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Nr. 21
Denkschrift über Anstände gegen das Verhalten der bayerischen Regierung und über Meinungsverschiedenheiten zwischen der Reichsregierung und der bayerischen Regierung. [24. August 1923]1
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In einem undatierten Begleitschrieben bat der RIM den RK, der am 24.8.23 nach München reiste, die Denkschrift „bei der Besprechung mit dem bayerischen Herrn Ministerpräsidenten als Material“ zu verwenden. Handschriftlich fügte Sollmann hinzu: „Die Schrift mußte in großer Eile angefertigt werden“ (R 43 I/2218, Bl. 49). Vgl. hierzu auch Anm. 3 zu Dok. Nr. 25.
I.
Die bayerische Regierung zeigt das Bestreben, sich dem in Artikel 15 RV festgelegten Aufsichtsrecht der Reichsregierung nach Möglichkeit zu entziehen. Sie befolgt dabei die Taktik des passiven Widerstandes, indem sie nunmehr bereits seit Jahresfrist auf zahlreiche Rückfragen der Reichsregierung entweder überhaupt nicht oder erst dann antwortet, wenn die betreffenden Beschwerdepunkte nicht mehr aktuell sind.
In diesem Zusammenhang ist insbesondere auf folgende Fälle hinzuweisen:
1. | Mit Schreiben vom 28. Februar 1923 […] ist an das Bayerische Staatsministerium des Innern eine Anfrage wegen des Bundes „Blücher“ gerichtet worden. Es ist bestimmtes Material übersandt und um Prüfung desselben gebeten worden. Später, nachdem bekannt geworden war, daß Angehörige des Bundes „Blücher“ in die Landesverratssache Fuchs-Machaus2 verwickelt sind, ist auch dies und zwar am 28. April 1923, mitgeteilt und nunmehr um baldige Stellungnahme gebeten worden. Am 28. Mai [88] wurde an die Erledigung beider Schreiben nochmals erinnert. Bis heute hat der Herr Bayerische Minister des Innern es nicht für nötig erachtet, den Reichsminister des Innern mit einer Antwort oder auch nur einem Zwischenbescheid zu beehren3. |
2. | Mit Schreiben vom 15. Mai 1923 […] ist auf Grund aufsehenerregender Nachrichten über umfassende militärische Vorbereitungen der Nationalsozialisten um Aufklärung über diese Vorgänge gebeten worden. Mit Schreiben vom 7. Juni und sodann mit Schreiben vom 3. Juli ist an die Beantwortung der Anfrage erinnert. Eine Antwort ist bis heute nicht eingegangen4. |
3. | Mit Schreiben vom 29. März 1923 […] ist zwecks Beantwortung einer Note der Interalliierten Kontrollkommission das Bayerische Ministerium des Innern um Mitteilung der Vorschriften ersucht worden, die für die Ablieferung und Zerstörung aufgefundener Waffen in Bayern in Geltung sind. Mit Schreiben vom 12. April […] hat der Herr Bayerische Staatsminister des Innern lediglich mitgeteilt, daß er „besondere Vorschriften über die Ablieferung und Zerstörung aufgefundener Waffen nicht erlassen habe“. Daraufhin ist mit Schreiben vom 25. Mai […] darauf hingewiesen worden, daß doch auf Grund der beiden Erlasse des Reichsministers des Innern vom 1. Juli 1921 […] und vom 24. August 1921 […] den bayerischen Polizeibehörden Anweisung wegen der Erfassung überzähliger entdeckter Waffen erteilt sein müßte. Es ist in diesem Schreiben unter Bezugnahme auf die Dringlichkeit der Beantwortung der Note der Interalliierten Kontrollkommission nochmals um Mitteilung dieser Dienstanweisung gebeten. Am 3. Juli 1923 und ferner am 2. August ist nochmals dringend an die Erledigung dieser Bitte erinnert worden. Eine Antwort ist nicht eingegangen. Dagegen haben sämtliche anderen deutschen Landesregierungen selbstverständlich auch diese Anfrage längst beantwortet5. |
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S. dazu Das Kabinett Cuno, Dok. Nr. 202.
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Zur Behandlung der Selbstschutzorganisationen in Bayern in der Amtszeit Cunos s. Das Kabinett Cuno, Dok. Nr. 202.
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Für die Ereignisse um den 1.5.23, d. h. den Aufmarsch auf dem Oberwiesenfeld, s. E. Deuerlein, Der Hitlerputsch, S. 57 ff.; H. H. Hofmann, Der Hitlerputsch, S. 70 ff.; H. J. Gordon jr., Hitlerputsch 1923, S. 175 ff.; vgl. auch das Kabinett Cuno, Dok. Nr. 158.
