1.41 (str2p): Nr. 155 Hugo Stinnes an Reichskanzler Stresemann. 20. Oktober 1923

Zum Text. Zur Fußnote (erste von 6). Zu den Funktionen. Zum Navigationsmenü. Zum Navigationsbaum

 

Bandbilder:

Die Kabinette Stresemann I und II. Band 2Gustav Stresemann und Werner Freiherr von Rheinhaben Bild 102-00171Bild 146-1972-062-11Reichsexekution gegen Sachsen. Bild 102-00189Odeonsplatz in München am 9.11.1923 Bild 119-1426

Extras:

 

Text

RTF

Nr. 155
Hugo Stinnes an Reichskanzler Stresemann. 20. Oktober 1923

R 43 I /453 , Bl. 94–981

[Betrifft: Verhandlungen mit der Micum.]

Sehr geehrter Herr Stresemann,

unter Bezugnahme auf Ihre telefonischen Mitteilungen von gestern Abend, die wegen Störung nur teilweise für mich verständlich waren, und bezugnehmend auf die heutigen durch Herrn Staatssekretär Kempkes bekannt gegebenen Wünsche gebe ich Ihnen nachstehend eine kurze Zusammenfassung der gestrigen Ausführungen der Vertreter der Sechserkommission des Bergbaulichen Vereins2, insbesondere soweit der Punkt in Betracht kommt, der vielleicht einen leisen Hoffnungsschimmer, mindestens auf Zeitgewinn, geben würde.

Wir haben ausgeführt, daß nach unserer Auffassung vielleicht eine Verständigung mit den Franzosen über die Kohlensteueransprüche vor dem 15. Oktober 1923 möglich sei, nachdem man in gegenseitiger Übereinkunft den Umfang der vorläufig ohne jede tatsächlichen Unterlagen ermittelten Ansprüche der Franzosen auf das wirkliche Maß des Anspruchs zurückgeführt hat.

[660] Wir haben ferner angeführt, daß die Franzosen zwar für die Zeit nach dem 15. Oktober 1923 Kohlensteueransprüche stellten, daß wir es aber nicht für ganz aussichtslos hielten, diese Kohlensteueransprüche zu beseitigen, da in den Verhandlungen wiederholt zum Ausdruck gekommen sei, insbesondere von Seiten des General Degoutte, daß man die Gesetze des Deutschen Reiches im Ruhrgebiet respektiere.

Wir haben endlich hervorgehoben, daß für die seither abtransportierten Mengen, die auf Reparationskonto gutgeschrieben werden, bereits eine Vereinbarung mit einer Zeche vorliege, wonach diese Mengen auch von den Franzosen als von der Kohlensteuer befreit angesehen würden, natürlich mit dem Erfolg, daß diese Mengen auf Reparationskonto auch nur kohlensteuerfrei gutgeschrieben werden.

Unter der Annahme, daß in den vorstehenden Punkten eine Verständigung mit den Franzosen möglich ist, wofür wir keinerlei Beweis haben, sondern wofür nur ein gewisser Eindruck aus den Verhandlungen spricht, indem die Gegenpartei bezüglich dieser Punkte nicht in einem fort behauptete, daß sie „intransigeant“ sei, wiederhole ich nunmehr den Weg, den wir gestern angedeutet haben und der die Möglichkeit geben würde, Zeit für Verhandlungen zu gewinnen.

Wir glauben, die Zechen dazu bestimmen zu können, sofern mit den Franzosen ein Anlaufabkommen von zwei bis drei Monaten möglich ist, für einen Zeitraum von etwa drei Monaten, d. h. längstens bis zum 1. April 1924, individuelle Lieferungsabkommen mit den Franzosen dergestalt zu schließen, daß die Zechen die Reparationskohle im Ausmaß von 16–18% vorläufig für ihre Rechnung kostenfrei den Franzosen liefern, sofern die deutsche Regierung gestattet, daß der Wert der Lieferungen, natürlich auch der noch im Eigentum der Zechen befindlichen nicht bezahlten Lagerbestände, den Werken seitens der deutschen Regierung gutgeschrieben wird und nach Ordnung der Reichsfinanzen demnächst in Anleihe oder sonstig vergütet wird, sowie daß die Werke Steuern aller Art, insbesondere Umsatzsteuern, aufrechnen dürfen, um so den effektiven Vorschuß an das Reich nach Möglichkeit herunterzumindern.

