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[115] Nr. 46
Der Reichswehrminister an den Reichskanzler. 16. April 1920
[Betrifft: Verfahren gegen Kriegsverbrecher1.]
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Das Auslieferungsbegehren der Alliierten, nach dem gemäß Art. 228–230 VV Deutsche, die sich Kriegsverbrechen schuldig gemacht hatten, vor alliierte Gerichte gestellt werden sollten, hatte bereits im Jahr 1919 erhebliche Unruhe bei Militär und Zivilbevölkerung in Deutschland ausgelöst und die RReg. zu Beratungen veranlaßt, in welcher Weise den Beschuldigten finanzielle Unterstützung für ihre Prozeßführung zugestanden werden könne. Darüber hinaus hatte das RKab. ein eigenes Gesetz zur Verfolgung von Kriegsverbrechen vorgelegt und das RG als Instanz zur Durchführung entsprechender Verfahren bestimmt. Wie der RAM Müller dem RK Bauer schon am 20.1.20 mitgeteilt hatte, waren die Beamten des AA nicht bereit, bei Auslieferungsverfahren mitzuwirken, und vom Vorsitzenden der deutschen Friedensdelegation, Frh. von Lersner, war am 3.2.20 die Annahme der alliierten Auslieferungsliste mit 895 Namen verweigert worden. Gleichzeitig hatte Lersner die RReg. um seine Entlassung gebeten. Noch am 25.1.20 war von der dt. Regierung den alliierten Mächten mitgeteilt worden, daß die RReg. durch ein Auslieferungsbegehren in außergewöhnliche Schwierigkeiten geraten werde, sie habe aber andererseits dafür Sorge getragen, daß Verfahren wegen Kriegsverbrechen vor dem RG durchgeführt werden könnten. Namens der alliierten Regierungen hatte dann Lloyd George der RReg. am 13.2.20 erklärt, von dem Schreiben sei Kenntnis genommen worden. Die alliierten Regierungen würden von dem Auslieferungsverfahren zunächst absehen und die Durchführung von Probeprozessen abwarten (Material in R 43 I/340, Bl. 138 f., 262 f., 264 f.; s. a. Schultheß 1920 II, S. 313 ff. u. ö.).
Die Auslieferungsliste der Entente enthält Namen aus allen Schichten und Berufsklassen des deutschen Volkes. Neben dem Arbeiter erscheinen der Ingenieur, der Fabrik- und Bergwerkdirektor, der Großindustrielle, der Professor, der Richter, der Doktor, der Polizeibeamte, der Verwaltungsbeamte, neben dem Musketier und dem Matrosen die höchsten Führer des Landheeres und der Marine2.
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Die Auslieferungsliste vom Februar 1920, auf die sich wahrscheinlich dieser Absatz bezieht, war dem RK Bauer am 7. 2. vom frz. Geschäftsträger in Berlin übergeben worden. Die Namen waren schon vorher bekannt durch ein Geheimtelegramm, das am 3./4. 2. aus Paris nach Berlin gelangt war (R 43 I/341, gefunden in R 43 I/340, Bl. 151-161).
Die demnächst in Leipzig beginnenden Verhandlungen gehen also alle Kreise der Nation an, sie sind von nationaler Bedeutung und daher auch für die Staatsregierung von allergrößtem Interesse.
Wir wissen aus zahlreichen Veröffentlichungen in der Presse und aus bereits abgeschlossenen Untersuchungen, mit welcher Leichtfertigkeit unsere Gegner ihre Liste aufgestellt haben. Neben wirklich Schuldigen enthält sie Namen zahlreicher Persönlichkeiten, die nur in den Augen unserer haßerfüllten Gegner ein Verschulden trifft. Es werden Männer genannt, denen nichts anderes vorzuwerfen ist, als daß sie alle Mittel anwandten, um den Krieg zu Land und zu Wasser für uns zu einem guten Ende zu führen, oder solche, welche die durch die politische oder taktische Lage bedingten Befehle oder Verwaltungsmaßnahmen ihrer vorgesetzten Dienststelle ausführten und gegen die unter anderen Verhältnissen niemand ein gerichtliches Verfahren anstrengen[116] würde. Nur unter dem Zwange des Gewaltfriedens muß gegen sie verhandelt werden.
In gleicher Weise wie es der Staatsregierung daran liegen muß, die wirklich Schuldigen der verdienten Strafe zuzuführen, hat sie aber andererseits auch die Verpflichtung, darüber zu wachen, daß denjenigen Persönlichkeiten, die nach deutschem Gesetz und Recht kein Verschulden trifft, die schon dadurch, daß ihr Name auf der Liste der Kriegsverbrecher steht, schwer genug in ihrer Ehre geschädigt werden, nicht noch weiterer materieller Schaden in Verbindung mit dem ihnen bevorstehenden Verfahren vor dem Reichsgericht erwächst.
Die Besorgnis hiervor bewegt weite Kreise der durch die Liste Beschuldigten, das beweisen tägliche mündliche und schriftliche Anfragen, die an das Reichswehrministerium ergehen, das beweist der Umstand, daß auch die Presse sich schon mit der Frage beschäftigt hat, wie die einzelnen Persönlichkeiten die Kosten aufbringen sollen, die ihnen aus der Vorbereitung ihrer Verteidigung, aus Reisen nach Leipzig und dem dortigen Aufenthalt notwendigerweise erwachsen müssen.