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Zur Arbeit der Interalliierten Militärkontrollkommission s. M. Salewski, Entwaffnung und Militärkontrolle in Deutschland 1919–1927.
II.
Auf Grund einer von der Regierung Hoffmann erlassenen Ausnahmeverordnung sind in Bayern noch heute die „Volksgerichte“ in Tätigkeit6. Eine reichsrechtliche Grundlage haben sie in Artikel 178 Abs. 3 RV, wonach Anordnungen der Behörden, die auf Grund bisheriger Gesetze in rechtsgültiger Weise getroffen waren, auch über den Zeitpunkt des Inkrafttretens der neuen Reichsverfassung hinaus in Geltung bleiben. Es wird sich sonach gegen die rechtliche Zulässigkeit der „Volksgerichte“ für die Zeit unmittelbar nach Inkrafttreten der Reichsverfassung nichts einwenden lassen, doch ist darauf hinzuweisen,[89] daß der fragliche Artikel der Reichsverfassung zu den Übergangs- und Schlußbestimmungen gehört. Eine derartige Übergangsbestimmung rechtfertigt nicht die Einführung von Einrichtungen, die nunmehr als drei Jahre in Bayern bestehen. Die bayerischen „Volksgerichte“ können jetzt auf eine solche Übergangsbestimmung nicht mehr begründet werden, sondern sind nunmehr als der verfassungsmäßigen Grundlage entbehrend zu betrachten. Auf die starken prozessualen Bedenken, die gegen die Einrichtung der „Volksgerichte“ insbesondere insofern bestehen, als weder die Zustellung einer schriftlichen Anklage vorgeschrieben noch ein Rechtsmittel gegen die Entscheidungen der „Volksgerichte“ gegeben ist, sei hier nur beiläufig hingewiesen; ebenso auf die Bedenken, die dagegen bestehen, daß Hoch- und Landesverrat nunmehr in Bayern seit drei Jahren nicht mehr vom Reichsgericht, sondern von den bayerischen „Volksgerichten“ und zwar in einer der Rechtsauffassung des Reichsgerichts nicht entsprechenden Weise abgeurteilt werden, was die Rechtseinheit des Reichs auf das Schwerste gefährdet.
III.
Schwerwiegende Differenzen bestehen zwischen der Reichsregierung und der bayerischen Regierung über die Auslegung und Anwendung des Artikels 48 RV und insbesondere des dritten Absatzes des Artikels. Dieser Absatz, der das Recht der Landesregierung enthält, bei Gefahr im Verzuge einstweilige Maßnahmen zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung selbständig zu treffen, ist vom Ausschuß der Nationalversammlung in den Verfassungsentwurf, der eine solche Ermächtigung der Landesregierungen nicht vorsah, hineingebracht worden mit Rücksicht auf die damaligen äußerst unruhigen Zeitverhältnisse mit der Begründung, daß bis zum Eingreifen des Reichspräsidenten den Landeszentralbehörden die Möglichkeit gegeben werden müsse, die ersten Anordnungen namens des Reichs selbständig zu treffen. Diese Vollmacht der Landesregierungen ist diesen zwar unmittelbar durch die Verfassung gegeben, so daß es keine eigentliche Untervollmacht des Reichspräsidenten ist; jedoch ergibt sich aus Wortlaut und Entstehungsgeschichte, daß es sich hier lediglich um vorläufige Maßnahmen im Sinne des am sofortigen Eingreifen verhinderten Reichsoberhaupts handeln sollte, um zu verhüten, daß durch eine Verzögerung des Eingreifens des Reichspräsidenten unwiederbringlicher Schaden entsteht.
Die bayerische Regierung nimmt hierauf nicht die geringste Rücksicht. Sie behauptet, daß es sich hier um eine selbständige Vollmacht der Länder handelt, die mit der dem Reichspräsidenten gegebenen Vollmacht in keinerlei Zusammenhang steht. Sie erläßt auf Grund von Artikel 48 Anordnungen, die, wie bekannt ist, weder den Absichten des Reichspräsidenten noch denen der Reichsregierung entsprechen. Die bayerische Regierung mißbraucht also eine ihr von den gesetzgebenden Faktoren des Reichs durch die Reichsverfassung gewährte Vollmacht dazu, um gegen das Reich Politik zu machen.
[90] IV.
Über die Anwendung des Schutzgesetzes7 ist im August 1922 zwischen der Reichsregierung und der bayerischen Regierung auf Grund langwieriger Verhandlungen ein Abkommen geschlossen worden, das vom Reiche trotz schwerwiegender Bedenken im einzelnen durchweg gehalten worden ist. Auch bayerischerseits sind keine Beschwerden geltend gemacht, wonach das Reich das Abkommen nicht gehalten hätte. Anders Bayern. Bayern betrachtet dieses Abkommen, das die Anerkennung und Durchführung des Schutzgesetzes gegen die Gewährung gewisser Milderungen seitens des Reichs zum Gegenstand hat, rein einseitig. Die Durchführung der Zusagen des Reichs beansprucht Bayern; die Durchführung des Schutzgesetzes lehnt es in konsequenter Praxis ab.
