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Nr. 11
Der Reichskanzler an den Bayerischen Ministerpräsidenten. 18. August 1923
R 43 I/2218, Bl. 30–31 Entwurf1
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Eine Durchschrift der Ausfertigung befindet sich in R 43 I/2218, Bl. 32–35. Am Kopf des ungezeichneten Entwurfs vermerkte StS von Rheinbaben: „M. E. soll Reinschrift noch heute (18. 8.) abend (zum Zuge!) abgehen und zwar mit der äußeren Adresse nebst Begleitschreiben an Herrn von Haniel, der für schnellste Weiterleitung an Herrn v. Knilling (Mittenwald ObBayern) sorgen wird.“ – Auf dem Schreiben an von Haniel, in dem von Rheinbaben bat, den Brief „so rasch als möglich“ weiterzuleiten, ist vermerkt, daß die Ausfertigung zum Zug um 21.40 Uhr gebracht worden sei (R 43 I/2218, Bl. 29).
[Betrifft: Politik der neuen Reichsregierung.]
Hochgeehrter Herr Ministerpräsident!
Nachdem der Herr Reichspräsident mich zum Reichskanzler ernannt hat, die Bildung des neuen Kabinetts erfolgt ist und dieses durch das Vertrauensvotum[34] des Reichstags die verfassungsmäßige Grundlage für die Fortsetzung seiner Geschäfte erhalten hat2, ist es mir ein Bedürfnis3, Ihnen gegenüber die Bitte auszusprechen, mich bei der Führung der Reichsgeschäfte gütigst unterstützen zu wollen. Die Entwicklung der politischen Verhältnisse hat sich hier in der letzten Zeit so überstürzt, daß die Entscheidung über die Bildung einer neuen Regierung in kürzester Zeit erfolgen mußte. Die Versuche der Parteien der Arbeitsgemeinschaft, den Herrn Reichskanzler Cuno zu bewegen, sein Amt weiterzuführen, wurden durchkreuzt durch den Beschluß der sozialdemokratischen Fraktion, der ein Mißtrauensvotum für das Kabinett Cuno ankündigte. Der Herr Reichskanzler Cuno glaubte gegenüber der Erschütterung, die dieses Mißtrauensvotum mit sich bringen würde, die Verantwortung für eine ruhige Entwicklung der Dinge nicht mehr übernehmen zu können4. Nach Lage der Dinge war ein Kabinett der großen Koalition der einzige Ausweg aus den hierdurch entstehenden Schwierigkeiten, da die Gegnerschaft gegen das Kabinett Cuno auch einzelne bürgerliche Parteien ergriffen hatte, wie der Aufsatz der „Germania“5 bewies6. In einer Besprechung der Parteien der Arbeitsgemeinschaft wurde von den Vorsitzenden aller Fraktionen, auch von dem anwesenden Vorsitzenden der Bayerischen Volkspartei7, zum Ausdruck gebracht, daß dem Herrn Reichspräsidenten bei Befragung meine Person als Reichskanzler in Vorschlag gebracht werden sollte. Der Herr Reichspräsident hat sodann nach Befragung der Parteien an mich die Aufforderung gerichtet, das Reichskanzleramt zu übernehmen. Ich habe geglaubt, mich angesichts der Schwere der Zeit dieser Aufgabe nicht entziehen zu sollen.
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Das Vertrauensvotum, eingebracht von Marx, Petersen, Wels, Scholz und Genossen, war am 14.8.23 mit 239 zu 76 Stimmen bei 25 Enthaltungen und 2 ungültigen Stimmen angenommen worden (RT-Bd. 361, S. 11873).
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Vgl. Dok. Nr. 6.