Die Beantwortung dieser Fragen ist dringlich, um auf die interessierten Kreise und die Presse beruhigend wirken zu können. Es bedarf hierzu einer Entschließung des Kabinetts.
Der § 4 der von der Nationalversammlung beschlossenen Ergänzung zu dem Gesetz über die Verfolgung von Kriegsverbrechen und Kriegsvergehen vom 18.12.1919 sieht zwar vor, daß die Kosten und Auslagen des Verfahrens, soweit Billigkeitsgründe es rechtfertigen, ganz oder teilweise der Reichskasse auferlegt werden können3. Die hierdurch den Beschuldigten in Aussicht gestellte Wiedererstattung der Auslagen ist aber einmal von dem Ermessen des Gerichts abhängig, also ungewiß, und erfolgt zudem frühestens durch den das ganze Verfahren abschließenden Spruch des Senats. Es bleibt also die Tatsache bestehen, daß alle entstehenden Kosten zunächst von den Beschuldigten selbst verauslagt werden müssen. Diese Kosten werden in heutiger Zeit unter Umständen recht erheblich sein. Ein großer Teil der beteiligten Persönlichkeiten ist aber vermögenslos und daher tatsächlich nicht imstande sie aufzubringen, ein anderer Teil ist bei der heutigen Lage des Geldmarktes nur unter Inkaufnahme erheblicher Verluste dazu befähigt.
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Das Ergänzungsgesetz war der NatVers. am 26.2.20 vom RJM Schiffer vorgelegt (NatVers. Drucks. Nr. 2161, Bd. 341), am 5.3.20 von ihr beschlossen (NatVers. Bd. 332, S. 4694 ff.) und am 24.3.20 vom RPräs. ausgefertigt worden (RGBl. S. 341 ff.).
Wenn man nun auch annehmen kann, daß es bei vielen Personen gar nicht zu einer Verhandlung vor dem Strafsenat in Leipzig kommen wird, daß sich vielmehr ihre Unschuld schon im Laufe des Ermittelungsverfahrens herausstellen und der Oberreichsanwalt die Einstellung des Verfahren gegen sie beim Senat beantragen wird, so können sich doch auch diese Männer nicht von vornherein hierauf verlassen, auch sie werden in gleicher Weise wie die Schuldigen sich ihr Entlastungsmaterial beschaffen und ihre Verteidigung – eventuell[117] in Verbindung mit einem Rechtsbeistand – sachgemäß vorbereiten müssen. Kosten erwachsen also auch ihnen.
Nun hat sich zwar der deutsche Anwaltsverein zur Verteidigung der Interessen der Angeschuldigten vor dem Reichsgericht in dankenswerter Weise zur Verfügung gestellt, aber auch er kann die durch die Vorbereitung der Verteidigung entstehenden Ausgaben aus seinen eigenen Mitteln naturgemäß nicht bestreiten.
Bei dieser Sachlage, bei der nationalen Bedeutung der ganzen Angelegenheit und in der Erwägung, daß einer großen Anzahl von Personen nur in Ausführung des uns aufgezwungenen Gewaltfriedens der Prozeß gemacht wird, ist es Pflicht der Regierung, helfend einzugreifen, dafür zu sorgen, daß nicht Schuldlose neben der Schande, daß sie als Verbrecher durch die Auslieferungsliste gebrandmarkt werden, noch weiteren materiellen Schaden erleiden. Das ist nur möglich durch Bereitstellung von Mitteln, aus denen die vor ergangenem Urteil entstehenden Kosten nach noch zu bestimmenden Sätzen, welche den unnötigen Aufwand unverhältnismäßig hoher Kosten ausschließen, zunächst vorschußweise verauslagt werden. Sie können von den schuldig Befundenen später durch Gerichtsbeschluß wieder eingezogen werden.
Fiskalische Bedenken gegen die Bereitstellung der Gelder bestehen nach Mitteilung des Reichsfinanzministeriums nicht.
Um der möglichen absichtlich falschen Auslegung einer solchen Maßnahme der Regierung durch die Entente vorzubeugen, was seitens des Auswärtigen Amtes und des Reichsjustizministeriums befürchtet wurde, dürfte es sich empfehlen, den gesetzlichen Weg zur Verfügbarmachung genannter Mittel nicht zu beschreiten, sie vielmehr aus Verfügungsfonds der Regierung unter der Hand bereitzustellen und sie zur Verwaltung einer möglichst nichtstaatlichen, unpolitischen über das Reich weit verbreiteten Organisation, vielleicht dem deutschen Anwaltsverein, anzugliedern.
Schätzungsweise dürften 1 Million Mark vorerst ausreichen.
Bei der Dringlichkeit bitte ich die Angelegenheit auf die Tagesordnung einer der nächsten Kabinettssitzungen zu setzen4.
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Der RFM, der am 10.5.20 in einem Schreiben an den UStSRkei darauf hinwies, daß er die Bereitstellung von Reichsmitteln nicht abgelehnt habe, sprach sich auch für eine Beschlußfassung des Kabinetts aus, da es sich „um eine Angelegenheit von weittragender politischer Bedeutung“ handele (R 43 I/341, Bl. 3). Zum Fortgang Dok. Nr. 97, P. 12.
Der Reichswehrminister
Dr. Geßler