Die Werke werden damit nicht allein keinen Gewinn erzielen, sondern sie werden schwere Betriebszuschüsse erfordern. Es ist jedoch nicht ausgeschlossen, daß nach vollständiger Wiederinbetriebsetzung der Werke die reinen Betriebszuschüsse im Wege des Individualkredits im In- ode Auslande würden beschafft werden können, namentlich wenn die spätere Begleichung dieser Vorschüsse durch Rückzahlung seitens des Reiches in sichere Aussicht gestellt werden kann.

Eine Übersetzung in der Höhe der Kohlenpreise mit Rücksicht auf die kostenlose Abgabe von 16 bis 18% ist ausgeschlossen, denn die Zechen würden alsdann keinen Absatz haben und die verbrauchende Industrie würde mangels Konkurrenzfähigkeit auf dem Weltmarkt einen geordneten Betrieb nicht aufnehmen können.

Bei der Errechnung des Prozentsatzes der zu liefernden Kohlen ist eine wesentliche Erhöhung der Förderung von 8 auf 9 Millionen to. vorausgesetzt, d. h. die Bergleute müßten ihrerseits die Verpflichtung übernehmen, die Arbeitszeit[661] von dem Augenblick an, wo Abfuhrmöglichkeit vorhanden ist, auf jedem einzelnen Werk so zu verlängern, daß eine Förderung zwischen 9 bis 10 Millionen to. erzielt wird3. Die Arbeitszeitverlängerung würde nach meiner persönlichen Ansicht bis zu 1½ Stunde betragen müssen.

Wir haben gestern nachmittag mit den Vertretern der rheinisch-westfälischen Bergarbeiterschaft eingehende Beratungen gepflogen und letztere über unsere Auffassung in Kenntnis gesetzt. Es war der dringende Wunsch der Bergarbeiterschaft, daß wir gemeinsam bei Ihnen und dem Herrn Reichspräsidenten nachdrücklichst vorstellig werden sollten, unter allen Umständen die Finanzierung der Reparationslieferungen auf dem oben angedeuteten oder einem anderen Wege vorzunehmen. Es müsse der nötige Zeitraum für Verhandlungen unbedingt gewonnen werden, da sonst Rhein und Ruhr im preußischen und vielleicht deutschen Staatsverband abgeschrieben werden müßten4.

Die Vertreter des Bergbaulichen Vereins haben geglaubt, nach den Verhandlungen vom vergangenen Vormittag sich einem derartigen gemeinsamen Schritt nicht anschließen zu dürfen, da in dieser hochpolitischen Frage die Regierung aus eigener Verantwortung und ohne einen so ungeheuren Druck, wie ihn eine gemeinsame Vorstellung der vereinigten Arbeitgeber und Arbeitnehmer des Ruhrbergbaus darstellen würde, entscheiden müsse.

Von dem Geschehenen habe ich telefonisch Herrn Kempkes nichtsdestoweniger heute in Kenntnis gesetzt.

Ich wiederhole die gestern mehrfach ausgesprochene Bitte um eine klare eindeutige Entscheidung. Die Bergarbeiter an Rhein und Ruhr und wir müssen[662] wissen, ob die Regierung alle Reparationslieferungen, insbesondere die Kohlenlieferungen, ablehnt. Im Falle der Ablehnung tritt selbstverständlich die Notwendigkeit ein, – um die Bevölkerung an Rhein und Ruhr am Leben zu erhalten, – sofortige weitergehende Verhandlungen mit den Franzosen und Belgiern anzuknüpfen.

Wir beabsichtigen, in diesen Existenzfragen des Rhein/Ruhr-Volkes mit den Arbeitervertretern gemeinsam vorzugehen und bitten, wenn wir verhandeln müssen, um einen klaren Auftrag, damit sowohl die Vertreter der Bergleute wie wir bei der Schwere der uns obliegenden Aufgabe nicht noch dadurch gehindert sind, daß man uns als Abtrünnige am Deutschtum mit Schmutz bewirft und diskreditiert.

