1.122 (str2p): Nr. 236 Der Reichsminister für die besetzten Gebiete an den Reichskanzler. 9. November 1923

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[1014] Nr. 236
Der Reichsminister für die besetzten Gebiete an den Reichskanzler. 9. November 1923

R 43 I /229 , Bl. 192–198

Betr.: Wiederaufnahme der Markvorschußzahlungen an die franz. und belg. Besatzungsarmee.

Schreiben des Herrn Reichskanzlers vom 27.10.23 […]

I.

Auf Grund des nebenbezeichneten Schreibens des Herrn Reichskanzlers vom 27.10.231 habe ich den Oberregierungsrat Dr. Ronde meines Ministeriums beauftragt, mit der Rheinlandkommission wegen der Wiederaufnahme der Markvorschußzahlungen an die französische und belgische Besatzungsarmee auf der von Herrn Reichskanzler wiedergegebenen Grundlage in Verhandlungen einzutreten. Auf Anfrage der Reichsvermögensverwaltung für die besetzten rheinischen Gebiete2 hatte sich die Rheinlandkommission grundsätzlich zur Aufnahme derartiger Verhandlungen und zum Empfang eines deutschen Regierungsbevollmächtigten bereit erklärt. Trotzdem schienen sich bei dem Eintreffen des Oberregierungsrats Dr. Ronde in Koblenz am 6.11.23 Schwierigkeiten zu ergeben, die darauf beruhten, daß die Rheinlandkommission sich auf die Nachricht, daß der deutsche Bevollmächtigte in Köln eingetroffen und nach Koblenz unterwegs sei, bei der Reichsvermögensverwaltung in Koblenz des Näheren erkundigte, aus welchem Ministerium er komme. Auf die Antwort des Präsidenten der Reichsvermögensverwaltung3, der deutsche Bevollmächtigte komme aus dem Ministerium für die besetzten Gebiete, erklärte der Beauftragte der Rheinlandkommission, dann stehe er allerdings vor einer vollkommen neuen Lage, es handele sich wohl um „das Ministerium des Herrn Fuchs4. Er müsse erst die Entscheidung des Präsidenten der Rheinlandkommission5 herbeiführen, ob unter diesen Umständen überhaupt Verhandlungen aufgenommen werden könnten. Diese formellen Schwierigkeiten wurden durch Verhandlungen behoben mit dem Ergebnis, daß am 7.11.23, 11 Uhr vormittags, in die Verhandlungen mit der Rheinlandkommission eingetreten werden konnte. Es nahmen teil:

1.

Der Vertreter der belgischen Abteilung der interalliierten Rheinlandkommission und Vorsitzender des Finanzkomitees der Rheinlandkommission Finanzrat Vivier,

2.

[1015]Ein Vertreter der französischen Abteilung der Rheinlandkommission,

3.

Ein Vertreter der englischen Abteilung der Rheinlandkommission,

4.

Zwei Vertreter der belgischen Besatzungsarmee,

5.

Ein Vertreter der französischen Besatzungsarmee

(Die Namen werden noch mitgeteilt6.)

6.

Der Deutsche Bevollmächtigte Oberregierungsrat Dr. Ronde,

7.

Der Abteilungspräsident Collatz der Reichsvermögensverwaltung für die besetzten rheinischen Gebiete in Koblenz.

Der Verlauf der Verhandlungen, die etwa 2½ Stunden dauerten, war folgender:

Der Empfang der deutschen Vertreter war auffallend kühl. In seinen einleitenden Worten wies der Vorsitzende Vivier darauf hin, daß es die Rheinlandkommission vorgezogen und für ausreichend erachtet hätte, mit dem Präsidenten der Reichsvermögensverwaltung über die vorliegende Angelegenheit zu verhandeln, daß sie aber, wenn es die deutsche Regierung für notwendig gefunden habe, einen besonderen Regierungsbeamten zu entsenden, hiergegen Erinnerungen nicht erhebe. Nach Bekanntgabe des Verhandlungsthemas wurde dem deutschen Regierungsvertreter zuerst das Wort erteilt.