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S. Das Kabinett Cuno, Dok. Nr. 247–249. – Bei dem Verhalten der Sozialdemokraten ist – außer der kommunistischen Generalstreikagitation – zu berücksichtigen, daß bereits Anfang Juni der Fraktionsvorsitzende Hermann Müller-Franken mitgeteilt hatte: „Cuno möchte gern gehen!“ Der RK habe die Arbeitsgemeinschaft bereits gefragt, ob eine neue Regierung schnell zu bilden sei und wie die Sozialdemokratie stehe. Wegen der Vorbereitung der Reparationsnote vom 7.6.23 hatte damals die Arbeitsgemeinschaft abgewinkt (Arch.soz.Dem.: Fraktionssitzung vom 6.6.23; NL Giebel Mappe III, S. 236). Am 8.8.23 hatte Müller-Franken seine Fraktion unterrichtet: „Cuno sagte, er klebt nicht! Er sei, auch mit seinem Namen ‚abgeschrieben‘“ (Arch.soz.Dem.: NL Giebel, Mappe III, S. 239).
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Zum Angriff der „Germania“ auf das Kabinett Cuno, s. Anm. 1 zu Dok. Nr. 233 in: Das Kabinett Cuno. LegR von Brentano hatte dazu mitgeteilt, es habe sich nicht um einen parteioffiziösen Artikel gehandelt. In einer Sitzung mit Mitgliedern der Zentrumspartei und Parteibeamten und Vorsitz des Fraktionsführers Marx sei die Lage der Innen- und Außenpolitik „ziemlich einmütig“ wie in der „Germania“ beurteilt worden. „Insofern enthält der Artikel allerdings den Niederschlag der Auffassung, wie sie z. Zt. in maßgebenden Kreisen der Zentrums-Partei herrscht und nicht nur des linken Flügels der Partei; […]“ (28.7.23; Pol. Arch.: Referat Deutschland Po 5 (Parlaments- und Parteiwesen), Bd. 5).
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Danach gestrichen: „und da ich auch persönlich der Auffassung bin, daß eine ehrenvolle Beendigung des Ruhrkonfliktes gegen eine ausgesprochene Opposition der sozialdemokratischen Partei nicht möglich ist, so war eine andere politische Konstellation ausgeschlossen.“
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Gemeint ist entweder K. F. Speck, der Landesvorsitzende der BVP, oder J. Leicht, der Fraktionsvorsitzende der BVP im RT.
Die mir gestellten Aufgaben waren schon von dem früheren Reichskanzler, Herrn Cuno, in seinem Abschiedsgesuch dahin umschrieben, daß er durch seinen[35] Rücktritt die Möglichkeit schaffen wolle, ein Kabinett auf breiter parlamentarischer Basis zu bilden8. Ich mußte mich deshalb bei dieser Situation des Vertrauens der Parteien vergewissern, die mich selbst als Reichskanzler designiert hatten. Sie werden, Herr Ministerpräsident, wissen, wie ungewöhnlich schwer es ist, bei Bildung eines parlamentarischen Ministeriums die Ansprüche der einzelnen Parteien gegeneinander <abzuwägen und auszubalanzieren>9. Im letzten Augenblick drohte die Bildung des Kabinetts daran zu scheitern, daß die sozialdemokratische Fraktion ultimativ den Anspruch erhob, daß der bisherige Reichswehrminister Geßler nicht auf seinem Posten verbleiben dürfe. Ich habe dieses Begehren damit beantwortet, daß ich erklärte, unter keinen Umständen die Reichskanzlerschaft zu übernehmen, wenn irgend etwas in Bezug auf das Reichswehrministerium geändert und dadurch das Vertrauen der Reichswehr auf die Reichsregierung etwa erschüttert werden könnte. In dem harten Kampf, der hierum geführt wurde, hat die sozialdemokratische Fraktion nachgegeben. Angesichts ihrer großen Stärke im Reichstag erhob sie den Anspruch auf das Innenministerium des Reiches, und ich konnte mich, wenn die Regierungsbildung nicht scheitern sollte, diesem Wunsche nicht versagen, glaube aber durch die Wahl des Herrn Minister Sollmann die Versicherung abgeben zu können, daß das Reichsministerium des Innern im engen Zusammenhange mit dem Reichswehrministerium arbeiten und eine Politik führen wird, die eingegeben ist von dem Gedanken der unbedingten Aufrechterhaltung der Ordnung im Innern10.
