2.113 (str1p): Nr. 113 Aufzeichnung über die Besprechung der Führer der Koalitionsparteien beim Reichskanzler vom 5. Oktober 1923

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Nr. 113
Aufzeichnung über die Besprechung der Führer der Koalitionsparteien beim Reichskanzler vom 5. Oktober 19231

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Nach der Demission des ersten Kabinetts Stresemann (s. Dok. Nr. 106) waren alsbald Versuche unternommen worden, die bisherige Koalition unter Stresemann neu zu beleben. Vor seiner Fraktion hatte der Vorsitzende der SPD Hermann Müller am 4.10.23 mitgeteilt, es sei immer noch alles unklar. „Zusammenlegung von Ministerien, aber alles Vermutungen. – Ztr. + Dem.: starke Strömungen für Wiederherstellung der großen Koalition. Marx trat dafür an Müller heran; ging dafür auch zum Reichspräs. Müller: solange zwecklos, wie D.-V. ihre Haltung beibehält. Kabinett der Mitte: Dtn. haben sich noch nicht klar gemacht“ (Arch. soz. Dem.: NL Giebel , Kass. II, Mappe III, Bl. 250). Am folgenden Tag teilte Müller seiner Fraktion mit, daß er am Vorabend mit Stresemann Rücksprache genommen habe. „Kein Zweifel gelassen, daß wir kein Vertrauensvotum. Keine Ermächtigung, weil wir nicht vertreten sind. – Gesamtlage evtl. kleine Koalition, aber taktisch richtiger, die große Koalition zu bilden. Rechtsregierung bilden? Ztr. + Dem. könnten damit nicht mitmachen.“ Der RPräs. könne den RT nicht auflösen. Das würde bedeuten: „Auflösung des Reiches. Separationsstimmung im Rl. wächst. Das löst die Stimmung aus: Diktatur einzige Rettung“ [ibid., Bl. 251/252]. Vor der Besprechung beim Reichskanzler unterrichtete Hermann Müller schließlich seine Fraktion über eine Unterredung der Fraktionsführer mit Brauns: „Br. sei nie gegen gesetzl. Regelung der Arb.zeit gewesen. Aber die Einzelheiten müßten im Rahmen der Vorschläge. Ziel sei, Verbilligung der Produktion, um auf Weltmarkt konkurrenzfähig. – Gesetz soll zulassen, daß in einzelnen Betrieben über 8 Std. hinaus gearbeitet werden könne. Wir möchten doch prüfen, ob nicht doch Ermächtigung“ (ibid., Bl. 253). Aus den Aufzeichnungen des Zentrumsabgeordneten ten Hompel geht hervor, daß die Sozialdemokraten in der Frage der Arbeitszeit auf der Formulierung der dt. Note an die Alliierten vom 14.11.22 (s. Anm. 9 zu Dok. Nr. 102) beharrten, die DDP und DVP unzureichend erschien. Müller hatte sich gewundert, daß nach den bisherigen Gesprächen die bürgerlichen Parteien kein größeres Entgegenkommen bewiesen. Schließlich unternahmen „prominente Mitglieder der großen Koalitionsparteien des sozialpolitischen Ausschusses in Verbindung mit den Fraktionsführern unter Leitung des Reichskanzlers den Versuch […], die wichtigsten Bestimmungen des Arbeitszeitgesetzes mit den Sozialdemokraten so festzulegen, daß eine glatte Annahme dieses Gesetzes in den nächsten Tagen sichergestellt sei.“ Die Beratungen hätten bis zum 6.10.23 morgens 3 Uhr gedauert (BA: NL ten Hompel 15).

Pol. Arch.: NL Stresemann 261

In der heutigen Besprechung der Führer der Koalitionsparteien beim Reichskanzler, an der von der Deutschen Volkspartei der Abgeordnete Scholz, von der Demokratischen Partei die Abgeordneten Petersen und Koch, vom Zentrum der Abgeordnete Marx und von der Sozialdemokratie der Abgeordnete Hermann Müller teilnahmen, wurde in Gegenwart der Abgeordneten Fischer, Erkelenz, Andre, Wissell, Dr. Hugo und Dr. Albrecht festgestellt, daß die in der Anlage niedergelegten Grundsätze für die Behandlung des Arbeitszeitgesetzes[485] maßgebend sein sollten für die Erledigung dieses Gesetzes im Reichstag2. Auf die Frage des Reichskanzlers, ob unter den Fraktionen Übereinstimmung darüber bestehe, daß bei gesetzlicher Regelung der Arbeitszeit ausgegangen werden müsse von dem 8-Stundentag im Bergbau (einschließlich Ein- und Ausfahrt), wurde einmütig betont, daß, falls im Bergbau nicht alsbald tarifliche Vereinbarungen hierüber erfolgten, die gesetzliche Regelung auf dieser Grundlage zu erfolgen habe3.

