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[25] Nr. 11
Aufruf des Preußischen Innenministers und Reichskommissars Severing an die Bevölkerung des rheinisch-westfälischen Industriegebiets. 5. April 19201
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Der Aufruf wurde der Rkei am 5. 4. telefonisch aus Münster mitgeteilt. MinR Brecht vermerkte dazu: „Herr Minister Severing sagte zum Schluß noch, durch die Veröffentlichung des Aufrufes könnte wohl allen herumschwirrenden Gerüchten und den widersprechenden und falschen Zeitungsnotizen die Spitze abgebrochen werden.“ Nach einer Notiz RegR Kempners wurde der Aufruf der Presseabteilung des AA übergeben (R 43 I/2715, Bl. 258). Eine Veröffentlichung, z. B. im „Vorwärts“, wurde nicht ermittelt; allerdings stand der folgende Tag unter dem Eindruck der frz. Intervention im Maingau. – Der Text des Aufrufs in dem in den Akten der Rkei überlieferten Exemplar ist teilweise zerstört und mußte ergänzt werden.
[Betrifft: Begründung des Einmarsches von Reichswehrtruppen in das Ruhrgebiet.]
In einem großen Teil der Presse werden verschiedene Darstellungen über die Art und die Durchführung des Bielefelder Abkommens und der Münsterschen Besprechungen gegeben2, die eine gröbliche Irreführung der Öffentlichkeit bedeuten. Gemeinsam ist ihnen die bodenlose Unwahrhaftigkeit, obgleich sie nicht den gleichen Motiven entspringen. Die einen versuchen, die Regierung auf alle Abmachungen vorbehaltlos festzulegen, um sie des Wortbruchs bezichtigen zu können, wenn jetzt die Truppe zu [dem einz]igen Zweck einrückt, die öffentliche Ruhe und Sicherheit wie[der h]erzustellen, oder wenn der Ausnahmezustand länger bestehen ble[ibt], als in dem Abkommen vorgesehen war. Die anderen sollen beweisen, daß die Regierung sich in schwächlicher Nachgiebigkeit vor das Joch der Linksradikalen begeben habe und in schlotternder Angst vor allerlei Drohungen darauf verzichte, mit Waffengewalt gegen die Aufrührer von links, gegen Plünderer und Erpresser einzuschreiten3. Beides ist falsch.
[26] Die Regierung hat alle friedlichen Versuche zur Beseitigung des Aufruhrzustandes unternommen, um Blutvergießen in einem Bürgerkriege zu vermeiden. Sie hat insbesondere ihre Bereitwilligkeit zu Reformen im Heer und Sicherheitswesen und zu einer weitreichenden Amnestie erklärt. Sie war bereit, von einem Einmarschieren der Truppe in das rheinisch-westfälische Industriegebiet Abstand zu nehmen. Voraussetzung war aber, daß
1. | die verfassungsmäßigen Behörden wieder in ihre Ämter eingesetzt wurden, |
2. | Waffen und Munition sofort an die Gemeindebehörden abgegeben wurden, |
3. | die Gefangenen sofort freigelassen wurden. |
Von einer Durchführung dieser Bedingungen, die bis zum 25. März verlangt und in Aussicht gestellt wurden, war aber selbst am Abend des 2. April noch keine Rede. Die Behörden der Regierungsbezirke Arnsberg, Düsseldorf und Münster berichteten übereinstimmend, daß eine Entspannung im allgemeinen nicht eingetreten und die Waffenabgabe vollkommen ungenügend durchgeführt sei4. Dagegen wurde ebenso übereinstimmend berichtet, daß in den meisten gefährdeten Orten die Aktionsausschüsse oder Vollzugsräte gar keinen Einfluß mehr auf die bewaffneten Arbeiter hätten und daß diese bewaffneten Arbeiterhaufen von Ort zu Ort zögen, um zu plündern und zu erpressen. Jetzt konnte die Regierung den Befehl zum Einmarsch in die bedrohten Gebiete nicht mehr zurückhalten. Jetzt marschiert die Truppe, aber – wie ausdrücklich festgestellt werden soll – nicht auf Grund militärischer Eigenmächtigkeiten oder gar veranlaßt durch einzelne Offiziere, sondern auf Anweisung der Reichsregierung. Im ausdrücklichen Einverständnis mit den Zivilstellen hat der militärische Befehlshaber die entsprechenden Anordnungen getroffen, die lediglich von dem Gesichtspunkt der Wiederherstellung der Ruhe und Ordnung geleitet werden.
