar an Hand einer von der dt. Delegation hergestellten Übersetzung (frz. Text: R 43 I/425, Bl. 12–29). Zum frz. Text s. auch das Wortprotokoll der 2. Plenarsitzung (frz.) in R 43 I/481, Bl. 238–292.
[Reparationsfrage; Wirtschafts- und Finanzlage Deutschlands]
Ich bin dem Herrn Vorsitzenden dankbar, daß er mir gleich zu Beginn unserer Beratungen Gelegenheit gibt, den deutschen Standpunkt in den zum Programm unserer Konferenz gehörenden Fragen, insbesondere in der Reparationsfrage[93] darzulegen. Dabei möchte ich eins vorausschicken, um von vornherein einem etwaigen Mißverständnis vorzubeugen und um zur Klärung eines Punktes beizutragen, den unser Herr Vorsitzender gestern berührt hat3. Ebensowenig wie in dem deutschen Memorandum vom 19. November 1931, womit die Einberufung des Beratenden Sonderausschusses beantragt wurde4, handelt es sich auch jetzt darum, die Reparationsfrage unter rechtlichen Gesichtspunkten zu erörtern oder die Gültigkeit deutscher Unterschriften unter früheren Verträgen in Zweifel zu ziehen. Daß die Haager Abkommen vom August 1929 und vom Januar 1930 rechtsgültig abgeschlossen worden sind, wird von niemand geleugnet und bedarf daher nicht der Feststellung. Ich will ferner auch davon absehen, heute die geschichtliche Entstehung und bisherige Entwicklung der Reparationsfrage in den Kreis meiner Darlegungen einzubeziehen. Das, was allein einer neuen Erörterung bedarf, ist nach meiner Ansicht die tatsächliche Lage, wie sie heute besteht. In den bedeutsamen Ausführungen, die wir gestern von dem Herrn Vorsitzenden gehört haben, ist diese Aufgabe der Konferenz klar und meiner Ansicht nach zutreffend umrissen worden5. Als Vertreter Deutschlands habe ich keinen anderen Wunsch und keine andere Absicht, als daß wir als praktische Politiker und verantwortliche Staatsmänner die gegebenen Tatsachen ins Auge fassen und im gegenseitigen Einverständnis die unabweisbaren Konsequenzen aus ihnen ziehen.
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Gemeint sind vermutlich Ausführungen MacDonalds in der ersten Plenarsitzung am 16. 6. unmittelbar nach seiner Wahl zum Vorsitzenden der Konferenz: „One principle is surely very definitely before the Conference. Engagements solemnly entered into cannot be set aside by unilateral repudation. That principle, I believe, is not challenged by anyone here. But it carries with it a corollary; and that corollary is absolutely essential to the recognition of the principle, viz., if default is to be avoided, engagements which have been proved incapable of fulfilment should be revided by agreement. Both sides to all agreements must ever be ready to face facts. And amongst the facts which we have to consider are not only those of whether the plans hitherto formulated have imposed impossible burdens, but whether and how they have contributed by their economic, financial and commercial unsoundness to the deplorable economic state in which the world now finds itself.“ (Documents on Britisch Foreign Policy, Second Series, Vol. III, Dok. Nr. 137).
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Es handelt sich um den im Haager Abkommen vom 20.1.30 (dort Kapitel 8 e des Sachverständigenplanes vom 7.6.29) vorgesehenen Ausschuß, der von der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (Basel) einberufen werden sollte, wenn „die Deutsche Regierung den Regierungen der Gläubigerländer und der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich erklärt, sie sei in gutem Glauben zu dem Schlusse gekommen, daß die Währung und das Wirtschaftsleben Deutschlands durch den teilweisen oder vollständigen Transfer des aufschiebbaren Teils der Annuitäten ernstlich in Gefahr gebracht werden könnten“ (RGBl. 1930 II, S. 39, 448). Von dieser Möglichkeit hatte die RReg. durch Memorandum vom 19.11.31 (Text: Schultheß 1931, S. 515 ff.; vgl. auch diese Edition: Die Kabinette Brüning I/II, Dok. Nr. 561, 562) Gebrauch gemacht. Der Beratende Sonderausschuß trat daraufhin am 7.12.31 erstmals zusammen und nahm eine gründliche Durchleuchtung der dt. Finanz- und Wirtschaftslage vor. In seinem Bericht vom 23.12.31 (Text: Schultheß 1931, S. 518–530) kam er zu dem Ergebnis, daß Dtld. u. a. „nicht in der Lage sein wird, in dem im nächsten Juli beginnenden Jahr den geschützten Teil der Annuität zu transferieren“.
