2.27 (str1p): Nr. 27 Sitzung des Wirtschaftsausschusses für die besetzten Gebiete. 28. August 1923

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Nr. 27
Sitzung des Wirtschaftsausschusses für die besetzten Gebiete. 28. August 1923

R 43 I /214 , Bl. 312–313

Generaldirektor der Hibernia v. Velsen: Auch im Ruhrbezirk ist die Stimmung nicht mehr so gut wie im Anfang. Zahlungsmittelknappheit und Lebensmittelnot haben Unruhen hervorgerufen1.

1

S. Dok. Nr. 3, Anm. 10; vgl. H. Spethmann, 12 Jahre Ruhrbergbau, Bd. 4, S. 189 ff.

Die Ordnung muß jedoch unter allen Umständen aufrechterhalten bleiben. Zu diesem Zweck müßte die deutsche Polizei verstärkt werden, weil die Zustände lebensgefährlich sind.

Was die Kohlenfrage anbelangt, so wird man hoffentlich auf dem Wege der Deputatkohle eine einigermaßen ausreichende Versorgung der Bevölkerung garantieren können.

[133] In der deutschen Propaganda müßte mehr geschehen2.

2

Die Presseabteilung der RReg hatte dem StSRkei am 11. 8. mitgeteilt, daß „der für Aufklärungsarbeiten erforderliche Zuschuß an das Preußische Ministerium des Innern (Herrn Oberregierungsrat Dr. Elfgen) in Höhe von 500 Millionen M“ gezahlt worden sei (R 43 I /214 , Bl. 286).

Reichswirtschaftsminister Die Frage der Versorgung des besetzten Gebiets mit Kohle ist zum Teil eine Transportfrage. Es müßte in einem kleineren Kreise geprüft werden, wie die Transportschwierigkeiten überwunden werden können3.

3

Zur Verkehrslage s. die Äußerung des RVM in Dok. Nr. 3, P. 2.

Syndikus Dr. Schlenker (Saargebiet): Ich halte es für das wichtigste, zu untersuchen, wodurch wir die Franzosen am meisten schädigen. Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß den Franzosen der größte Schaden zugefügt wird, wenn sie gar keinen Koks erhalten oder nur geringe Mengen4.

4

Bereits am 8.8.23 hatte LegR Redlhammer in einer Aufzeichnung, in der er gleichzeitig vor der Fortführung der Sabotageakte warnte, ausgeführt: „Da die Koksabfuhr auf einem toten Punkt angekommen ist, setzt jetzt die Ausbeutungspolitik in der Kohlenförderung und in der Kokserzeugung ein; die Bergarbeitermassen sollen in die Front eintreten und den Zechen- und Kokereibetrieb der französischen Regie unmöglich machen. Die Stimmung dazu ist vorhanden. Sie wird m. E. aber sichtlich nachlassen, wenn die Franzosen mit dem Schlagwort ‚Faszisten-Sabotage‘ die Massen durcheinanderbringen“. (R 43 I /214 , Bl. 263). Aus einem Schreiben der Klöckner-Werke A.G. an den RIM vom 26.8.23 geht hervor, daß die Franzosen die Kokereien selbst betrieben und darüber hinaus auch den gesamten Bergwerksbetrieb übernehmen wollten (R 43 I /214 , Bl. 309 f.) – Von der wirtschaftspolitischen Abteilung der deutschen Botschaft in Paris wurde am 1.9.23 dem AA mitgeteilt, in der Zeit vom 21.–27. 8. habe der tägliche Kokseingang in Frankreich nur bei 2952 t gegenüber 4651 t in der Zeit vom 10.–19. 8. gelegen. Der erhöhte Kokspreis habe dazu geführt, daß der Roheisenpreis von 380–400 frs. am 20.7.23 auf 410–420 frs. am 30. 8. gestiegen sei. Am 8.9.23 berichtete die wirtschaftspolit. Abteilung, der Kokseingang liege täglich bei 4615 t, doch hätten die hohen Kokspreise zu weiteren Preiserhöhungen für Roheisen von 10 frs. und bei Walzprodukten von 15–20 frs. pro Tonne ergeben, was einen Rückgang der Förderung in den Eisenerzgruben zur Folge gehabt habe. Am 22.9.23 meldete die gleiche Stelle, die frz. Staatsbahnen seien wegen der schlechten Kohlenzufuhr aus dem Ruhrgebiet in Verhandlungen mit brit. Gruben getreten, und am 6.10.23 unterrichtete sie das AA darüber, daß in Frankreich bei Beginn der kühleren Jahreszeit die Kohlebestellungen derart zugenommen hätten, daß die frz. Gruben nicht nachkämen und Sorge wegen des Mangels an Hausbrandkohle bestehe (Pol.Arch.: Wirtschaftsreparationen: Friedensvertrag allgem. 4, Besetzung des Ruhrgebiets: Sonderakte Kohle).

