Text
Nr. 122
Unterredung Professor Wittes mit Vertretern der Rheinlandkommission am 5. und 9. Oktober 1923 in Koblenz
R 43 I/215, Bl. 324–3251
Am Freitag, den 5. Oktober 1923, habe ich mich auf Ersuchen des Herrn Oberbürgermeisters Adenauer nach Koblenz begeben, um von Herrn Tirard zu hören, ob Verhandlungen zwischen der Rheinlandkommision einerseits und Oberbürgermeister Adenauer als Vertreter der Reichsregierung andererseits über die Wiederingangsetzung des wirtschaftlichen Lebens an Rhein und Ruhr möglich seien2. Ich traf in Koblenz Herrn Tirard nicht an; er war zu einer Besprechung zu Herrn General Degoutte nach Bonn gefahren3. Sein Kabinettschef Silhol hat dann telefonisch Herrn Tirard in Bonn angerufen, und Herr Tirard hat erklärt, daß Herr Silhol meine Mitteilung entgegennehmen soll. Ich habe darauf an Herrn Silhol die obige Frage gestellt. Herr Silhol hat zunächst gefragt, warum nicht Verhandlungen mit der französischen Botschaft in Berlin oder durch den deutschen Geschäftsträger in Paris stattfänden4. Ich habe erklärt, darauf könne ich keine Antwort geben. Herr Silhol hat für sich erklärt, daß er eine Verhandlung mit Herrn Adenauer sehr begrüßen würde und hat darauf mit Herrn Tirard telefonisch gesprochen. Tirard hat mich an den Apparat gebeten und mir gesagt, daß er sobald wie möglich – hoffentlich am anderen Morgen – mir Mitteilung machen wolle. Silhol stellte dann ausdrücklich fest, daß hiermit die Verhandlungen begonnen hätten. Am anderen Morgen wurde mir in Köln durch den dortigen französischen Bevollmächtigten Arnaud mitgeteilt, daß Präsident Tirard nach Paris gefahren sei, die Antwort werde etwas auf sich warten lassen5. Am Dienstag, dem 9. Oktober, wurde ich durch den Herrn[519] Arnaud ersucht, möglichst sofort nach Koblenz zu fahren. Ich bin dann mittags nach Koblenz gefahren und zunächst wieder zu dem Kabinettschef des Herrn Tirard, Herrn Silhol, gegangen. Auf meine Frage, ob Herr Tirard anwesend sei, antwortete Herr Silhol ausweichend; er erklärte, ich werde mit dem beauftragten Vertreter des Herrn Tirard, Herrn Roussellier, sprechen; er – Silhol – bedauere sehr, durch dringendste Geschäfte verhindert zu sein, ebenfalls an der wichtigen Besprechung teilzunehmen. Ich wurde darauf durch den Oberstleutnant d’Arboneau zu diesem Herrn Roussellier geführt. D’Arboneau blieb bei der Unterredung selbst anwesend und griff fortgesetzt in die Unterredung in verschärfendem Sinne ein. Ich habe diese beiden Herren dreimal gefragt, ob Herr Tirard anwesend sei, erhielt aber immer eine ausweichende Antwort. Die Herren erklärten mir, die französische Regierung wolle überhaupt keine derartigen Verhandlungen über die Rhein und Ruhr angehenden Fragen mit einem Vertreter der Reichsregierung, sie lehne auch Herrn Adenauer persönlich ab, sie erkenne zwar seine Bedeutung an, müsse aber sagen, daß er während der in Frage kommenden Zeit sich politisch Frankreich gegenüber feindlich gezeigt habe, speziell während der Dauer des passiven Widerstandes; zudem habe Adenauer sich offensichtlich auf die Engländer der „Kölner Insel“ allein zu stützen gesucht. Sie seien bereit, sich mit möglichst vielen Vertretern der verschiedensten Gegenden und der verschiedensten Wirtschaftszweige des Rhein- und Ruhrgebietes zu unterhalten, nicht zu verhandeln (entretiens, nicht conférences). Bei diesen Unterhaltungen dürfe über die Frage der Eisenbahn, der Zölle und der Forsten nicht gesprochen werden, sondern nur über Fragen mehr örtlicher Natur, wie Nahrungsmittelnot und dergl. Die Fragen, die bei diesen Unterhaltungen zu besprechen seien, würden zweckmäßig vorher mitgeteilt. Frankreich selbst würde niemals den Wunsch aussprechen nach solchen Unterhaltungen, es sei nur bereit, die Vertreter des rheinischen Volkes auf deren Wunsch anzuhören, wenn sie sich vertrauensvoll an Frankreich wendeten. Ob solche Unterhaltungen mit Koblenz oder mit der militärischen Stelle stattfänden, sei gleichgültig, da die Entscheidung doch immer von der französischen Regierung selbst getroffen werde.
Aus der Unterhaltung klang der Wunsch der französischen Herren sichtlich hervor, daß die Rheinländer als solche möglichst zahlreich jetzt zu ihnen kommen möchten.
Es erscheint dringend im Interesse eventueller zukünftiger Verhandlungen notwendig, daß von dem ganzen Zwischenfall nichts in die Öffentlichkeit, insbesondere nichts in die Presse gelangt.
Fußnoten
- 1
Witte war Direktor des städt. Schütgen-Museums in Köln und Provinzialdelegierter des Roten Kreuz für die Rheinprovinz. Sein Bericht wurde der Rkei am 11. 10. vom RMbes. Geb. übersandt (R 43 I/215, Bl. 323).
- 2
Zur ersten Fühlungnahme zwischen Adenauer und Tirard s. Dok. Nr. 58.
- 3
S. Anm. 6 zu Dok. Nr. 111.
- 4
S. hierzu Tirards Äußerung über de Margerie am 14.9.23 (Dok. Nr. 58 und Dok. Nr. 125).
- 5
Diese Reise scheint im Zusammenhang mit den Verhandlungen der Ruhrindustriellen gestanden zu haben. Stresemann führte in der Rkei am 8.10.23 vor Vertretern der RT-Fraktionen aus: „Bei den Verhandlungen mit Degoutte habe dieser Grundsätze entwickelt, die man eben noch als erträglich ansehen könne“, eine zweite Unterredung mit D. sei nicht mehr zustande gekommen, dagegen noch eine mit Tirard. Diese scheine aber wesentlich unbefriedigender verlaufen zu sein. Im Anschluß an die Unterredung seien Degoutte und Tirard jeder im eigenem Sonderzug nach Paris gefahren, um ihre Ansicht bei Poincaré durchzusetzen. Der Reichskanzler rechnete damit, daß Tirard der Sieger sein werde. Er fügte hinzu, die französische Militärverwaltung sei stets viel entgegenkommender als die Zivilverwaltung gewesen, erstere strebe einen modus vivendi, wolle aus dem Ruhrgebiet heraus, letztere strebe eine vom Reich getrennte rheinische Republik unter französischer Oberhoheit an“ (zit. nach einem Bericht MinR Sperrs von O. Jung, Reparation, Währung und französische Rheinlandpolitik; ZSg 105/1 Bd. 2, Bl. 109, Anm.).