Oberregierungsrat Dr. Ronde trug die Grundlage, auf der die deutsche Reichsregierung zur Wiederaufnahme der Papiermarkvorschußzahlungen bereit sei, vor. Die schriftlich formulierten Vorschläge, die auf besondere Bitte auch den anwesenden Vertretern in Abdruck überreicht wurden, sind aus der Anlage 2 des beiliegenden Schreibens des Oberregierungsrats Dr. Ronde an den belgischen Vertreter der Rheinlandkommission Vivier ersichtlich (vergl. unten Ziff. II)7.

Die vorgetragene Verhandlungsgrundlage gab zu folgenden Auseinandersetzungen Anlaß:

Zu Ziffer 1.

Die Vertreter der französischen und belgischen Besatzungsarmee hatten zunächst Bedenken, sich auf die Höhe der Markvorschußzahlungen des Jahres 1922 zu binden8. Es ergab sich insbesondere aus der Unterhaltung, die die Vertreter der belgischen und der Vertreter der französischen Besatzungsarmee untereinander führten, zunächst sehr deutlich, daß diese die Absicht verfolgten, eine Erhöhung der Markvorschußzahlungen mit Rücksicht auf die durch die[1016] Ruhraktion hervorgerufene Erhöhung der Effektivstärke zu erreichen9. Oberregierungsrat Dr. Ronde erklärte dem Vorsitzenden, daß er bitte, um nicht die Verhandlungen von vornherein ergebnislos zu gestalten, irgendwelche Verhandlungen über die Kosten der Ruhraktion von der Debatte auszuschließen, da Deutschland unter keinen Umständen die Rechtmäßigkeit der Ruhraktion, noch eine Verpflichtung zur Tragung der Kosten der Ruhraktion anerkennen könne und Verhandlungen über die Wiederaufnahme der Markvorschußzahlungen daher nur auf der Basis der alten Effektivstärken des Jahres 1922 und der aufgrund dieser Stärken geleisteten Markvorschußzahlungen geführt werden könnten. Die Vertreter der französischen Besatzungsarmee gaben in diesem Punkt schließlich nach und erklärten sich bereit, die Leistungen des Jahres 1922 als Rahmen für die Wiederaufnahme der Markvorschußzahlungen anzuerkennen. Die Vertreter der belgischen Besatzungsarmee dagegen erklärten, da die Markvorschußzahlungen des Jahres 1922 für ihre Armee nur während der Dauer der ersten 4 Monate des Kalenderjahres geleistet worden seien, (die belgische Besatzungsarmee hatte am 1.5.1922 im Hinblick auf die Note der Reparationskommission vom 21.3.1922 die Anforderung von Markvorschüssen eingestellt), so gebe der Durchschnitt dieser 4 Monate kein richtiges Bild über den tatsächlichen Markvorschußbedarf, der sich im Laufe des Jahres 1922 tatsächlich ergeben hätte, wenn die Markvorschußanforderungen fortgesetzt worden wären10. Es kam schließlich unter dem Vorbehalt des Einverständnisses der deutschen Regierung eine Einigung auf der Grundlage zustande, daß unter Zugrundelegung der alten Effektivstärken, wie sie im Finanzministerabkommen vom 11.3.22 festgelegt seien, das Verhältnis der französischen und belgischen Stärke errechnet und der dem Verhältnis der Effektivstärke beider Armeen entsprechende Bruchteil für die belgischen Monatsanforderungen künftig als Grundlage dienen solle.

Zu Ziffer 2.