Am Montag vormittag sind neue Verhandlungen mit der MICUM in Düsseldorf5, um drei Uhr nachmittags haben wir eine Zusammenkunft mit den Vertretern der Bergarbeiterschaft in Düsseldorf und am Montag Abend finden Sitzungen des bekannten Ausschusses in Köln statt.

Ich bitte um Ihre Entschließungen wenn möglich bis heute Abend, spätestens aber Sonntag nachmittag und stehe für etwaige mündliche Instruktionen im Laufe des heutigen Nachmittags oder auch Sonntag nachmittag jederzeit persönlich zur Verfügung6.

Mit hochachtungsvoller Begrüßung

Ihr ergebener

Hugo Stinnes.

Fußnoten

1

Das Schreiben ist abgedruckt bei H. Spethmann, 12 Jahre Ruhrbergbau III, S. 200 ff.; Ursachen und Folgen V, Dok. Nr. 1094 a. – Es trägt die Notiz Grävells: „in der Kab.Sitzung v. 20. 10. erledigt“. S. dazu Dok. Nr. 156.

2

S. Dok. Nr. 149.

3

In dieser Frage hatte MinDir. Ritter bereits am 12.10.23 eine Vorlage für den RK gefertigt: „Bei einer monatlichen Kohlenförderung von 9 bis 10 Millionen Tonnen sind vor dem 10. Januar monatlich durchschnittlich 1,6 Millionen Tonnen Kohle auf Reparationskonto geliefert worden. Bei den gegenwärtigen Ruhrkohlenpreisen würde das jährlich annähernd 1 Milliarde Goldmark, monatlich etwa 80 Millionen Goldmarkzahlungen des Reiches erfordern. Dieser Betrag würde uns nach den Bestimmungen des Vertrages von Versailles aber nicht in voller Höhe, sondern nur in Höhe des englischen Kohlenpreises <[handschriftl.:] als [!] mit etwa 60%> auf Reparationskonto gutgebracht werden. – Es ist zwar nicht anzunehmen, daß die Kohlenförderung in der Ruhr bald wieder die alte Höhe von monatlich 9 bis 10 Millionen Tonnen erreichen wird. Da die Franzosen aber für die Reparationskohle eine absolute Priorität in Anspruch nehmen, kommt es nur darauf an, wieviel Kohle überhaupt gefördert wird. Würden z. B. im ersten Monat nur 2 Millionen Tonnen gefördert werden, so würde damit das Reparationssoll schon ganz gedeckt sein. – Die Höhe der Reparationskohlenlieferungen hängt aber nicht nur von der Förderungskapazität, sondern in erster Linie von der Transportkapazität ab. Über deren gegenwärtigen Stand und demnächstige Entwicklung läßt sich Substantiiertes nicht sagen. – In Sachverständigenkreisen wird angenommen, daß im ersten Monat nicht mehr als etwa ⅓ der Reparationskohlenförderung vor dem 10. Januar geliefert werden kann, also etwas über 500 000 Tonnen. Das würde monatlich 25 Millionen Goldmark erfordern, eine Reparationskohlenlieferung von einer Million etwa 50 Millionen Goldmark“ (Pol.Arch.: Büro RM PA, Bd. 1).

4

Namens des Vorstandes des Verbandes der Bergarbeiter Deutschlands übersandte Husemann der RReg. am 20.10.23 eine Entschließung, daß „die endgültige Abschnürung des Rhein- und Ruhrgebietes und die wahrscheinliche Errichtung eines Rhein-Ruhrstaates unter französischer Oberhoheit“ eintreten würden, wenn die Sachleistungen für Reparationen nicht länger aufgebracht würden. Die RReg. solle bis zum Äußersten gehen, um die Abtrennung zu verhindern. Im Anschreiben verwies Husemann auf die Gefahren (Bürgerkrieg, Krieg gegen Frankreich), die aus einer Ablehnung der Steuerstundung und verhinderter Kredite entstehen würden (R 43 I /215 , Bl. 100–101; abgedruckt bei H. Spethmann, 12 Jahre Ruhrbergbau III, S. 202 f.; Ursachen und Folgen V, Dok. Nr. 1093).

5

S. Dok. Nr. 162.

6

S. Dok. Nr. 156 und das Antwortschreiben Stresemanns (Dok. Nr. 160).

Extras (Fußzeile):