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Vgl. oben Anm. 3.
Wie sind die wirklichen Tatsachen? Alle, die wir hier am Tisch versammelt sind, kennen diese Tatsachen. Die wichtigsten von ihnen sind auch in den gestrigen beiden Reden einmal aufgeführt worden. Gleichwohl möchte ich mir gestatten, auf die einzigartigen wirtschaftlichen Vorgänge der letzten Jahre auch meinerseits nochmals einzugehen und sie von einigen Gesichtspunkten aus zu beleuchten, wobei ich vor allem die Aufforderung des Herrn Vorsitzenden berücksichtigen[94] werde, daß wir hier zu prüfen haben „whether and how the plans hitherto formulated have contributed by their economic, financial and commercial unsoundness to the deplorable economic state in which the world now finds itself“.
Nichts kann die verhängnisvolle Umwälzung der letzten Jahre deutlicher vor Augen führen als ein Vergleich des Bildes, das die Weltwirtschaft im Jahre 1929 äußerlich noch bot, mit der heutigen Lage.
Damals: Ein anscheinend noch ungestört funktionierendes internationales Kreditsystem, ein lebendiger Austausch von Kapital von Land zu Land mit seinen befruchtenden Wirkungen. Die handelspolitischen Beziehungen zwischen fast allen Ländern schienen durch ein klares und ausgebildetes System von Handelsverträgen auf die Dauer geregelt. Eine Politik einseitiger Absperrung wurde in allen Kreisen, Regierungen, Parlamenten, Wirtschaft und öffentlicher Meinung als töricht erkannt und abgelehnt. Jedes Land war bereit, die Güter des anderen in einem geregelten und planvollen Austausch aufzunehmen. Die Industrien arbeiteten mit Gewinn. Die Landwirtschaft hatte – zwar nicht in Deutschland, aber in den meisten anderen Ländern – ihr Auskommen. Dem Handel stand die Welt offen. Die Banken gingen unternehmungslustig mit ihren Krediten ins Ausland. Die Rentner waren willig, ihre Ersparnisse fremden Regierungen anzuvertrauen. Arbeitslosigkeit war in den meisten Ländern damals noch ein unbekanntes Problem. Das waren die Kennzeichen der Periode, in der der Youngplan entstand.
Welcher Sturz aus dem blühenden Optimismus von damals in den Pessimismus und die Verzweiflung von heute! Nichts von den damaligen Verheißungen hat sich erfüllt.
Ein Ausdruck der verzweiflungsvollen Lage von heute ist die Zahl von 25 Millionen Arbeitslosen, die gestern schon genannt worden ist. Durch die Arbeitslosigkeit sind gerade in den stark industrialisierten Ländern soziale Spannungen erzeugt worden, die mit der Dauer dieses Zustandes zu einer immer größeren Gefahr für die Weltordnung und die kulturellen Errungenschaften eines Jahrtausends werden. In Deutschland ist unter diesen Einwirkungen der Glaube der werktätigen Massen an die Möglichkeit eines richtigen Funktionierens des kapitalistischen Systems aufs stärkste erschüttert6.
