Text
Nr. 276
Der Reichsfinanzminister an den Reichsarbeitsminister. 21. November 1923
Betr. Entlastung des Reichs von sozialen Aufgaben.
Bei der Beratung des von mir dem Verwaltungsrat der Rentenbank vorgelegten Haushaltsvoranschlags für die Übergangszeit bis zum 31.3.241 hat der Verwaltungsrat u. a. zwei Ansätze beanstandet, die den Geschäftsbereich des Reichsarbeitsministeriums angehen, nämlich den Sachbedarf des Reichsarbeitsministeriums und die Ausgabe für die Erwerbslosenfürsorge. Der Verwaltungsrat hat in einem formellen Beschluß verlangt, daß organisatorische Maßnahmen ergriffen werden, um das Reich von diesen Posten zu entlasten.
[1157] Die sächlichen Ausgaben des Reichsarbeitsministeriums umfassen den gesamten Umkreis der Aufgaben auf sozialem Gebiete, die durch die Entwickelung der letzten Jahre dem Reich aufgezwungen sind, sei es ganz zu seinen Lasten, sei es unter Mitbeteiligung der Länder und Gemeinden, während sie früher als Aufgaben der kommunalen Wohlfahrtspflege den Gemeinden oblagen. Der wahre Grund für die Verschiebung der Zuständigkeit liegt in der aus der Entwickelung der Geldverhältnisse, insbesondere der Markentwertung, folgenden Tatsache der Leistungsunfähigkeit der Kommunalverbände und Kommunen sowie der Länder. Ich bin hier bemüht, wie ich in der Chefbesprechung vom 16. d. Mts2 bereits mitgeteilt habe, durch Änderung des Finanzausgleichsgesetzes3 die Grundlagen für eine Umstellung der Verhältnisse in der auch von Ihnen verfolgten Richtung zu schaffen, die dahin geht, die soziale Fürsorge und die gesamte Wohlfahrtspflege bei den Gemeinden und Gemeindeverbänden zusammenzufassen, d. h. ihnen sowohl die Verantwortung für die Durchführung als auch für die Beschaffung der Mittel aufzuerlegen. Zur Schaffung der finanziellen Grundlagen, die in einer schleunigen Änderung des Finanzausgleichsgesetzes bestehen müssen, habe ich für die nächsten Tage bereits eine Besprechung mit einem aus Vertretern der Landesregierungen gebildeten Ausschuß vorgesehen. An Euere Hochwohlgeboren darf ich die Bitte richten, die auf den sachlichen Gebieten erforderlichen Gesetzesänderungen alsbald vorzubereiten. Das Ziel muß eine völlige Entlastung des Reichs sein, dem nach meiner Meinung nichts anderes verbleiben darf als die Gesetzgebung, während die gesamte Verwaltung, insbesondere auch die Durchführung der Gesetze oder Verordnungen den Ländern und Gemeinden übertragen werden muß, eine Mitbeteiligung des Reichs an den Kosten muß außer Betracht bleiben. Das Ziel muß dabei zugleich das sein, die Verwaltungstätigkeit des Reichs einzuschränken. Ich habe hier vor allen Dingen im Auge: die Fürsorge für Sozial- und Kleinrentner, die Familienwochenhilfe und Wochenfürsorge, die soziale Kriegsbeschädigten- und Kriegshinterbliebenenfürsorge, die Wohnungsfürsorge sowie die Fürsorge für die charitativen Anstalten, wobei ich besonders dankbar begrüße, daß in Ihrem Ressort bereits wertvolle Vorarbeiten auf diesem Gebiete geleistet sind.
Besonders hervorheben muß ich jedoch, daß die finanzielle Lage des Reichs seit Inkrafttreten der Rentenbank4 sich derart verschärft hat, daß ich nicht gewährleisten kann, ob ich in der Lage sein werde, die aus der geltenden Gesetzgebung erwachsenden Lasten des Reichs noch im Jahre 1924 zu leisten.[1158] Größte Beschleunigung ist daher geboten. Ich weise darauf hin, daß für den gesamten Aufgabenkreis des Reichsarbeitsministeriums für die Zeit vom 15. XI. 23 bis zum 31. III. 24 nur 124 Millionen Rentenmark zur Verfügung stehen, eine Vermehrung dieser Summe ist ausgeschlossen. Nur die für die Wohnungsfürsorge5 unvermeidbaren Mittel werde ich nach Maßgabe der vorhin erwähnten Chefbesprechung bereitstellen, sofern mir die Rückzahlung bis zum 1. III. 1924 als äußerstem Termin gewährleistet wird.
