Text
Nr. 93
Staatssekretär von Haniel an Staatssekretär von Rheinbaben. München, 29. September 1923
[Betrifft: Ausnahmezustand in Bayern.]
Vertraulich!
Lieber Herr von Rheinbaben!
Der Herr Reichskanzler telephonierte mich gestern abend gegen 11 Uhr an wegen der Meldung der Telegraphen-Union, wonach innerhalb der Reichsregierung die Absicht bestehe, die bayerische Regierung zu veranlassen, den bayerischen Ausnahmezustand zurückzunehmen1. Der Herr Reichskanzler erklärte mir, daß er beabsichtige, die Veröffentlichung dieser Meldung in Berlin zu verhindern und beauftragte mich, tunlichst das Gleiche hier zu veranlassen. Ich habe mich sofort mit dem Ministerium des Äußern in Verbindung gesetzt. Man versprach mir, dort auch alles, was noch möglich sei, zu tun.
Wie aus dem beifolgenden Ausschnitt der „Münchener Neuesten Nachrichten“ hervorgeht2, hat sich eine Veröffentlichung der Meldung nicht mehr vermeiden lassen, jedoch ist anscheinend auf Veranlassung des hiesigen Ministeriums des Äußern die Meldung dementiert worden3, so daß eine Beunruhigung der öffentlichen Meinung nicht mehr zu befürchten ist. Ich darf anheimstellen, den Herrn Reichskanzler entsprechend zu informieren.
Der „Bayerische Kurier“ brachte in seiner vorgestrigen Ausgabe an erster Stelle einen sehr auffälligen Begrüßungsartikel für Herrn von Kahr, der ausschließlich weiß-blau gefärbt war und mit den Worten schloß: „Über der einen Kampflinie weht nur eine Fahne: die Fahne weiß und blau4!“ Ich habe die hiesige Regierung auf das Unzweckmäßige derartiger Veröffentlichungen hingewiesen und dort auch volles Verständnis gefunden. Auch habe ich veranlaßt, daß die „Münchener Neuesten Nachrichten“ eine eingehende Erwiderung[408] veröffentlichten. Den Artikel der „Münchener Neuesten Nachrichten“ füge ich hier bei5. Sicherlich entsprechen Ansichten, wie sie in dem Artikel des „Bayerischen Kurier“ zutage treten, der Auffassung eines Teiles der Anhänger des Herrn von Kahr. Andererseits hat Herr von Kahr wiederholt von seiner deutschen Gesinnung Zeugnis abgelegt u. a. noch in seiner letzten Kundgebung, worin er erklärte: „Meine Amtshandlungen werden getragen sein von heißer Liebe zur bayerischen Heimat, zum deutschen Volk und zum großen deutschen Vaterland“. Es dürfte sich empfehlen, wenn auch die Berliner Presse Herrn von Kahr nicht des Partikularismus beschuldigte, sondern die Äußerungen hervorhöbe, die seine deutsche Gesinnung bezeugen6.
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S. Anm. 6 zu Dok. Nr. 87.
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Ein entsprechender Auszug aus der „MNN“ (Nr. 264 vom 29.9.23) befindet sich in R 43 I/2233, Bl. 361. Dort wird der Artikel des „Bayerischen Kuriers“ wiedergegeben und demgegenüber betont, von Kahr habe bisher stets die Gemeinsamkeit von Bayern und Reich hervorgehoben. Der Artikel könne nicht als belanglos erachtet werden, da er in der wichtigsten Zeitung der BVP gestanden habe. Da diese letzthin mehrere merkwürdige Erklärungen aufweise, errege der Artikel „in politischen Kreisen Aufsehen und Mißtrauen“.
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Am Rand dieses Satzes ein Fragezeichen.
Über die Vorgänge am Donnerstag [27. 9.] hat General von Lossow folgendes erzählt: Ein Oberstleutnant sei aus Berlin angekommen7 und habe ihm den Befehl des Reichswehrministers überbracht, Herrn von Kahr abzusetzen. Herr von Lossow habe darauf gefragt, wie er diesen Befehl ausführen solle, ob er etwa Herrn von Kahr verhaften solle. Zu einer „Absetzung“ sei er nicht imstande.