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Im Entwurf (vgl. oben Anm. 2) folgten hier die vom RK gestrichenen Sätze: „Der Grad der sozialen Spannungen müßte dem vorausschauenden Staatsmann die Pflicht auferlegen, eine neue Gruppierung der Kräfte vorzunehmen, auf denen allein der Wiederaufbau einer von Krieg, Staatsumwälzungen und Inflation in ihrem seelischen und materiellen Gleichgewicht aufs äußerste bedrohten Nation möglich scheint. Die Herstellung einer solchen klaren innerpolitischen Bilanz kann für die Erörterungen der vor uns liegenden Probleme mit den anderen Ländern nur von Nutzen sein.“
Eine Anzahl von Staaten hat sich schon gezwungen gesehen, die Zahlungen nach dem Ausland einzustellen. Dies ist eine ernste Mahnung, rechtzeitig Vorsorge zu treffen, daß nicht andere große Länder in die gleiche Lage kommen, wodurch die Weltkrise eine unübersehbare Erschwerung erfahren würde. Bei der gegenwärtigen Unsicherheit ist es kein Wunder, wenn der internationale Kapital- und Kreditverkehr heute so gut wie abgeschnitten ist. Die Kapitalbesitzer[95] in den kapitalreichen Ländern, weit davon entfernt, an einer angemessenen Verteilung des Kapitals mitzuwirken, denken nur daran, wie sie die bereits bestehenden Kredite möglichst schnell zurückziehen können und dies, obwohl das Kapital in diesen Ländern vielfach keine Möglichkeit mehr hat, nutzbringend angelegt zu werden. Der Unternehmer ist vielfach gezwungen, zum Ausgleich von Verlusten die Substanz seines Vermögens aufzuzehren. Das vorhandene Kapital, das den Boden für einen neuen Aufschwung bilden soll, schwindet also immer mehr dahin. Auf der anderen Seite haben die Schuldner infolge des Steigens des Goldwertes oder des Fallens der Warenpreise heute 40–50% mehr zu leisten. Dies gilt in gleicher Weise für die Privatschuldner wie für die Staaten. Tritt keine schnelle Besserung der Verhältnisse ein, so muß damit gerechnet werden, daß eine Neuordnung der Schuldverhältnisse unabweisbar wird.
Zwei Feststellungen von allgemeiner Bedeutung möchte ich hier noch anschließen.
Die Welt hat auch früher Krisen zu überstehen gehabt und der Beratende Sonderausschuß hat Recht, wenn er darauf hinweist, daß bisher Krisen vorübergegangen und von Perioden neuen Aufschwungs abgelöst worden sind. In einem wesentlichen Punkt unterscheidet sich diese Krise aber von früheren Krisen. Früher hat es sich nur um Krisen aus dem Mißverständnis von Produktion und Konsum gehandelt. Eine Zeit von zwei bis drei Jahren hat meist genügt, dieses Mißverständnis auszugleichen. Die jetzige Krise des Güteraustausches ist aber überdeckt von einer zweiten Krise, einer Kreditkrise von nie gekannter Ausdehnung. Diese Kreditkrise hat ihre eigenen Ursachen. Die wichtigste ist die internationale öffentliche Verschuldung und die wirtschaftswidrigen politischen Zahlungen. Die Krise des Güteraustausches wird nicht überwunden werden, wenn nicht die Krise des Kredits überwunden wird, und diese kann nicht überwunden werden, wenn nicht ihre speziellen Ursachen radikal beseitigt werden.
Das Zweite ist, daß sich unter der Einwirkung der politischen Verschuldung bei den Gläubiger- und Schuldnerländern eine völlige Verschiebung einerseits der Goldverteilung und andererseits des Güteraustausches vollzogen hat. Das Gold hat sich in den beiden Volkswirtschaften, die in dem System der internationalen öffentlichen Verschuldung die Gläubiger sind, angehäuft, während Deutschland, das das einzige Schuldnerland in diesem System ist, von Gold fast gänzlich entblößt wurde. Dort ist das Gold unfruchtbar geworden, und in Deutschland kommt die Wirtschaft aus Mangel daran immer mehr zum Erliegen. Auf der anderen Seite hat Deutschland unter dem Druck der Auslandsverschuldung, die mit den politischen Schulden im engsten Zusammenhang steht, in den letzten beiden Jahren eine Aktivierung seiner Handelsbilanz erfahren, während es in früheren Jahrzehnten immer eine passive Handelsbilanz gehabt hat. Bei den beiden Gläubigerländern hat sich in der gleichen Zeit die umgekehrte Entwicklung der Handelsbilanz vollzogen.