Oberregierungsrat Dr. Ronde vermied mit Absicht, abgesehen von der Andeutung, wie sie bezüglich der Geldtransporte durch das unbesetzte Gebiet in den von ihm formulierten Verhandlungsgrundlagen enthalten war, von sich aus zunächst auf die Frage einzugehen, ob mit der Wiederaufnahme der Markvorschußzahlungen die Geldrequisitionen auch für das Sanktions- und Ruhreinbruchsgebiet ihr Ende erreichen müßten. Der Vorsitzende richtete auf Anregung des französischen Armeevertreters an Oberregierungsrat Dr. Ronde die Frage, ob die deutsche Regierung grundsätzlich bereit sei, auch eine Reichsbankstelle des Ruhrgebiets mit der Auszahlung von Markvorschüssen zu beauftragen.[1017] Diese von französischer Seite in die Debatte geworfene Frage griff Oberregierungsrat Dr. Ronde auf zur klaren Formulierung der Forderung, daß es für die deutsche Regierung gleichgültig sei, wo, wann und von wem im besetzten Gebiet Geldrequisitionen und sonstige Eingriffe in den deutschen Geld- und Zahlungsverkehr vorgenommen würden. Tatsache sei, daß es der deutschen Regierung unmöglich gemacht werde, eine Gewähr für eine ordnungsmäßige Versorgung der besetzten Gebiete mit den erforderlichen Zahlungsmitteln, zu denen auch die Markvorschüsse für die Besatzungsarmeen gehörten, zu übernehmen, wenn nicht im gesamten besetzen Gebiet, also auch im Ruhrgebiet, die Geldrequisitionen und die sonstigen Eingriffe in deutsche Kassen mit der Wiederaufnahme der Markvorschußzahlungen grundsätzlich eingestellt würden. Zur Erläuterung wurde betont, daß jede Bereitstellung von Mitteln für die Besatzungsarmeen illusorisch gemacht werden, wenn Eingriffe in das Wirtschaftsleben des besetzten Gebietes in der Form von Geldrequisitionen die deutsche Regierung unvorbereitet dazu zwängen, die durch die Requisitionen geleerten Kassen wieder zu füllen, um die dringendsten Bedürfnisse des Wirtschaftslebens im besetzten Gebiet zu befriedigen, was bei der Dringlichkeit des im Wirtschaftsleben auftretenden Bedürfnisses nur durch die Heranziehung auch für die Besatzungsarmeen vorsorglich bereitgestellten Markvorschußbeträge möglich sei. Die Notwendigkeiten des Wirtschaftslebens seien eben stärker als die militärische Anforderungen, und die durch die Geldrequisitionen verursachte Unordnung sei schließlich in gleicher Weise für die Besatzungsarmeen wie für die deutsche Regierung untragbar. Die Stichhaltigkeit dieser Ausführungen wurde von dem Vorsitzenden ohne weiteres anerkannt. Der französische Vertreter der Rheinlandkommission warf jedoch ein, daß sich die Besatzungsarmeen vorbehalten müßten, Gelder der „Ruhrhilfe“ und „Geldstrafen“ auf dem Requisitionswege zu beschlagnahmen. Auf den Einwand des Oberregierungsrats Dr. Ronde, daß nach Einstellung des passiven Widerstandes eine „Ruhrhilfe“ in dem Sinne des Wortes, wie sie bis dahin von der deutschen Reichsregierung durch die Bereitstellung von Mitteln für das besetzte Gebiet geleistet wurde, heute nicht mehr bestehe, daß die Versorgung des besetzten Gebietes einschließlich des Ruhrgebietes mit den erforderlichen Zahlungsmitteln wieder in durchaus normale Bahnen zurückgeleitet worden sei und daß daher zu der Beschlagnahme von Geldern „qua Ruhrhilfe“ keinerlei Veranlassung und Begründung mehr bestehe [!]. Aufgrund dieser Ausführungen erklärte sich die Gegenseite bereit, Geldrequisitionen aus diesem Anlaß künftig nicht mehr vorzunehmen, was die Eintreibung von Geldstrafen betreffe (z. B. Belegung von Gemeinden mit Geldstrafen wegen Sabotageakten), so würden sich auch diese Fälle nach der Einstellung des passiven Widerstandes und nach der Wiederaufnahme der Markvorschußzahlungen auf ein Unbedeutendes einschränken, grundsätzlich jedoch könne in solchen Fällen auf die Beschlagnahme von Geld nicht verzichtet werden. Hinsichtlich der Anfrage, ob demnach die deutsche Regierung bereit sei, auch Markvorschußbeträge durch die Vermittlung von Reichsbankstellen des Ruhrgebiets an die Besatzungsarmeen auszahlen zu lassen, gab aufgrund der erhaltenen Zusicherungen hinsichtlich der Geldrequisitionen im Ruhrgebiet Oberregierungsrat Dr. Ronde[1018] vorbehaltlich des Einverständnisses der deutschen Reichsregierung die Erklärung ab, daß hiergegen Bedenken nicht bestünden.