Auf jeden Fall müssen die deutschen Betriebe nach Möglichkeit wieder in Gang gebracht werden. Auch eine Wiederaufnahme der Schiffahrt halte ich für erforderlich. Andernfalls bricht der passive Widerstand allmählich zusammen. Er kann ruhig in vielen Punkten gelockert werden; wenn nur in der Hauptfrage, nämlich der Frage der Kokslieferung nicht nachgegeben wird.

Im übrigen brauche ich wohl nicht besonders darauf hinzuweisen, wie sehr die Bevölkerung des Saargebiets sich eins fühlt mit der Bevölkerung des Ruhrgebiets.

Reichsminister für die besetzten Gebiete Die Hauptaufgabe meines Ressorts erblicke ich darin, Richtlinien für den Abwehrkampf herauszugeben. Die Form, in welcher der passive Widerstand aufrecht erhalten werden soll, kann hier in diesem großen Kreise nicht erörtert werden. Ich schlage vor, in einer Reihe von Einzelbesprechungen im kleineren Kreise die verschiedenen Fragen, die mit der Fortsetzung des passiven Widerstandes im Zusammenhang stehen, zu erörtern.

[134] Reichskanzler Ich möchte nur kurz auf die außerordentlichen finanziellen Schwierigkeiten hinweisen, in welche uns der Ruhrkampf gebracht hat. Finanziell ist die Lage derartig, daß wir die bisherigen Ausgaben des Ruhrkampfes nicht länger tragen können5. Um die Ausgaben zu verringern, wird es unbedingt erforderlich sein, daß die Betriebe wieder produktiv arbeiten. Dieser Frage bitte ich Ihr ganz besonderes Augenmerk zuzuwenden.

5

S. Anm. 28 zu Dok. Nr. 18.

Reichsminister der Finanzen Die Angaben des Herrn Reichskanzlers über die gewaltigen Unkosten des Ruhrkampfes will ich nur kurz mit einigen Zahlen illustrieren.

Für die Zeit vom 7. bis zum 18. August sind 54 Billionen für den Ruhrkampf bewilligt worden; 180 Billionen sind in Wirklichkeit abgehoben worden. Die Hauptausgaben werden für die Lohnsicherung aufgewendet6. In dieser Woche werden sich die Ausgaben für den Ruhrkampf voraussichtlich auf 150 Billionen belaufen7.

6

S. Anm. 18 zu Dok. Nr. 10; Dok. Nr. 33, P. 1; 41.

7

S. dazu auch Dok. Nr. 33, P. 1.

Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft In der Lebensmittelversorgung des besetzten Gebiets, auch des Ruhrreviers haben zu Anfang überhaupt keine Schwierigkeiten bestanden. Die unterdessen entstandenen Schwierigkeiten kann ich als zur Zeit behoben ansehen. Es würden überhaupt keine Schwierigkeiten entstehen können, wenn genügend Devisen zum Ankauf ausländischer Lebensmittel zur Verfügung ständen. Es steht zu hoffen, daß die neue Notverordnung uns Devisen in ausreichendem Maße zuführen wird8.

8

Vgl. Anm. 22 zur Kabinettssitzung vom 23. 8., 18 h (Dok. Nr. 18).