Der Herr Vorsitzende hat gestern mit vollem Recht betont, daß es sich bei der gegenwärtigen Krise um ein Weltproblem, nicht um das Problem einzelner Länder handelt. Trotzdem ist es gerechtfertigt und notwendig, daß ich hier von den speziellen Faktoren spreche, die in Deutschland über die allgemeine Weltkrise[96] des Güteraustausches und des Kredits hinaus eine besondere Verschärfung der Krise verursacht haben. Denn die besondere Verschärfung der Krise in Deutschland hat wieder auf die Weltkrise zurückgewirkt, so daß die Baseler Sachverständigen mit Recht bemerken, das deutsche Problem stelle das zentrale Problem der allgemeinen Schwierigkeiten dar.
Die deutsche Lage ist gekennzeichnet 1. durch den hohen Zinsfuß, der die Landwirtschaft, aber auch die Industrie erdrückt; 2. durch die Anspannung der Steuerschraube auf ein Maß, das von dem Beratenden Sonderausschuß schon im Dezember vorigen Jahres als Höchstmaß bezeichnet worden ist, das aber trotzdem, um den Staatsorganismus überhaupt aufrecht zu erhalten, in den letzten Tagen noch durch neue drückende Steuern hat erhöht werden müssen, 3. durch die Auslandsverschuldung, zu deren Dienst das Devisenaufkommen aus dem Ausfuhrüberschuß immer weniger ausreicht, und 4. durch die Arbeitslosigkeit, die verhältnismäßig größer ist als in irgendeinem anderen Lande und 20 bis 25% der Gesamtbevölkerung auf öffentliche Unterstützung verweist. Dabei ist besonders verhängnisvoll, daß ein immer größerer Teil der heranwachsenden Jugend überhaupt keine Gelegenheit und Hoffnung hat, Arbeit und Verdienst zu finden. Verzweiflung und politische Radikalisierung der Jugend sind die Folgen.
Die privaten Auslandskredite können von Deutschland seit Mitte 1931 nicht mehr zurückgezahlt werden, obwohl sie nach dem Bericht des Gläubigerausschusses vom Januar 1932 vorsichtig gegeben, in gutem Glauben aufgenommen und in ihrer Gesamtheit zweckmäßig verwendet worden sind7. Die Verzinsung und Tilgung der Auslandsverschuldung beträgt im laufenden Jahre rd. 1¾ Milliarden Mark. Die früheren Reserven der Reichsbank sind aufgebraucht. Die freie Gold- und Devisenreserve der Reichsbank beträgt nur noch 390 Millionen Mark bei einem Notenumlauf von 3800 Millionen, also gegenüber der gesetzlichen Notendeckung von 40% nur noch rund 10%. Wenn wir den Verpflichtungen der nächsten Wochen nachkommen, wird diese schmale Deckung noch mehr zusammenschmelzen.
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Gemeint ist offenbar das vom „Stillhalteausschuß“ am 23.1.32 – unmittelbar nach Paraphierung des „Stillhalteabkommens“ mit den dt. Auslandsgläubigern („Deutsches Kreditabkommen von 1932“, Text: RAnz. vom 18.2.32) – herausgegebene Gutachten. Zum Inhalt s. Schultheß 1932, S. 398: umfangreiches Aktenmaterial hierzu in R 43 I/332, 336 und 337.