1.

Unter der Voraussetzung, daß die Einstellung der Geldrequisitionen im Sinne der Ziffer 2 der Verhandlungsgrundlagen sich auch auf das Ruhrgebiet erstrecke,

2.

unter dem Vorbehalt, daß hierdurch eine Rechtsverbindlichkeit des deutschen Reiches zur Tragung der Kosten der Ruhraktion nicht anerkannt werde,

3.

unter dem weiteren Vorbehalt, daß die Zahlungen der Höhe nach sich im Rahmen der Ziffer 1 der Verhandlungsgrundlagen hielten.

Zu Ziffer 3.

Es herrschte nach kurzer Aussprache Einverständnis darüber, daß künftig die Anforderungen für Markvorschüsse nur an die Reichsvermögensverwaltung in Koblenz gerichtet werden, und daß irgendwelche anderen Stellen, wie Gemeinden, Einzelpersonen, Bankanstalten usw. mit Geldanforderungen nicht mehr behelligt würden. Die französische Besatzungsarmee stellte in Aussicht, dem Vertreter der Reichsvermögensverwaltung und „Delegierten beim Oberkommando“ in Mainz den Geldbedarf für regelmäßig wiederkehrende Zeitabschnitte in Franken, verteilt auf die einzelnen Bedarfsorte, genau anzugeben und bittet, den Gegenwert in Papiermark durch die Reichsbankanstalten in den einzelnen Orten am Bedarfstage auszahlen zu lassen11. Die belgische Besatzungsarmee will bei dem früher üblich gewesenen Verfahren der Überweisung des Geldes an einen Ort (Aachen) zunächst verbleiben12. Oberregierungsrat Dr. Ronde wies darauf hin, daß es zur Zeit Schwierigkeiten habe, den Frankengegenwert in Papiermark bei den stark schwankenden Kursen bereitzustellen, wenn man nicht eine Vereinbarung treffe, nach welchen Notierungen die Umrechnung am Bedarfstage zu erfolgen habe, und schlug vor, daß der amtlich notierte Berliner Kurs oder der Mittelkurs der Berliner und Kölner Börse am Vortage der Zahlung als Umrechnungsgrundlage für die Auszahlung genommen werden solle. Die französischen Vertreter hatten hiergegen Bedenken deswegen, weil bei den örtlichen Kursbildungen im besetzten Gebiet die so errechneten Papiermarkbeträge zur Befriedigung der Verpflichtungen in Papiermark nicht ausreichten; es solle daher die Umrechnung auf der Grundlage des täglich notierten „amtlichen Armeekurses“ in Erwägung gezogen werden, bei dessen Festsetzung die Reichsvermögensverwaltung in Koblenz bezw. deren Vertreter Oberregierungsrat Lanz mitzuwirken Gelegenheit gegeben werden könne13. Die französischen und belgischen Armeevertreter erklärten sich schließlich auf Vorschlag des Vorsitzenden bereit, formulierte Vorschläge in[1019] dieser Richtung noch zu machen und möglichst rasch durch die Reichsvermögensverwaltung in Koblenz nach Berlin zu übermitteln. Es herrschte Übereinstimmung darüber, daß die Vereinbarung eines Auszahlungskurses für die Markvorschüsse die Frage nicht berühre, zu welchem Goldmarkbetrage die Markvorschußzahlungen der deutschen Regierung durch die Reparationskommission gutgeschrieben würden.