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S. Anm. 7 zu Dok. Nr. 248 in: „Das Kabinett Cuno“.
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In der Ausfertigung: „auszubalanzieren“.
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Von der SPD-Fraktion war als Forderung am 13.8.23 beschlossen worden: „a) Innen, Finanzen, Arbeit u. Justiz; b) Geßler zurücktreten. Min. ohne Portefeuille. Braun Vizekanzler.“ In der Abendsitzung der Fraktion war ausgeführt worden, daß alle anderen Koalitionspartner die Demission Geßlers „im Augenblick“ für unmöglich halten würden. „Auch O. Braun + Severing erklären das [!] ungeeigneter Moment“ (Arch.soz.Dem.: NL Giebel, Mappe III, S. 243). In den Auszügen des Generalleutnants Lieber aus dem Hasse-Tagebuch (s. dazu die Erläuterung zum Anhang Nr. 1) wird ausgeführt: „Es entsteht die Frage, ob wegen der Kabinettskrise Seeckt vom Urlaub aus Borkum zurückgerufen werden soll. Hasse ist schließlich froh, es nicht getan zu haben, weil nach der Bildung des Kabinetts Stresemann behauptet wird, die Reichswehr habe Geßlers Verbleiben veranlaßt. […] Tatsächlich war Geßler von den Linksparteien scharf angegriffen worden, schließlich aber geblieben, ohne daß Stresemann ihn überhaupt gefragt hatte. In dem neuen Kabinett Stresemann übernimmt der Sozialdemokrat Hilferding die Finanzen, Sollmann das Innere. Hasse erwartet in beiden Personen Schwierigkeiten für die Pläne der Heeresleitung“ (BA-MA: NL von Rabenau 40, Bl. 14).
Die Erklärung, mit der das neue Kabinett vor den Reichstag getreten ist, ist nach meinen Vorschlägen von dem Reichskabinett in allen Einzelheiten gebilligt worden11. Ich hoffe, daß diese Erklärung eine Grundlage bilden wird, auf der alle Parteien im Reich, die auf dem Boden der Staatsbejahung stehen, mitarbeiten können, auch diejenigen, die in der Regierung selbst nicht vertreten sind12. Die Not der Zeit muß uns dazu führen, diese Parteigegensätze zurückzustellen gegenüber der Notwendigkeit des Einsatzes aller Kräfte, der nach außen und innen niemals notwendiger war, als jetzt.
Ich habe Grund anzunehmen, daß die außenpolitische Lage einigermaßen entspannt ist. Die englische Politik drängt aus dem eigenen englischen Interesse[36] heraus auf eine Lösung des Ruhrkonflikts13. In Frankreich scheinen die Strömungen zu wachsen, die einsehen, daß der Einbruch ins Ruhrgebiet für Frankreich ein schlechtes Geschäft gewesen ist und in seiner Weiterentwicklung Gefahren für Frankreich mit sich bringt, denen es trotz seiner überlegenen militärischen Lage auf die Dauer nicht gewachsen ist. Den Sirenenklängen14 der französischen Politik gegenüber, die zum Teil unmittelbar auf mich einzuwirken versuchte, auf <eine deutsch-französische Verständigung>15 in der Regierungserklärung einzugehen, habe ich mich ablehnend verhalten, da ich der Meinung bin, daß es völlig falsch wäre, den bisherigen Kurs der Politik etwa dahin abzuändern, daß wir durch direkte Verhandlungen mit Frankreich uns der Möglichkeit einer englischen Unterstützung begeben und dann Frankreich allein verhältnismäßig ohnmächtig gegenüberständen16. Die Lösung des Ruhrkonfliktes kann meiner Auffassung nach in ehrenvoller Weise nur erfolgen, wenn unter starker Berücksichtigung der englischen und italienischen Interessen, die mit den französischen nicht übereinstimmen, Deutschland die Möglichkeit gegeben wird17, seinerseits seine Lebensinteressen gegenüber der gesamten Entente zu wahren.