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S. hierzu C. Severing, a.a.O., S. 200 f.
Wenn behauptet wird, daß die Regierung mit dem Einmarsch die Vereinbarungen durchbrochen habe, so ist das eine glatte Unwahrheit. Vom 31. März bis 3. April haben die Truppen auf der ganzen Linie jede Vorwärtsbewegung eingestellt. Wo sie an einzelnen Stellen, wie bei Pelkum, Recklinghausen und Dinslaken kämpfend vorgestoßen sind, da haben Angriffe der bewaffneten Arbeitermassen ihnen Anlaß dazu gegeben. Jetzt kann nur noch ein entschiedenes Zugreifen der Truppe helfen. Sie kommt nicht als Feindin der Volksrechte, sondern als Schützerin der Verfassung und Regierungsgewalt. Von der Reichsregierung hat sie folgende Anweisung erhalten:
„Falls ein Eingreifen der Reichswehr im Ruhrgebiet erforderlich wird, erwartet die Reichsregierung, daß sich alle Truppen als Organe der Staatsgewalt fühlen, welche gegen ihre eigenen Volksgenossen die bedrohte Staatsautorität wieder herzustellen haben. Es gilt, dem Volk zu zeigen, daß die Reichswehr treu hinter der Verfassung steht und daß sie das Vertrauen des ganzen Volkes verdient. Dazu gehört vor allem Wahrung schärfster Manneszucht, Vermeidung aller unnötigen Härten und jeglicher Übergriffe und Provokationen.[27] Nur eine Truppe, die bei aller Bestimmtheit doch sachlich, ruhig und bescheiden auftritt und sich streng an die Gesetze hält, ist befähigt, behilflich zu sein, irregeleitete deutsche Volksmitglieder wieder auf den Weg der Ordnung und Verfassung zurückzuführen. Nur sie wird sich selbst Vertrauen erwerben und der Staatsgewalt Achtung und Vertrauen verschaffen können.
Der Reichswehrminister
gez. Dr. Geßler.
Der Chef der Heeresleitung
gez. von Seeckt.“
Dieselben Weisungen hat die Truppe vom Militärbefehlshaber des Wehrkreiskommandos, Generalleutnant von Watter, erhalten. So wird keine Truppe instruiert, die als Feindin der Verfassung eingesetzt werden soll.
Was in dem Bielefelder Abkommen an notwendigen Reformen bezeichnet worden ist, wird trotz des schweren Vertragsbruchs der bewaffneten Arbeitermassen, der insbesondere in der Beschießung von Wesel zum Ausdruck kam, von der Regierung durchgeführt werden. Wenn die Durchführung jetzt aber eine weitere Verzögerung erfährt, dann ist einzig und allein der Teil der bewaffneten Arbeiter dafür verantwortlich, der aller Ermahnungen der Regierung und der Führer zum Trotz vernünftigen Erwägungen nicht mehr zugänglich war. Jetzt gilt es, erst Ordnung zu schaffen, Leben, Gesundheit und Eigentum friedlicher Bürger zu schützen.
Mitbürger! Die Truppe kommt zu Euerem Schutz. Sie hat daher Anspruch auch auf Euere Hilfe. Räumt ihr alle Schwierigkeiten aus dem Wege, erleichtert mir die schwere Aufgabe, im eigenen Lande unter irregeleiteten Volksgenossen die Ruhe wieder herzustellen. Dann wird es nur eine Frage von wenigen Tagen sein, daß wir alle friedlich unserer gewohnten Beschäftigung wieder nachgehen können.
Münster, den 5. April 1920.
Se[vering] [M]in[ister des Innern]
Reichs[- und Staatskommissar]