Handelskammersyndikus Meesmann (Mainz): Was die Bevölkerung am meisten bedrückt, sind die zahlreichen Ausweisungen. Diese greifen tief in das Leben des Einzelnen ein9. In dem Kölner Bezirk erfolgen keine Ausweisungen. Es wäre zu überlegen, ob man nicht bei den anderen Feindmächten (außer Frankreich), besonders bei England, dahin vorstellig werden könnte, daß diese auf Frankreich einen Druck in der Richtung ausüben, daß es von weiteren Ausweisungen Abstand nimmt.

9

Insgesamt kam es zur Ausweisung von 140 000 Einwohnern des besetzten Gebiets, s. die Rede des MdR Korell am 20.2.1924 (RT-Bd. 362, S. 12401 ). – Hierzu war schon am 25.8.23 in einer Aufzeichnung im AA festgestellt worden, es bestehe keine Aussicht die englische Passivität zu überwinden. Durch die Vorlage von Material solle an die engl. Regierung der Ernst der Lage herangetragen werden (Pol.Arch.: Handakten v. Schubert, E (Schriftverkehr) Bd. 9).

Die Versammlung ist sich darüber einig, daß Schritte in dieser Richtung wenig Erfolg versprechen.

Der Reichsminister für die besetzten Gebiete weist zum Schluß nochmals darauf hin, daß einzelne Fragen des passiven Widerstandes, z. B. die Frage der produktiven Gestaltung der Betriebe und die Frage der Lohnsicherung in kleinerem Kreise erörtert werden10.

10

In einem der Zensur wegen allgemein gehaltenen Schreiben an Paul Silverberg, der infolge eines Kuraufenthaltes an der Besprechung nicht teilnehmen konnte, berichtete Dr. Wiedemann von der Kölner Handelskammer über die „Vorstandssitzung des Wirtschaftsausschusses“ in Berlin, „daß trotz der wachsenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten der Wille zum Durchhalten und zur Fortsetzung des passiven Widerstandes ein einmütiger war, daß wir aber nach Mitteln gesucht haben, die Wiederaufnahme der Betriebe durch gewisse Erleichterungen der Verbotsvorschriften zu ermöglichen. So ist eine gewisse Wiederaufnahme der Rheinschiffahrt und eine Ausdehnung der Zulässigkeit von Lokogeschäften [kurzfristige Warengeschäfte an der Effektenbörse] neben einigen andern Dingen in Aussicht genommen“ (BA: NL Silverberg  116, f. 166). In diesem Zusammenhang ist wohl auch der Entwurf einer Novelle zur VO auf Grund des Notgesetzes zum Schutz der Finanzen und der Währung zu sehen, der zufolge der RMbesGeb. nach Lage des besetzten Gebietes Ausnahmen von den VOVO vom 16. u. 29.3.23 zulassen konnte. In der Begründung wurde ausgeführt: „Besprechungen mit den Vertretern des besetzten Gebiets, die am 28. August unter dem Vorsitz des Herrn Reichskanzlers stattgefunden haben, haben ergeben, daß von allen Teilen der Bevölkerung des besetzten Gebietes, die unbedingte Aufrechterhaltung des passiven Widerstandes gefordert wird. Ebenso einmütig wurde aber anerkannt, daß die lange Dauer des Kampfes eine so ernste Schwächung des Wirtschaftslebens des besetzten Gebietes zur Folge hat, daß für die weitere Fortsetzung des Kampfes an den bisherigen Formen nicht mehr unverändert festgehalten werden kann. Es wurde demgemäß als notwendig bezeichnet, auf einzelnen Gebieten gewisse Erleichterungen zu gewähren. Zu diesem Zweck soll der Reichsminister für die besetzten Gebiete ermächtigt werden, von den zur Zeit in Kraft befindlichen Kampfverordnungen der Reichsregierung Ausnahmen zuzulassen.“ Es ist nicht ersichtlich, aber anzunehmen, daß dieser Entwurf von RMbesGeb. ausging, der sich im übrigen vorbehielt, eine „nähere Begründung“ in einer Kabinettssitzung zu geben (BA: NL Saemisch 158, Bl. 43/45). Eine Behandlung dieses VO-Entwurfs wurde nicht ermittelt.

Die Sitzung wurde sodann geschlossen.

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