Gelegentlich der Diskussion, die sich zwischen dem französischen und belgischen Armeevertreter über die Frage des Umrechnungskurses entwickelte, brachte der belgische Armeevertreter zum Ausdruck (der Vorsitzende versuchte, diese Auseinandersetzung vergeblich hintan zu halten), daß die französische Besatzungsarmee gegenüber der belgischen Besatzungsarmee eine grundverschiedene Stellung einnehme. Sie habe, so erklärte der belgische Vertreter, die völlig selbständige Stellung einer Kolonialarmee und sei daher in sehr vielen Fragen nicht von dem französischen Kriegsministerium abhängig, während die belgische Armee in allen diesen Fragen nur in unmittelbarem Einverständnis mit dem belgischen Kriegsministerium zu handeln berechtigt sei. Auch kam zum Ausdruck, daß die Effektivstärke der belgischen Besatzungsarmee zur Zeit 37 500 Mann betrage gegenüber einer Effektivstärke im Jahre 1922 von 19 300 Köpfen, wie sie auch in dem Finanzministerabkommen vom 11. 3. 1922 festgesetzt worden sei14. Angaben des französischen Armeevertreters über die derzeitige Effektivstärke der französischen Besatzungsarmee dagegen unterblieben.

Nachdem eine grundsätzliche Einigung über die Wiederaufnahme der Markvorschüsse auf vorstehender Grundlage im Wesentlichen erzielt war, ergriff Oberregierungsrat Dr. Ronde die Gelegenheit, auch auf die Raubüberfälle von sogen. Separatisten auf deutsche Kassen hinzuweisen und den anwesenden Vertretern der Rheinlandkommission und der französischen und belgischen Besatzungsarmee mitzuteilen, daß am 29. 10. abends in Krefeld etwa 150 Sonderbündler in die dortige mit dem Druck von Noten beschäftigte Reichsdruckerei eingedrungen seien und noch nicht durchschnittene Bogen von Reichsbanknoten gewaltsam fortgenommen hätten. Am 30. 10. seien dann die sogen. Sonderbündler erneut in das Gebäude der Reichsbanknebenstelle eingedrungen und dort verblieben und hätten die Öffnung der Kasse und die Leistung von Auszahlungen gefordert, ferner mit vorgehaltenem Revolver die Arbeiter gezwungen, ihnen die Bogen zu schneiden. Für die Wiederaufnahme der Markvorschußzahlungen sei es von grundsätzlicher Bedeutung, daß Raubüberfälle der geschilderten Art durch die sogen. Sonderbündler unter allen Umständen unterblieben, da es für die deutsche Regierung gleichgültig sei, wo, wann und von wem die Eingriffe in die deutschen Kassen und in den deutschen Geld- und Zahlungsverkehr vorgenommen würden. Die deutsche Regierung müsse darum bitten, daß die deutschen Polizeiorgane gegen diese Raubüberfälle den erforderlichen Schutz zu gewähren in die Lage versetzt würden und daß außerdem die Besatzungsbehörden selbst nichts unterließen, um derartige Vorfälle unmöglich zu machen.

[1020] Oberregierungsrat Dr. Ronde war ferner in der Lage, ein halb persönliches Erlebnis den Anwesenden vorzutragen. Das Dienstauto der Reichsvermögensverwaltung in Koblenz, das ihn in Köln am Bahnhof abholte, war unterwegs (nur mit dem Fahrer besetzt), und zwar südlich Andernach, von einem Trupp bewaffneter „Separatisten“ angehalten, durchsucht und teilweise ausgeraubt worden. Die Rückfahrt nach Koblenz verlief ungestört. Der südlich Andernach noch stehende bewaffnete Separatistentrupp zog es vor, das besetzte Auto ungehindert passieren zu lassen. Oberregierungsrat Dr. Ronde wies darauf hin, daß er aus dieser Angelegenheit zwar keine „große Sache“ machen wolle, daß er sich jedoch für verpflichtet halte, im Rahmen der vorliegenden Verhandlungen auf die sich auch aus diesem Beispiel ergebende völlige Unsicherheit auf öffentlichen Verkehrsstraßen hinzuweisen und auf die sich hieraus ergebende Notwendigkeit der von ihm erbetenen Abhilfemaßnahmen.