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Möglicherweise ist Oberstleutnant v. d Bussche gemeint; s. Anhang Nr. 1.
Der Zwischenfall, der ja zum Glück durch die Intervention des Herrn Reichskanzlers erledigt wurde, läßt immerhin erkennen, daß Einflüsse tätig waren, die anscheinend unter Umgehung des Herrn Reichskanzlers und jedenfalls ohne genügende Kenntnis der hiesigen politischen Verhältnisse handelten. Es wäre dringend erwünscht, wenn solche Vorfälle vermieden werden könnten. Ich darf übrigens dazu bemerken, daß die hiesige Regierung nicht die Absicht hat, den Ausnahmezustand etwa schon nach ein paar Tagen wieder aufzuheben, wenigstens sagte mir Herr von Knilling auf meine diesbezügliche Andeutung, daß man doch damit rechnen müsse, daß der Ausnahmezustand eine gewisse Zeit aufrecht erhalten bleibe.
Die angebliche Äußerung Herrn von Kahrs, die der „Völkische Beobachter“ brachte und sein Dementi in den „Münchener Neuesten Nachrichten“ ist dort bekannt. Ich habe die Angelegenheit auf dem Ministerium des Äußern zur Sprache gebracht. Man gab mir dort zu, daß das Dementi Herrn von Kahrs nicht gerade sehr „sweeping“ sei8. Es würde aber kaum möglich sein, Herrn von Kahr zu einer neuen Erklärung zu bestimmen. Offenbar habe Herr von Kahr auch nicht ein formuliertes Dementi geben wollen, sondern nur sagen wollen,[409] seine politischen Ansichten seien ja bekannt und im übrigen habe er augenblicklich Wichtigeres zu tun, als sich mit solchen Presseäußerungen zu beschäftigen.
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In einem Telefongespräch aus München am 29.9.23 um 13 Uhr war für den RK u. a. mitgeteilt worden: „Der Völkische Beobachter teilt mit, daß Herr v. Kahr verschiedentlich erklärt habe, was er tue, tue er mit Billigung des Königs, als dessen Statthalter er sich betrachte. Das Blatt verurteilt diese Äußerungen und bezeichnet als Verbrechen am Vaterlande, im gegenwärtigen Moment die Monarchiefrage aufzuwerfen. – Durch Korrespondenz Hoffmann läßt Herr v. Kahr erklären, daß seine persönliche Stellungnahme zur Monarchie allgemein bekannt sei, daß er aber im übrigen keine Zeit habe, auf solche Presseäußerungen einzugehen“ (R 43 I/2233, Bl. 353).
Mittlerweile ist ein neuer Zwischenfall eingetreten. Der Generalstaatskommissar hat an die Polizei und Staatsanwaltschaft die Anweisung ergehen lassen, daß der Vollzug des Republikschutzgesetzes bis auf weiteres unterbleiben soll. Es handelt sich also nicht etwa um Außerkraftsetzung eines Gesetzes, wozu Herr von Kahr auch nicht befugt sein würde, ebenso bleiben die Gerichte unabhängig, sondern es stellt lediglich eine Anweisung an die Behörden dar. Wie mir der Justizminister mitteilt, ist der Hauptanlaß zu dieser Anordnung die Meldung des „Vorwärts“ gewesen, wonach der Reichsjustizminister die Staatsanwaltschaft in Leipzig angewiesen habe, wegen des bekannten Rundschreibens des Bayerischen Verkehrsbeamtenvereins ein Verfahren wegen Hochverrats einzuleiten9. Auch andere Nachrichten über geplante Verfahren gegen hiesige Persönlichkeiten seitens des Leipziger Staatsgerichtshofs haben mitgespielt10. Es habe sich dadurch eine so tiefgehende Erregung hier geltend gemacht, daß von der Vollziehung etwaiger Anordnungen des Staatsgerichtshofs eine Explosion zu fürchten gewesen sei. Wie mir vertraulich dazu bemerkt wurde, würde ein Hochverratsverfahren aus solchem Anlaß im gegenwärtigen Augenblick eine große politische Dummheit darstellen und man könne sich nicht denken, daß hierbei der Reichsjustizminister mit dem Herrn Reichskanzler in Fühlung gestanden habe. Nach Auffassung des Justizministers fällt übrigens das Rundschreiben des Vorstandes des bayerischen Verkehrsbeamtenvereins nicht unter den Begriff Hochverrat. Einen Artikel der „Bayerischen Staatszeitung“ aus dem die Einzelheiten hervorgehen, füge ich bei11.