Der Außenhandel Deutschlands erbrachte im Jahre 1931 einen Überschuß von fast 3 Milliarden Mark. Dieser Überschuß ist aber, wie auch der Beratende Sonderausschuß feststellt, das Ergebnis abnormer Faktoren gewesen, die namentlich auf dem Zwang beruhten, die deutsche Währung und Devisenbilanz angesichts des Ansturms der auswärtigen Kreditgeber auf Deutschland unter allen Umständen zu halten8. Diese forcierte Aktivierung der deutschen Handelsbilanz hat überall Abwehrmaßnahmen gegen die Einfuhr aus Deutschland hervorgerufen mit der Folge, daß der Ausfuhrüberschuß im Jahre 1932 rapid zurückgegangen ist.
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Papen bezieht sich hierbei auf den Bericht des Beratenden Sonderausschusses vom 23.12.31, vgl. oben Anm. 4.
Wenn man berücksichtigt, daß alle Warenpreise gegenüber 1928/29 um die[97] Hälfte gesunken sind, so ergibt sich, daß allein die Last aus der deutschen Privatverschuldung an das Ausland fast auf die Höhe hinaufgebracht worden ist, die der Dawesplan als Standardannuität für Deutschland vorsah.
Deutschland hat eine solche Entwicklung aus eigener Kraft nicht abwehren können. Zu internationalen Beschlüssen der verantwortlichen Staatslenker, die geeignet gewesen wären, dieser Entwicklung zu begegnen, ist es bisher nicht gekommen. Die staatsmännische Aktion des Präsidenten Hoover im Juni vorigen Jahres war von dem Gedanken getragen, der Welt eine Atempause zu gewähren, innerhalb deren die dringendsten wirtschaftlichen Probleme einer Lösung zugeführt werden sollten9. Dieses Ziel ist jedoch nicht erreicht worden. Man hat die Realität wirtschaftlicher Gesetze nicht genügend beachtet.
Um ihre Zeit nicht allzu lange in Anspruch zu nehmen, will ich es mir versagen, im einzelnen auf die Berichte der verschiedenen Sachverständigenausschüsse einzugehen; wir müssen aber bei unseren Beratungen die wichtigsten Feststellungen und Empfehlungen dieser Berichte immer vor Augen haben. Ich möchte meinerseits heute noch auf folgende Punkte hinweisen:
Die Auslandsverschuldung Deutschlands mit ihren hohen Zinsen ist zum weitaus größten Teile auf die Substanzübertragungen und die Kapitalentziehungen zurückzuführen, die sich aus der Ausführung des Versailler Vertrags und der Reparationsabkommen ergaben. So ist insbesondere von den 18 Milliarden Mark, die Deutschland nach der Stabilisierung der Mark vom Auslande entliehen hat, wie auch der Beratende Sonderausschuß feststellt, ein Betrag von mehr als 10 Milliarden Mark allein durch die baren Reparationszahlungen wieder in das Ausland zurückgeflossen. Die Höhe der gesamten deutschen Reparationsleistungen ist in der heutigen Zeit, wo man wieder gewohnt ist, den Wert von Geldverpflichtungen in Waren umzurechnen, unvorstellbar. Die Frage, wie hoch der Wert, insbesondere der Empfangswert dieser Leistungen für die Gläubigerländer gewesen ist, will ich hier nicht zur Debatte stellen. Es ist natürlich, daß das Angebot von Gütern im Werte von Milliarden nicht nur die Preise drückt, sondern auch eine unwirtschaftliche Verwendung im Empfangslande verursacht, so daß der Nutzen des Empfangs viel kleiner ist als der Wert des Verlustes. Im Grunde genommen liegt hierin die Problematik des Reparationssystems selbst. Die Schäden, die die Durchführung der Reparationszahlungen dem aufbringenden Lande verursacht, stehen in keinem Verhältnis zu dem Nutzen, den der Empfang für die einzelnen Gläubigerländer zeitweilig darstellen mag.