Aus dem Rahmen der eben erwähnten Mittel fällt ferner heraus die Erwerbslosenfürsorge, der zweite Punkt, den der Verwaltungsrat der Rentenbank beanstandet hat. Ich darf bemerken, daß ich hierfür 340 Millionen Rentenmark vorgesehen habe, während die Schätzungen Ihres Ressorts etwa um ein Drittel höher liegen. Ich muß hervorheben, daß ich mehr als 340 Millionen einschließlich der produktiven Erwerbslosenfürsorge und der Beihilfen an überlastete Länder unter keinen Umständen flüssig machen kann. Daraus ergibt sich, daß mit größter Beschleunigung Maßnahmen auch in der Richtung einer Herabsetzung der Unterstützungen getroffen werden müssen, um eine stärkere Inanspruchnahme des Reichs restlos auszuschalten. Solche Maßnahmen sind auch deswegen besonders dringlich, weil, wie Ihnen bekannt, die Erwerbslosenfürsorge im besetzten Gebiet nur noch für ganz kurze Zeit finanziert werden kann, eine unterschiedliche Behandlung der Erwerbslosen im besetzten und unbesetzten Gebiet, wie ich fürchte, auf einmütigen Widerstand der großen Reichstagsparteien stoßen wird6. Daß auch hier eine finanzielle Verselbständigung der Gemeinden im gewissen Umfange Voraussetzung weiteren Vorgehens ist, verkenne ich nicht und darf in dieser Hinsicht auf meinen vorhin gemachten Hinweis auf die Änderung des Finanzausgleichsgesetzes Bezug nehmen. Das anzustrebende Ziel muß m. E. sein, sowohl die materielle Arbeitslosenfürsorge als auch das Arbeitsnachweiswesen grundsätzlich den Gemeinden zu übertragen. Auch im Schlichtungswesen und in der Tarifgebarung wird das Reich stärker als bisher entlastet werden müssen.
Da ich aus der Chefbesprechung vom 16. d. Mts. die Gewißheit erhalten habe, daß Euere Hochwohlgeboren durchaus in der gleichen Richtung bemüht sind wie ich selbst, darf ich der Hoffnung Ausdruck geben, daß die in Ihr Ressort fallenden Vorarbeiten mit allergrößter Beschleunigung in Angriff genommen werden, auf deren Notwendigkeit ich nicht noch besonders hinzuweisen brauche. Für baldgefällige Nachricht vom Veranlaßten wäre ich verbunden7.
Der Herr Reichskanzler und Herr Staatsminister a. D. Saemisch haben Abschrift erhalten.
gez. Dr. Luther
Fußnoten
- 1
D. h. die Zeit vom Inkrafttreten der Rentenbank-VO bis zum Ende des Rechnungsjahres.
- 2
Nicht in R 43 I ermittelt.
- 3
Durch die Erzbergersche Steuer- und Finanzreform war im Gesetz vom 30.3.20 (RGBl., S. 402 ff.) die Steuerhoheit von den Ländern auf das Reich übergegangen, das nun die Länder zu alimentieren hatte. Unter dem Eindruck der Inflation hatten die Ländervertreter auf der Würzburger Ministerkonferenz vom 23.6.23 dann gefordert, den Ländern 75% der Einkommen- und Körperschaftssteuern, und 10% der Umsatzsteuern zukommen zu lassen, die Gemeinden sollten 15% der Umsatzsteuern erhalten. Das Reich sollte Zuschüsse zur Besoldung der Landesbeamten, z. B. der Polizei, und Beträge für Wohlfahrt, Bildung und Schulen übernehmen (s. dazu aus zeitgenössischer Sicht H. Dorn, in: Handwörterbuch der Preußischen Verwaltung I, 1928; J. Popitz, Handwörterbuch der Staatswissenschaften III, 1927).