Text
[702] Nr. 169
Präsident von Guérard an den Reichsverkehrsminister. Köln, 23. Oktober 1923, 18.25 Uhr
R 43 I/1838, Bl. 413 Telegramm
[Betreff: Separatistenunruhen.]
Zur Sonderbündlerbewegung hat das Polizeipräsidium die folgenden weiteren Meldungen mitgeteilt:
Um 12.30 Uhr meldet Aachen: Bevölkerung stürmt das Rathaus. Die Fahne wurde heruntergerissen. Kampf um das Regierungsgebäude und ebenfalls in verschiedenen Straßen. Viele Tote und Verwundete. Über das Verhalten der Besatzungstruppen nichts näheres bekannt1. In Düsseldorf alles ruhig. Um 1 Uhr wurde in Liblar Post und Bürgermeisterei besetzt. In Koblenz große Ansammlung der Bevölkerung vor der Bahnhofshalle, in der sich Sonderbündler befinden. Sonderbündler werden belagert. Auf telefonischen Anruf „Wiesbaden Polizeigebäude“ meldet sich die franz. Polizei.
Um 5.15 Uhr werden Straßenkämpfe in Mainz gemeldet. In Koblenz werden in dem Wartesaal 3. Kl. die Sonderbündler mit Karabinern ausgerüstet. Die Regierung wurde um 5.30 Uhr besetzt. In Düren befindet sich das „Armee-Oberkommando“ oberste Leitung des Selbstschutzes, Leitung Matthes, Tivolistr. 55. Hier sitzen Matthes, Dorten2, Merks, Leithner, Rang und Biermann. Smeets befindet sich in Mainz. Er ist zum Leiter der Exekutive, Bz. Mittelrhein ernannt. – Alle Ortsgruppen, die noch nicht in Aktion getreten sind, erhielten von der Zentrale in Düren die Aufforderung zur höchsten Alarmbereitschaft. Die zur Verwendung kommenden Waffen (Brownings) wurden von Rang (Mainz) geliefert. Die Waffen stammen aus der Lütticher Waffenfabrik. In Mayen wurde die Post besetzt. In Wiesbaden arbeiten Post und Telegraf.
Präsident3 von Guérard.
Fußnoten
- 1
Von der Post in Aachen wurde am 24. 10., 17 h gemeldet: „Die von der Regierung verbreitete Nachricht, daß Aachen von den Sonderbündlern befreit sei, ist nicht zutreffend, richtig ist nur, daß Übergangsverhandlungen stattfanden, die jedoch gescheitert sind, da Separatisten Unterstützung erhielten. Sonderbündler befinden sich z. Zt. im Regierungsgebäude, während Regierung im Rathaus sitzt. Die Lage ist sehr gespannt, schwere Kämpfe dürften bevorstehen“ (R 43 I/1838, Bl. 419).
- 2
In seiner autobiographischen Darstellung „Mein Verrat. Das rheinische Drama 1918 bis 1924“, Bl. 164 ff. stellt Dorten die Ereignisse in Aachen und der übrigen Rheinprovinz so dar, daß er von ihnen völlig überrascht worden sei und auf ihren Verlauf keinen Einfluß habe nehmen können (BA: ZSg 105/4).
- 3
Es handelt sich um den Präsidenten der Reichsbahndirektion Köln.