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In diesem Rundschreiben war ausgeführt worden: „Es ist sowohl im Reiche wie auch in Bayern mit der Möglichkeit zu rechnen, daß durch einen Gewaltstreich die Staatsgewalt in andere Hände übergeht. Oberster Leitstern für unser Verhalten in einer derartigen Situation, sei der Machthaber, wer er will, muß dann sein, im Interesse des Volkes, um das Chaos nicht noch größer werden zu lassen, weiterzuarbeiten, und zwar unter Weisung und Leitung unserer Verwaltungen so lange, als diese selbst in der Lage sind, uns Befehle zu erteilen. Für den Fall, daß ähnlich wie seinerzeit beim Kapp-Putsch die Reichsregierung eine Weisung erläßt, die den Reichsbeamten verbietet, einer nicht verfassungsmäßigen Macht Dienste zu leisten, ist mit der Möglichkeit zu rechnen, daß die bayerische Staatsregierung auf Grund der Reichs- und Landesverfassung eine Notverordnung erläßt, die uns zur Dienstleistung zwingt. Dieser Notverordnung sind wir auch als Reichsbeamte wohl unter allen Umständen unterworfen“ (Bayer. Staatszeitung, Nr. 223 vom 26.9.23).
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Gemeint ist wohl das beabsichtigte Vorgehen gegen Hauptmann a. D. Heiß.
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Dieser Ausschnitt befindet sich in R 43 I/2233, Bl. 359. Kritisch heißt es in diesem Artikel: „Die Richtigkeit dieser Meldung [RJM habe Oberreichsanwalt aufgefordert, gegen Verkehrsbeamtenverein wegen Hochverrat ein Verfahren einzuleiten] vorausgesetzt, verdient die Eile, mit der hier der Reichsjustizminister die Reichsanwaltschaft zur Untersuchung und zum Einschreiten auffordert, Beachtung. Täglich werden aus dem linksradikalen Lager Vorgänge bekannt, die das Charakteristikum des Hoch- und Landesverrats selbst für einen Laien klar erkennbar an sich tragen, ohne daß man von einem Eingreifen der Strafverfolgungsbehörden etwas wahrnähme, geschweige denn von einer Aufforderung des Reichsjustizministeriums hierzu. In diesem Falle aber geschieht das auf eine bloße, von parteipolitischen Tendenzen nicht freie Veröffentlichung eines sozialdemokratischen Organs hin. Freilich, die im Bayer. Verkehrsbeamtenverein zusammengeschlossene Beamtenschaft, gehört nicht zu jenen Kreisen, die mit dem sozialdemokratischen Strome schwimmen und in Berlin den Ausgangspunkt allen Heils erblicken. Sie wird sich wohl kaum auch durch das Vorgehen des gegenwärtigen Reichsjustizministers in ihrem Verhalten beirren lassen und ruhig abwarten, ob man ihre Vorstandsmitglieder wegen des Rundschreibens wirklich als Hochverräter vor den Staatsgerichtshof zitiert.“
[410] Soeben verläßt mich Ministerialrat Niklas, der mir mitteilt, daß der Reichsernährungsminister ausführlich mit Herrn von Knilling gesprochen habe und sofort Herrn Reichskanzler berichten werde12. Dadurch erübrigt sich der Rest meines Schreibens, das ich kurz schließe, damit es noch die Post erreicht.
Mit aufrichtigsten Grüßen
Ihr
treu ergebener
E. Haniel