Vielfach besteht die Meinung, daß Deutschland zu einem übermächtigen Konkurrenten für andere Länder werden könnte, wenn es von seinen politischen Schulden befreit würde. Diese Befürchtungen gehen nach meiner festen Überzeugung von ganz irrigen Voraussetzungen aus.
Die Entlastung der öffentlichen Haushalte, die die Inflation durch die Verringerung des inneren Schuldendienstes in Deutschland herbeigeführt hat, ist nur eine scheinbare. Durch die Inflation sind auch die privaten Vermögen, die Sparguthaben, ja die ganzen Kapitalreserven der deutschen Wirtschaft vernichtet worden. Dadurch wurde die Haushaltsentlastung illusorisch. Der Vergleich[98] der Steuerbelastung in Deutschland und anderwärts ist gerade deshalb so problematisch, weil nirgends wie in Deutschland eine so vollständige Vermögenskonfiskation stattgefunden hat.
Die Inflation hat also die deutsche Wirtschaft in ihrer Gesamtheit nur konkurrenzunfähiger gemacht. Staat und Wirtschaft haben ihre Reserven verloren. Der Vernichtung der Kapitalreserven ist eine zu schnelle und zu hohe Neuverschuldung gefolgt, der die deutsche Wirtschaft in ihrer Gesamtheit nicht gewachsen ist. Landwirtschaft und Industrie stehen vor der unmöglichen Aufgabe, für Kurzkredite einen Zinssatz von 10% und mehr, für langfristige Kredite einen nur unwesentlich geringeren Zinssatz herauswirtschaften zu müssen. Daneben werden beide von der Last der Steuern und öffentlichen Abgaben erdrückt. Die Höhe der öffentlichen Aufwendungen ist heute zu einem erheblichen Teile durch die sozialen Aufgaben bedingt. Der Wirtschaftsverfall hat außerdem den Staat zwangsläufig vor Aufgaben gestellt, die früher der Privatwirtschaft zufielen und die er nur übernommen hat aus der Verpflichtung, der sozialen Verelendung und der daraus drohenden Gefahr einer gewaltsamen Störung der Staatsordnung zu begegnen. Aus allen diesen Gründen hat die Deutsche Regierung die öffentlichen Mittel und Reserven bis aufs äußerste einsetzen müssen. Die öffentliche und private Wirtschaft stehen heute wieder wie nach der Inflation bar aller Reserven und vor einem Arbeitslosenproblem, wie es die Geschichte noch nicht gekannt hat.
Es liegt auf der Hand, daß ein von Reserven entblößtes Industrieschuldnerland wie Deutschland unter diesen Umständen auf weite Sicht keine Bedrohung der Länder darstellen kann, mit denen es im Handelswettbewerb steht.
Meine Herren! Die Geschichte der Reparationen stellt sich heute als eine Reihe von Experimenten dar, die man in immer neuer Form, aber immer mit dem gleichen Mißerfolg am deutschen Volkskörper vollzogen hat. Durch schwere Opfer und Anstrengungen des deutschen Volkes haben zwar sehr erhebliche Leistungen zugunsten der Gläubigermächte verwirklicht werden können. Der Vorteil dieser Leistungen für die Gläubigermächte bleibt aber weit zurück hinter den Schäden, die sie der deutschen Wirtschaft und der gesamten Weltwirtschaft zugefügt haben. Man hat Deutschland jedesmal ein Maximum an Reparationsleistungen auferlegt und hat es jedesmal darauf ankommen lassen, ob sich dieses Maximum als erfüllbar erweisen würde. Wir haben jetzt die Rückwirkung dieses Verfahrens auf die deutsche Wirtschaft und auf die Weltwirtschaft handgreiflich vor Augen. Die Erfahrungen der vergangenen Jahre können nur dahin zusammengefaßt werden: Die Reparationsleistungen haben sich als unmöglich und als schädlich erwiesen10. Die Erfahrungen schließen die Möglichkeit[99] aus, in der