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Als Kompromißformel trug Marx der Zentrumsfraktion am 6.10.23, 11 Uhr vor: „Die schwere Not unseres Landes läßt eine Steigerung der Gütererzeugung dringend geboten erscheinen. Das wird nur unter restloser Ausnutzung der technischen Errungenschaften bei organisatorischer Verbesserung unserer Wirtschaft und emsiger Arbeit jedes einzelnen zu erreichen sein. Neben der Produktionssteigerung durch dieses Mittel wird auch die Neuregelung der Arbeitszeitgesetze unter grundsätzlicher Festhaltung des Achtstundentages als Normalarbeitstag nicht zu umgehen sein. Dabei ist auch die Möglichkeit der tariflichen oder gesetzlichen Überschreitung der jetzigen Arbeitszeit im Interesse einer volkswirtschaftlich notwendigen Steigerung und Verbilligung der Produktion vorzusehen. Für die öffentliche Verwaltung ist eine ähnliche Regelung vorgesehen“ (BA: NL ten Hompel  15).

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Hierüber und über die nachfolgende Fraktionssitzung des Zentrums geht aus den Aufzeichnungen ten Hompels hervor, daß als eigentlicher Verhandlungsführer seiner Partei Andre berichtet habe: „Am Normalarbeitstage würde zwar grundsätzlich festgehalten, man habe diese Konzession den Sozialdemokraten machen müssen. Die Sozialdemokraten hätten mit Rücksicht auf die herrschende und noch zunehmende Arbeitslosigkeit die größten Bedenken gehabt, den Achtstundentag zu durchbrechen und praktisch zum großen Teil aufzuheben. Er habe ihnen klar gemacht, daß nur durch längere Arbeit die Rentabilität der Betriebe und damit die Wiederaufnahme der Arbeit zu erreichen sei. Im Bergbau seien die Sozialdemokraten mit der Achtstundenschicht einschließlich Ein- und Ausfahrt einverstanden, also mit dem Zustand, wie er vor dem Kriege war. Insbesondere sei darum gekämpft worden, ob neben der tariflichen Überarbeit auch durch gesetzliche Bestimmungen eine solche herbeigeführt werden könne. Die Sozialdemokraten haben es ausschließlich auf tariflichem Wege zulassen wollen. Auch bezüglich der Zuschläge zu der über acht Stunden hinausgehenden Arbeitszeit seien schwere Meinungsverschiedenheiten vorhanden gewesen. Man habe seitens der Sozialdemokratie diese Zeit als Überstunden im bisherigen Sinne mit Zuschlägen belasten wollen. Dieses sei von den bürgerlichen Parteien abgelehnt, weil damit praktisch eine verlängerte Arbeitszeit wieder aufgehoben sei, vor allen Dingen aber eine Verbilligung der Produktion nicht erreicht würde. Zwei von den Sozialdemokraten hätten schließlich dieser Auffassung zugeneigt. Wissell habe jedoch seine Auffassung aufrecht erhalten und habe den Standpunkt vertreten, daß Zuschläge zum wenigsten im Wege der Tarifverhandlungen festgelegt werden ‚könnten‘. Über diesen Punkt sei eine volle Einigung also nicht erzielt worden. Nach seiner Meinung würde dieses im Wege der Tarifverhandlung, eventuell des Kampfes ausgefochten werden müssen. Die Demobilmachungsverordnungen fielen selbstverständlich unter das Ermächtigungsgesetz, ebenso die Bestimmungen des Betriebsrätegesetzes, die die Faulenzer und Krakehler jetzt gegen Entlassung schützten. In diesem Falle solle eine Mitwirkung des Betriebsrates bei der Entlassung ausgeschaltet werden. Bezüglich der Wohnungsfragen habe Übereinstimmung geherrscht, daß diese als wirtschaftliche Fragen anzusehen seien und damit unter das Ermächtigungsgesetz fielen. – Bezüglich der sozialen Fürsorge hat nach Ansicht von Marx und Andre Einigkeit darüber bestanden, daß diese nicht unter das Ermächtigungsgesetz fallen sollten. Nach einem telefonischen Anruf des Ministers Brauns beim Präsidenten Marx am Morgen des 6. Oktober schien es allerdings, als wenn Brauns in diesem Punkte eine andere Auffassung habe. Er will gewisse Dinge, zwar nicht grundsätzlicher Art, aber zur Vereinfachung des Verfahrens und zur Erledigung von Nebensächlichkeiten im Wege des Ermächtigungsgesetzes regeln können.“ Marx und Fraktion stellten sich jedoch in aller Form auf die Kompromißformel (s. o. Anm. 2), die in der Nacht gefunden worden war (BA: NL ten Hompel  15). – Vor der SPD-Fraktion legte am 6.10.23 deren Vorsitzender Müller dar: „Absicht, für Bergbau 8 Stundentag unter Tage. Unser Nein verhindert eine Regierung, dann Arb. viel schwerer zu leiden. – Die jetzige Wirtschaftslage verhindert jede Hoffnung auf Besserung der Arb.-Lage! – Wir müssen also der Arbeit.schaft [!] durch ja. – Offensive: Geist Ludendorffs im Frühjahr 1918. – Ermächtigung bedeutet zwar ein Stück Diktatur: aber statt dieser legalen Diktatur käme die der Gewalt! Unternehmer sind stark genug, auch ohne Rechte den 8 Stundentag aufzuheben“ (Arch. soz. Dem.: NL Giebel, Kass. II, Mappe III, Bl. 254).

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