Es sei in diesem Zusammenhang besonders erinnert an die den Bestimmungen des Schutzgesetzes zuwiderlaufende revolutionäre Tätigkeit der nationalsozialistischen Sturmtrupps in Bayern und der gesamten Hitler-Bewegung8. Der Staatsgerichtshof zum Schutze der Republik hat anläßlich der Entscheidung über das Verbot der Nationalsozialistischen deutschen Arbeiterpartei in Preußen Gelegenheit genommen, sich auch mit der im engsten Zusammenhang damit stehenden Hitler-Bewegung und den nationalsoz. Sturmtrupps zu befassen. Er hat in dieser Erkenntnis ausgeführt, daß die Hitler-Partei und insbesondere ihre Sturmtrupps als staatsfeindliche Verbindung anzusehen sei, die die Bestrebung verfolge, die verfassungsmäßig festgestellte republikanische Staatsform zu untergraben. Obwohl hiernach sowohl eine strafbare Handlung im Sinne des § 7 Ziff. 4 des Schutzgesetzes als auch die Möglichkeit für die bayerische Regierung vorlag, die Sturmtrupps wie auch sämtliche Versammlungen, Aufzüge und Kundgebungen der Hitler-Partei auf Grund von § 14 des Schutzgesetzes zu verbieten, und obwohl der Herr Bayerische Minister des Innern hierauf durch Schreiben des Reichsministers des Innern, mit welchem das Urteil übersandt wurde, besonders hingewiesen worden ist, hat die bayerische Regierung auf Grund des Schutzgesetzes keinerlei Maßnahmen ergriffen.
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Vgl. o. Anm. 4.
Als besonders peinlich für das Ansehen des Reichs muß auch empfunden werden, daß Strafverfolgungen auf Grund des Schutzgesetzes in Bayern einfach nicht durchführbar sind. Haftbefehle – es sei nur erinnert an die Haftbefehle, welche gegen die Redakteure des „Miesbacher Anzeigers“ Martin Weger und Dietrich Eckardt erlassen worden sind – werden von den bayerischen Behörden nicht vollstreckt. Auch der vom Staatsgerichtshof zu längerer Gefängnisstrafe verurteilte Redakteur des „Staßfurter Tageblatts“ Hottenrott konnte sich nach Bad Tölz in Bayern flüchten. Bayern ist geradezu ein Asyl für Staatsverbrecher geworden.
V.
In engem Zusammenhang mit der Tätigkeit der nationalsozialistischen Sturmtrupps in Bayern steht auch die Tätigkeit einer Reihe von anderen Organisationen,[91] die der Organisation „C“, des „Wikingerbundes“, des „Blücherbundes“ und insbesondere der „Reichsflagge“9. Die „Reichsflagge“ ist nichts anderes als eine militärisch organisierte und bewaffnete Truppe mit republikfeindlichen Zielen. Sie übt, ebenso wie die nationalsozialistischen Sturmtrupps, in Bayern unter den Augen der Behörden einen Terror aus, der mit den Gedanken des Rechts- und Ordnungsstaates nicht vereinbar ist. Als Einzelfall sei erinnert an den Vorfall in Feucht, wo eine Versammlung der Mehrheitssozialdemokraten von der „Reichsflagge“ gewaltsam, besonders durch Abgabe scharfer Schüsse in die Fenster des Versammlungsraumes gesprengt wurde mit dem Ergebnis, daß die bayerische Landespolizei nicht etwa den ungestörten Verlauf dieser Versammlung sicherstellte, sondern sie auflöste.
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S. o. Anm. 3.
VI.
Einen breiten Raum nimmt auch der Schriftwechsel zwischen der Reichsregierung und der bayerischen Regierung über die Sammlung und Verwertung von Nachrichten über bayerische Verhältnisse durch die Reichsstellen ein10. Ein Schreiben des bayerischen Gesandten von Preger in Berlin versteigt sich zu dem Ausdruck, daß eine eigene Nachrichtentätigkeit des Reichs in Bayern als „Bespitzelung“ bezeichnet werden müsse. Das Eintreten für den Reichsgedanken in Bayern, insbesondere aber die unmittelbare Weitergabe von Nachrichten an Reichsstellen wird von der Bayerischen Regierung wie Hochverrat behandelt. Der Oberbürgermeister Luppe in Nürnberg, welcher den früheren bayerischen Minister und damaligen Staatssekretär Hamm darauf aufmerksam machte, daß im Falle eines Sturzes der Bayerischen Regierung durch die Nationalsozialisten die Entsendung von Reichswehr nach Nürnberg erforderlich werden könnte, ist wegen dieser Handlung, die lediglich in Wahrnehmung der Interessen sowohl Bayerns wie des Reichs erfolgte, von der Bayerischen Regierung disziplinarisch zur Verantwortung gezogen worden.