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Zur engl. Deutschlandpolitik s. die Unterredung Stresemanns mit Botschafter D’Abernon, Dok. Nr. 8 sowie Dok. Nr. 18.
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Unter der Überschrift „Sirenenklänge aus Paris“ hatte die Stresemann nahestehende „Zeit“, Nr. 186 vom 15.8.23, sich mit positiven frz. Kommentaren zur Bildung des Kabinetts auseinandergesetzt.
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Handschriftlich von Stresemann in den Entwurf eingefügt.
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Vgl. hierzu auch die Unterredung Stresemanns mit Botschafter de Margerie in Dok. Nr. 8.
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Danach zunächst: „seinerseits seinen Lebensinteressen gegenüber die gesamte Vereinigung der Entente zu wahren“.
Ich habe mit großer Genugtuung gelesen, daß die „Bayerische Staatszeitung“ die Erklärung der Regierung in einem Sinne gewürdigt hat, der vollkommen meiner Auffassung entspricht. Außerordentlichen Wert würde ich darauf legen, mich mit Ihnen, Herr Ministerpräsident, sobald die Gelegenheit es gestattet, persönlich über die gesamte Lage aussprechen zu können18. Ich lege entscheidendes Gewicht darauf, daß in den kommenden politischen Entwicklungen die Reichsregierung und die Bayerische Regierung möglichst konform gehen, wie es überhaupt mein Bestreben sein wird, in dem Verhältnis zwischen Reich und Ländern alle Konfliktstoffe, die etwa entstehen, auszugleichen und berechtigten Ansprüchen der Länder auf freie Bewegung innerhalb der Reichsverfassung zu entsprechen.
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Danach gestrichen: „Seitens der Sächsischen Regierung ist der Antrag gestellt worden, einen Reichsratsausschuß für auswärtige Angelegenheiten einzuberufen, um die Frage der Stellung des Reiches zum Völkerbund und die Stellung zur Lösung der Reparationsfrage zu besprechen.“
Ich bitte Sie, Herr Ministerpräsident, diesen Brief, den ich an Sie persönlich richte, so aufzunehmen, wie er gemeint ist, als den Ausdruck der Hoffnung auf ein von Vertrauen getragenes Zusammenarbeiten in der vor uns liegenden, an großen Problemen reichen Zeit. Wie ich Sie bitte, meines vollen Vertrauens an die Leitung der bayerischen Politik überzeugt zu sein, so würde ich dankbar[37] empfinden, wenn Sie mir selbst dieses19 Vertrauen entgegenbringen und mich in meiner schweren Aufgabe unterstützen würden20.
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In der Ausfertigung stattdessen: „gleiches“.
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Zur Situation der bayer. Reg. schrieb der Vertreter der RReg. in München von Haniel, nachdem die sozialdemokratische „Münchener Post“ einen offiziösen Artikel der „Münchner Neuesten Nachrichten“ über das Bedauern der bayer. Staatsreg. wegen des Rücktritts Cunos und deren Mißtrauen gegenüber dem linksorientierten Kabinett Stresemann scharf kritisiert und darin ein Rückweichen vor rechtsradikalen Vorstellungen gesehen hatte, die bayer. Regierung sei von der BVP als stärkster und einzig sicherer Stütze abhängig. Von links werde sie heftig angegriffen. „Andererseits lauert die Rechte nur darauf, daß die Regierung sich Blößen gibt, die zu ihrem Sturz ausgenutzt werden können. Allerdings ist nicht abzusehen, wie diese letzteren Elemente vor allem also die Vaterländischen Verbände, die Herrn von Kahr als den zukünftigen Mussolini Deutschlands betrachten, ohne die Bayerische Volkspartei im jetzigen Landtag eine regierungsfähige Majorität zustande bringen wollen“ (22.8.23; R 43 I/2233, Bl. 99/100).
Indem ich die Gelegenheit ergreife, Ihnen, Herr Ministerpräsident, die Versicherung meiner Hochschätzung zu übermitteln, bin ich
Ihr
Ihnen sehr ergebener