Der belgische Vertreter der interalliierten Rheinlandkommission (Vorsitzende) erkannte die Ausführungen für durchaus begründet an und erklärte, die durch die sogen. Separatisten hervorgerufenen Verhältnisse seien, wie es sich ja in Aachen gezeigt habe, zu einer Unmöglichkeit geworden, und die belgische Regierung und Armee weise diese Leute weit von sich. Er werde Gelegenheit nehmen, diese ganze Angelegenheit dem Präsidenten der Rheinlandkommission, Herrn Tirard15, vorzutragen. Der französische Vertreter der interalliierten Rheinlandkomission war wegen der Aufrollung dieser Angelegenheiten offenkundig betreten. Er erklärte, es handele sich doch wohl hier um eine rein politische Frage, worauf Oberregierungsrat Dr. Ronde ihm erklärte, im Zusammenhang mit den Verhandlungen über die Wiederaufnahme der Markvorschüsse handele es sich für ihn nicht nur um eine politische Frage, über die zu verhandeln er allerdings nicht bevollmächtigt sei, sondern nicht zuletzt auch um eine finanzielle Frage, nämlich darum, ob angesichts der Raubüberfälle, wie sie die sogen. Sonderbündler ausübten, für die deutsche Regierung sich ein Zustand ergebe, der die Versorgung des besetzten Gebietes mit Geld und damit die Bereitstellung von „Markvorschüssen“ für die Besatzungsarmeen unmöglich mache. Von diesem Gesichtspunkte aus betrachtet, seien auch die Besatzungsarmeen an dieser Angelegenheit in hohem Maße interessiert und die deutsche Regierung müsse Wert darauf legen, daß auch von Seiten der Besatzungsarmeen alles geschehe, um diese Vorfälle zu verhindern. Der belgische Armeevertreter erklärte, er werde in diesem Sinne seinem Oberkommando Vortrag erstatten. Der französische Armeevertreter schloß sich diesen Ausführungen, wenn auch nur zögernd, an.

[1021] II.

Die dem belgischen Vertreter der interalliierten Rheinlandkommission als Vorsitzenden und Verhandlungsführer gegebene schriftliche Bestätigung des Verhandlungsinhalts nebst einer kurzen Zusammenfassung der getroffenen Abmachungen liegen in Abschrift bei16.

III.

Die von Oberregierungsrat Dr. Ronde gemachten beiden Vorbehalte des Einverständnisses der deutschen Reichsregierung sind materiell ohne wesentliche Bedeutung. Die gemachten Zugeständisse halten sich im Rahmen der mir vom Herrn Reichskanzler mitgeteilten Verhandlungsgrundlagen. Es erscheint mir daher unbedenklich, der Rheinlandkommission das Einverständnis der deutschen Reichsregierung zu den beiden Vorbehalten mitzuteilen17.

Fuchs

Fußnoten

1

S. hierzu Anm. 30 zu Dok. Nr. 179.

2

Der Reichsvermögensverwaltung oblag die Durchführung des Rheinlandabkommens in Fragen der Unterbringung und sonstigen Versorgung der Besatzungstruppen im altbesetzten Gebiet.

3

Da der Präsident der Vermögensverwaltung Klamt von der Irko nicht anerkannt wurde, dürfte es sich um den Abteilungspräs. Collatz gehandelt haben.

4

Vgl. hierzu Anm. 35 zu Dok. Nr. 81.

5

Tirard.

6

Eine Namensliste wurde in R 43 I nicht ermittelt.

7

Die Papiermarkvorschußzahlungen sollten in Höhe der monatlichen Leistungen des Jahres 1922 auf Goldmark umgerechnet erfolgen. Mit Beginn der Zahlungen sollten Beschlagnahmungen jedweder Form beendet werden und der Einführung von Zahlungsmitteln ins besetzte Gebiet durch die Reichsbank und dem Transport der Zahlungsmittel keine Hindernisse bereitet werden. Die Vorschußzahlungen sollten im gleichen Verfahren wie vor dem 1.1.23 erfolgen (R 43 I /229 , Bl. 203).