VII.
Im ganzen zeigt sich auf sämtlichen Gebieten das Bestreben der Bayerischen Regierung, die Reichsverfassung nicht loyal zur Durchführung zu bringen, sondern sie nach Möglichkeit zu Gunsten bayerischer Sonderwünsche zu vergewaltigen. In diesem Zusammenhang sei das Bestreben Bayerns erwähnt, seine Finanzhoheit wieder zu erlangen und den gesamten Landesfinanzapparat, noch dazu hinsichtlich der Personalkosten zu ¾ zu Lasten des Reichs, wieder einzurichten11. In jüngster Zeit kommt hinzu die selbständige Ausgabe von Banknoten durch die Bayerische Staatsbank mit Genehmigung der Bayerischen Regierung entgegen der Reichsverfassung und den Reichsgesetzen. Die Bestrebungen, die auf eine Wiedererlangung der bayerischen Eisenbahnhoheit gerichtet sind, seien nur andeutungsweise erwähnt; ebenso der Widerspruch Bayerns gegen den Erlaß eines Reichsausweisungsgesetzes unter Übernahme der Durchführung[92] der zwischen dem Deutschen Reich und dem Auslande abgeschlossenen Auslieferungsverträge auf das Reich. Die Bayerische Gesandtschaft in Berlin hat namens der Bayerischen Regierung bei der Beratung dieses Gesetzes Forderungen gestellt, die auf eine Wiedereinführung der vor 1871 bestandenen Dezentralisierung gerichtet sind und auch den Zustand nicht anerkennen wollen, der von 1871–1918 im deutschen Kaiserreich bestanden hat. Im ganzen ist zu bemerken, daß diese auf fast allen Gebieten wahrnehmbaren und mit zäher Energie und Ausdauer verfolgten Bestrebungen schließlich zur Zertrümmerung der Reichseinheit führen müssen und schon jetzt die Tätigkeit der Reichsregierung, insbesondere auch gegenüber anderen Ländern, lähmend beeinflussen.
VIII.
Auch in der Frage der Gewährleistung der durch die Reichsverfassung den einzelnen Staatsbürgern garantierten freiheitlichen Grundrechte schweben zwischen der Reichs- und der bayerischen Regierung ernste Meinungsverschiedenheiten. Art. 118 der Reichsverfassung, der die Zensur abschafft, wird von der Bayerischen Regierung nicht ausreichend beachtet; insbesondere will sich die Bayerische Regierung nicht damit abfinden, daß auch die Plakatzensur mit der Reichsverfassung nicht mehr vereinbar ist und daß sie auch auf Umwegen nicht wieder eingeführt werden darf. Die Bayer. Regierung geht sogar soweit, zu verlangen, daß öffentliche Kundgebungen der Reichsregierung an die Bevölkerung des Deutschen Reichs in Bayern nur dann angeschlagen werden dürfen, wenn sie zuvor von der Bayerischen Regierung genehmigt worden sind.
Die gleichen Beschwerden sind hinsichtlich der Anwendung des Versammlungsrechts zu erheben. Der Art. 123 der Reichsverfassung wird von den bayerischen Behörden vielfach nicht beachtet. Erst in den letzten Tagen ist eine kommunistische Versammlung des Reichstagsabgeordneten Thomas mit der Begründung verboten worden, daß kommunistische Versammlungen die öffentliche Sicherheit und Ordnung stören und deshalb auf Grund des bayerischen Ausführungsgesetzes zur Strafprozeßordnung verboten werden müßten. Daß dieses Ausführungsgesetz nur noch insoweit in Geltung ist, als es der Reichsverfassung und insbesondere dem Art. 123 nicht zuwiderläuft, scheint den bayerischen Polizeibehörden seitens der Bayerischen Regierung nicht bekannt gegeben worden zu sein.
Auch der Art. 109 Abs. 4 der Reichsverfassung, der die Verleihung von Titeln nur als Amts- oder Berufsbezeichnung gestattet, wird von der Bayerischen Regierung unbeachtet gelassen. Bayern verleiht auch jetzt noch lediglich als Alterstitel den Geheimen Justizrat und den Geheimen Sanitätsrat. Dies hat bereits dazu geführt, daß die Lippische Regierung an die Reichsregierung die Anfrage gerichtet hat, ob die Bestimmungen der Reichsverfassung nur für die kleinen Länder und nicht für die großen Geltung hätten12.