Hoffnung auf künftige Entwicklungen ein neues Experiment mit den Reparationen zu machen, das doch wieder zu den gleichen Mißerfolgen wie die bisherigen Versuche führen müßte. Deutschland kann bestenfalls hoffen, im Laufe von Jahrzehnten wieder normale Verhältnisse, d. h. wirtschaftliche Sicherheit und angemessene Lebenshaltung seiner Bevölkerung herzustellen. Ich bin fest überzeugt, daß eine solche Entwicklung in Deutschland vereitelt werden würde, und daß darüber hinaus auch in der allgemeinen Lage der Welt eine Besserung nicht eintreten kann, wenn die Weltwirtschaft jetzt nicht endgültig von den Störungen befreit wird, die in der Vergangenheit von den wirtschaftswidrigen politischen Schuldenzahlungen ausgegangen sind. Die Reparationen waren ursprünglich zum Wiederaufbau der durch den Krieg zerstörten Gebiete bestimmt. Inzwischen hat sich ihre Wirkung in das Gegenteil verkehrt. Sie bauen nicht auf, sondern sie zerstören! Ich habe volles Verständnis dafür, daß es für den Gläubiger schwerer ist als für den Schuldner, sich von den Problemstellungen und Auseinandersetzungen des letzten Jahrzehnts freizumachen. Es ist aber das zwingende Gebot der Stunde, daß wir den Blick von der Vergangenheit weg auf die Zukunft richten. Wir stehen vor dem Abgrund. Die Stunde des Handelns ist gekommen. Deshalb haben wir in Deutschland noch einmal den Versuch gemacht, die lebendigen, aufbauwilligen Kräfte der Nation zusammenzufassen, um dem deutschen Volke überhaupt die Lebensgrundlagen zu sichern. Die Zeit der kleinen Mittel, der Atempausen, der Vertagungen ist endgültig vorbei. Wir haben gesehen, wohin uns die Vertagungen gebracht haben. Es muß jetzt ganze Arbeit geleistet werden. Ich sehe die große historische Aufgabe diesser Konferenz darin, aus dem verhängnisvollen circulus vitiosus, der die Vergangenheit charakterisiert, endgültig herauszukommen und so den Weg freizumachen für eine positive Zusammenarbeit, die uns allein einer besseren Zukunft entgegenführen kann11.
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Im Entwurf (vgl. oben Anm. 2) folgte hier der später vom RK gestrichene Satz: „Daraus muß die unabweisbare Folgerung gezogen werden, einen endgültigen Strich unter das ganze Problem zu ziehen.“ Die Streichung erfolgte offenbar mit Rücksicht auf den seit langem bekannten Standpunkt Frankreichs, daß über die weitere Behandlung der dt. Reparationsverpflichtungen nur verhandelt werden könne, wenn ihr rechtlicher Fortbestand grundsätzlich nicht in Zweifel gezogen werde. Eine Woche vor Beginn der Lausanner Konferenz hatte François-Poncet diesen Standpunkt gegenüber StS v. Bülow nochmals bekräftigt und betont, „daß es der französischen Regierung unmöglich sei, auf ihre vertraglichen Rechte ausdrücklich zu verzichten, daß Herriot aber sicherlich für eine Vertagung der Reparationsfrage sine die zu haben sei“ (Aufzeichnung Bülows vom 8. 6. in ADAP, Serie B, Bd. XX, Dok. Nr. 117). In gleicher Richtung war am 16. 6. bei v. Bülow auch der frz. Reparationssachverständige Laboulaye vorstellig geworden mit der dringenden Bitte, „daß der Herr Reichskanzler in seiner ersten Rede die Tür hier nicht zuschlage und die Möglichkeit einer Schlußzahlung nicht ausdrücklich und vollständig ablehne. Sonst werde für Herriot die Situation in Frankreich sehr erschwert.“ (Vermerk Bülows vom 16. 6. in R 43 I/482, Bl. 2).
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Zum Fortgang s. Dok. Nr. 31, P. 1.