8

Nach einem Geheimabkommen zwischen Wilson, Clemenceau und Lloyd George, das von einem interalliierten Finanzministerabkommen vom 11.3.22 bestätigt worden war, sollten die Besatzungskosten für das Reparationsjahr 1922 (beginnend am 1.5.22) nicht mehr als 220 Millionen Goldmark betragen (RFM an RK, 28.12.23; R 43 I /229 , Bl. 287).

9

Vgl. dazu unten der Bericht über die Diskussion zwischen frz. und belg. Gesprächsteilnehmern über die Truppenstärke. In der 3. Denkschrift über Besatzungskosten (RT-Drucks. Nr. 5688, Bd. 378 ) wurde die Besatzungsstärke im interalliierten Finanzabkommen vom 11.3.22 angesetzt mit 19 300 Belgiern, 15 000 Engländern, 90 400 Franzosen; tatsächlich befanden sich am 15.9.22 als Besatzungstruppen 29 327 Belgier, 106 033 Franzosen und 10 310 Engländer neben 1995 Amerikanern auf deutschem Boden.

10

Vom 1.5.21 bis zum 30.4.22 waren bezahlt worden für die Besatzungsarmeen (in GM) an Frankreich 106 853 018, an England 28 499 054, an Belgien 24 965 018, an die USA 18 368 330; vom 1.5.22 bis 31.12.22 wurden gezahlt (in GM) an Frankreich 66 318 257, an England 8 794 702, an Belgien 15 480 638, an die USA 6 080 989 (RT-Drucks. 5688, Bd. 378 ).

11

Degoutte teilte dem Vorstand der Zweigstelle der Vermögensverwaltung in Mainz am 12.11.23 unter Bezug auf diese Besprechung die an den 20 Standorten der frz. Besatzungstruppen benötigten Einzelsummen von insgesamt täglich 350 000 Franken mit. Degoutte beabsichtigte einen „Einkassierungskurs“ täglich mitzuteilen, der den mittleren Wert des Kurses der „Plätze mit bedeutenden Garnisonen“ darstellen sollte (R 43 I /229 , Bl. 212–215).

12

Am 19.11.23 forderte der RMbesGeb. die Reichsbank auf, ihrer Zweigstelle in Aachen den Gegenwert von 200 000 belg. Frs. als Markvorschüsse zu überweisen (R 43 I /229 , Bl. 209).

13

S. dazu o. Anm. 11.

14

Vgl. dazu o. Anm. 9.

15

Über das Verhältnis der Besatzungstruppen zu den Separatisten war es zwischen der belg. Regierung und dem frz. Präsidenten der Rheinlandkommission zu erheblichen Spannungen gekommen, die auch auf die Beziehung zwischen Paris und Brüssel einwirkten. Der belg. Außenminister Jaspar hatte unter dem Eindruck englischer Vorstellungen sich eindeutig von den Separatisten distanziert und ihnen jegliche belg. Unterstützung versagt, so daß sie unter belg. Druck auch Aachen geräumt hatten. In einem ausführlichen Telegramm an das frz. Außenministerium erklärte Tirard am 4.11.23 die Rheinlandpolitik Frankreichs für gefährdet, falls es isoliert vorgehen müsse: „Plus que jamais, l’unité de l’action franco-belge devrait être maintenue dans l’interêt commun des deux pays“ (BA: ZSg 105/10, Bl. 37–41).

16

Enthalten in R 43 I /229 , Bl. 199–203.

17

In der Folge kam es zu Spannungen zwischen dem RFM und dem RMbesGeb., da auf Grund der Währungslage und um die Reichsfinanzen in Ordnung zu halten, sich Luther gegen die Vorschußzahlungen wandte; s. dazu Die Kabinette Marx I/II, Dok. Nr. 3 mit Anmerkungen.

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